BT-Drucksache 18/2068

Sprengstoffanschläge des "Nationalsozialistischen Untergrunds" und der Tatmittelmeldedienst des Bundeskriminalamtes

Vom 4. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2068
18. Wahlperiode 04.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Martina Renner, Petra Pau, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Harald
Petzold (Havelland), Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Sprengstoffanschläge des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und der
Tatmittelmeldedienst des Bundeskriminalamtes

Am 19. Januar 2001 verübte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU)
einen Sprengstoffanschlag in einem Lebensmittelgeschäft einer Familie irani-
scher Herkunft in der Probsteigasse in Köln. Der Sprengsatz war in einer Christ-
stollendose versteckt, die der Täter einige Wochen zuvor in dem Geschäft der
Familie hinterlassen hatte. Als die damals 19-jährige Tochter der Familie die
Keksdose aus Neugier öffnete, zündete der Sprengsatz und verletzte die junge
Frau lebensgefährlich. Unmittelbar nach dem Anschlag ermittelte die Polizei
vor allem im Umfeld der Familie des Opfers nach mutmaßlichen Tätern. Nach
der Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 wurde anhand des so
genannten Bekennervideos deutlich, dass sich der NSU auch zum Sprengstoff-
anschlag in der Probsteigasse im Januar 2001 bekennt. In der Vernehmung des
damals zuständigen Ermittlers beim Polizeipräsidium Köln, Edgar Mittler, in
der 22. Sitzung des 2. Untersuchungsausschusses zum NSU wurde bekannt,
dass die Asservate – u. a. der Sprengstoff – mittlerweile nach der Tat vernichtet
wurden (vgl. S. 669, Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses,
Bundestagsdrucksache 17/14600). Auch nach einem weiteren Sprengstoffan-
schlag, der laut Aussagen des Angeklagten C. S. im Prozess am Oberlandes-
gericht (OLG) München am 12. Juni 2013 dem NSU zugerechnet werden muss,
sind die Asservate unbrauchbar. Laut Aussagen von C. S. sollen sich Uwe
Mundlos und Uwe Böhnhardt ihm gegenüber damit gebrüstet haben, dass sie ei-
nen Sprengsatz in einer Taschenlampe versteckt und dann in einem türkischen
Laden in Nürnberg deponiert haben. Die „NÜRNBERGER Nachrichten“ hatten
im Juni 1999 berichtet, im Lokal eines türkischen Betreibers sei eine Rohrbombe
explodiert, die wie eine Taschenlampe ausgesehen habe. Ein 18 Jahre alter Ange-
stellter hatte am 23. Juni 1999 in einer türkischen Gaststätte in der Scheuerlstraße
in Nürnberg die vermeintliche Taschenlampe beim Toilettenputzen gesehen und
anknipsen wollen, dabei explodierte diese. Der Mann erlitt Verbrennungen und
Verletzungen im Gesicht und an den Händen (vgl. u. a. „Mysteriöser Taschenlam-
pen-Anschlag von 1999“, Bayerischer Rundfunk vom 12. Juni 2013, www.br.de/
nachrichten/nsu-prozess/130612-tagebuch-gerichtsreporter-100.html). Mittler-
weile hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof die Ermittlungen
übernommen (vgl. „Neue Ermittlungen gegen Beate Zschäpe“, Süddeutsche
Zeitung vom 18. Juni 2013, www.sueddeutsche.de/politik/nsu-prozess-neue-
ermittlungen-gegen-zschaepe-1.1699057).
Sowohl der Sprengsatz in der Probsteigasse als auch der in der türkischen Gast-
stätte in Nürnberg erinnern an zwei Sprengsätze, die im Frühjahr 1993 in Köln
in Stadtteilen mit einem sichtbaren Anteil von Bewohnern und Bewohnerinnen
migrantischer Herkunft in Haushaltsgegenständen auf der Straße abgelegt wur-
den: Am 12. Februar 1993 wurde ein 62-Jähriger schwer verletzt, der zuvor

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einen Winkelschleifer in Köln-Bilderstöckchen auf der Straße gefunden und
nach Hause mitgenommen hatte. Als der Mann das Werkzeug zu Hause an die
Steckdose anschloss und ausprobieren wollte, explodierte das Gerät. Am
13. März 1993 wurde ein 42-jähriger Mann türkischer Herkunft bei der Explo-
sion eines Autohandstaubsaugers verletzt, den der Mann kurz zuvor in einem
Karton auf der Straße im Kölner Stadtteil Weidenpesch gefunden hatte. Auch
hier explodierte das Gerät, als es mit einer Stromquelle in Verbindung kam (vgl.
„Keine heiße Spur, nur eine gute“, Kölnische Rundschau vom 12. Juni 2004).
Es ist davon auszugehen, dass die für die Ermittlungen zuständigen Polizei-
dienststellen bzw. die jeweiligen Landeskriminalämter Nordrhein-Westfalen
und Bayern den beim Bundeskriminalamt (BKA) für die zentrale Erfassung von
Sprengsätzen und -mitteln zuständigen Tatmittelmeldedienst über die Spreng-
sätze in der Kölner Probsteigasse, in der Nürnberger Gaststätte und in Köln-
Bilderstöckchen bzw. Köln-Weidenpesch und deren Bauweise bzw. Machart
informiert haben und es den Ermittlern in den jeweiligen Fällen daher unter Um-
ständen möglich gewesen wäre, einen möglichen Zusammenhang zwischen den
Anschlägen abzufragen. Beim Tatmittelmeldedienst handelt es sich um eine
Zentraldatei des BKA. In dieser Datei werden die durch die sachbearbeitenden
Dienststellen der Länder an das BKA übermittelten Meldungen zu Ereignissen
mit unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) gespeichert
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/14600, S. 666 f.). Zur Frage der Recherchemög-
lichkeiten im Tatmittelmeldedienst hatte der Zeuge E. Setzer vor dem 2. Unter-
suchungsausschuss u. a. gesagt: „Sie können mit jedem Feld recherchieren im
Tatmittelmeldedienst, wobei wir automatisch – Wenn wir also eine Meldung be-
kommen vom Land, wird das erfasst im Tatmittelmeldedienst und von uns direkt
ohne weitere Aufforderung anhand der mitgeteilten Tatmittel eine Auswertung
gefahren. Diese Auswertung geben wir auch – und das ist in den Richtlinien der
Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskriminalamt und den Ländern in Fällen
der terroristischen Gewaltkriminalität so festgeschrieben –, diese Ermittlungser-
gebnisse und -erkenntnisse – wie ja auch in den Fällen 2001, 2004, aber auch
Wehrmachtsausstellung geschehen –, die geben wir dann an die ermittlungsfüh-
rende Dienststelle“ (vgl. Bundestagsdrucksache 17/14600, S. 668).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Mit welchen Schlagworten und Beschreibungen und unter welchen Stichwor-

ten sind die Sprengsätze vom 12. Februar 1993 in Köln-Bilderstöckchen und
13. März 1993 in Köln-Weidenpesch im Tatmittelmeldedienst des BKA er-
fasst?

2. Welche vergleichbaren Anschläge/Ereignisse hat die Auswertung des Tat-
mittelmeldedienstes des BKA in der Zusammenstellung der Ermittlungs-
ergebnisse und -erkenntnisse als Treffer an die ermittlungsführende Dienst-
stelle übersandt im Fall der Sprengsätze vom 12. Februar 1993 in Köln-Bil-
derstöckchen und im Fall vom 13. März 1993 in Köln-Weidenpesch?

3. Wie viele Sprengsätze in Haushaltsgegenständen wie Christstollendosen,
Taschenlampen, Winkelschneidern und Autostaubsaugern und Ähnlichem
sind seit dem Jahr 1993 bis zum 4. November 2011 im Tatmittelmeldedienst
erfasst worden?

4. Mit welchen Schlagworten und Beschreibungen und unter welchen Stich-
worten ist der Taschenlampenanschlag vom 23. Juni 1999 in Nürnberg im
Tatmittelmeldedienst des BKA erfasst?

5. Welche vergleichbaren Anschläge/Ereignisse hat die Auswertung des Tatmit-
telmeldedienstes des BKA in der Zusammenstellung der Ermittlungs-
ergebnisse und -erkenntnisse als Treffer an die ermittlungsführende Dienst-
stelle übersandt im Fall des Sprengsatzes vom 23. Juni 1999 in der türkischen
Gaststätte in Nürnberg?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2068
6. Mit welchen Schlagworten und Beschreibungen und unter welchen Stich-
worten ist der Anschlag im Lebensmittelgeschäft der Familie iranischer
Herkunft am 19. Januar 2001 in der Probsteigasse in Köln im Tatmittel-
meldedienst des BKA erfasst?

7. Hat die BAO Trio (BAO: Besondere Aufbauorganisation) bzw. deren Nach-
folgeeinheit im BKA beim Tatmittelmeldedienst des BKA nach dem
4. November 2011 eine Abfrage nach Sprengsätzen in Haushaltsgeräten
bzw. Geräten des täglichen Gebrauchs veranlasst (wenn ja, bitte unter An-
gabe des Datums der Abfrage beantworten)?

8. Falls die Frage 5 bejaht wird, welche Sprengsätze an welchen Tatorten zu
welchen Tatdaten sind bei dieser Abfrage genannt worden?

9. Falls die Frage 5 bejaht wird, in wie vielen weiteren Fällen von versuchten
oder vollendeten Sprengstoffdelikten jenseits der nunmehr drei bekannten
Bombenanschläge des NSU wird derzeit nach Kenntnis der Bundesregie-
rung entweder durch das BKA oder nach Kenntnis der Bundesregierung
durch Landeskriminalämter ermittelt wegen eines möglichen NSU-Zusam-
menhangs (bitte unter Nennung der Tatorte, Bundesländer, Tatdaten be-
antworten)?

10. Hat die Bundesregierung Kenntnis von einer dienstlichen Erklärung der
ehemaligen Leiterin der Abteilung V (Verfassungsschutz) im Innenministe-
rium Nordrhein-Westfalens, Mathilde Koller, und/oder eines Mitarbeiters
bzw. einer Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalens im
Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Anschlag in der Probsteigasse
nach dem 4. November 2011 gegenüber dem Generalbundesanwalt und der
Nennung eines Neonazis namens J. H. im Zusammenhang mit einem Phan-
tombild eines mutmaßlichen Tatverdächtigen (vgl. u. a. „Wer brachte die
Bombe in den Lebensmittelladen“, ZEIT ONLINE vom 26. Juni 2014, http://
blog.zeit.de/nsu-prozess-blog/2014/06/26/wer-brachte-die-bombe-in-den-
lebensmittelladen/)?

11. Für den Fall, dass Frage 10 bejaht wird, hat die Bundesregierung Kenntnis
darüber, ob und wann die dienstliche Erklärung der ehemaligen Leiterin der
Abteilung V (Verfassungsschutz) im Innenministerium Nordrhein-Westfa-
lens, Mathilde Koller, und/oder eines Mitarbeiters bzw. einer Mitarbeiterin
des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalens im Zusammenhang mit den
Ermittlungen zum Anschlag in der Probsteigasse nach dem 4. November
2011 gegenüber dem Generalbundesanwalt und der Nennung eines Neona-
zis namens J. H. im Zusammenhang mit einem Phantombild eines mutmaß-
lichen Tatverdächtigen (vgl. u. a. „Wer brachte die Bombe in den Lebens-
mittelladen“, ZEIT ONLINE vom 26. Juni 2014, http://blog.zeit.de/nsu-
prozess-blog/2014/06/26/wer-brachte-die-bombe-in-den-lebensmittelladen/)
dem 2. Untersuchungsausschuss zum NSU zur Kenntnis gegeben wurde?

12. Für den Fall, dass Frage 11 verneint wird, hat die Bundesregierung Kenntnis
vom Inhalt der dienstlichen Erklärung der ehemaligen Leiterin der Ab-
teilung V (Verfassungsschutz) im Innenministerium Nordrhein-Westfalens,
Mathilde Koller, und/oder eines Mitarbeiters bzw. einer Mitarbeiterin des
Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalens im Zusammenhang mit den Er-
mittlungen zum Anschlag in der Probsteigasse nach dem 4. November 2011
gegenüber dem Generalbundesanwalt und der Nennung eines Neonazis
namens J. H. im Zusammenhang mit einem Phantombild eines mutmaß-
lichen Tatverdächtigen (vgl. u. a. „Wer brachte die Bombe in den Lebens-
mittelladen“, ZEIT ONLINE vom 26. Juni 2014, http://blog.zeit.de/nsu-
prozess-blog/2014/06/26/wer-brachte-die-bombe-in-den-lebensmittelladen/),
und kann sie diesen den Fragestellern vortragen?

Drucksache 18/2068 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
13. Für den Fall, dass Frage 11 verneint wird, kann die Bundesregierung hier
die Gründe dafür vortragen, warum die dienstliche Erklärung der ehemali-
gen Leiterin der Abteilung V (Verfassungsschutz) im Innenministerium
Nordrhein-Westfalens, Mathilde Koller, und/oder eines Mitarbeiters bzw.
einer Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalens im Zu-
sammenhang mit den Ermittlungen zum Anschlag in der Probsteigasse nach
dem 4. November 2011 gegenüber dem Generalbundesanwalt und der Nen-
nung eines Neonazis namens J. H. im Zusammenhang mit einem Phantom-
bild eines mutmaßlichen Tatverdächtigen (vgl. u. a. „Wer brachte die Bombe
in den Lebensmittelladen“, ZEIT ONLINE vom 26. Juni 2014, http://
blog.zeit.de/nsu-prozess-blog/2014/06/26/wer-brachte-die-bombe-in-den-
lebensmittelladen/) dem 2. Untersuchungsausschuss zum NSU nicht zur
Kenntnis gegeben wurde?

14. Mit welchen Schlagworten und Beschreibungen und unter welchen Stich-
worten ist das Sprengstoffdelikt, für das vorgenannter J. H. aus Köln im Jahr
1986 verurteilt wurde, im Tatmittelmeldedienst des BKA erfasst?

15. Mit welchen Schlagworten und Beschreibungen und unter welchen Stich-
worten sind etwaige weitere Sprengstoffdelikte des vorgenannten J. H. aus
Köln im Tatmittelmeldedienst des BKA erfasst?

Berlin, den 4. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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