BT-Drucksache 18/13430

Ausschluss von EU-Bürgerinnen und -Bürgern aus der Gesundheitsversorgung in Deutschland

Vom 25. August 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13430
18. Wahlperiode 25.08.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Harald Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau), Inge Höger,
Jan Korte, Niema Movassat, Azize Tank, Kathrin Vogler, Birgit Wöllert,
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Ausschluss von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern aus der Gesundheitsversorgung
in Deutschland

Durch das „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch [(SGB XII)]“
vom 22. Dezember 2016 wurde die gesundheitliche Versorgung für viele EU-
Bürgerinnen und EU-Bürger stark eingeschränkt. Betroffen sind EU-Bürgerinnen
und EU-Bürger, die unter eine der ausschließenden Beschreibungen nach § 23
Absatz 3 Nummer 1 bis 4 SGB XII fallen. Seitdem erhalten diese Betroffenen im
Rahmen sogenannter Überbrückungsleistungen nur noch einen Monat innerhalb
einer Rahmenfrist von zwei Jahren eine Gesundheitsversorgung. Selbst innerhalb
dieser kurzen Zeit ist die Versorgung auf rudimentäre Leistungen beschränkt. Nur
bei akuten Erkrankungen, Schmerzzuständen und Schwangerschaft finden eine
ärztliche und zahnärztliche Behandlung statt. Nur im Einzelfall, wenn besondere
Umstände es erfordern, werden weitere Leistungen auch über einen Zeitraum von
einem Monat hinaus gewährt. Die Beantragung und Abwicklung der Überbrü-
ckungsleistungen sind darüber hinaus nicht ausreichend geregelt, was in Kommu-
nen dazu führt, dass Überbrückungsleistungen nur gewährt werden, wenn ein
glaubhafter Ausreisewille vorhanden ist und/oder eine medizinische Versorgung
nur gewährleistet wird, wenn diese Überbrückungsleistungen bereits vor einem
nötigen Krankenhausaufenthalt beantragt wurden. Dies führt de facto zu einem
weitgehenden Ausschluss von medizinischen Leistungen.
Mit der Unterzeichnung des UN-Sozialpaktes hat sich Deutschland verpflichtet,
den Zugang zu erschwinglicher und qualitativ hochwertiger gesundheitlicher
Versorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen unabhängig von der Na-
tionalität und des Aufenthaltsstatus zu gewähren.
Mit der Entscheidung, dieses Recht nur kurz und nur in zu geringem Umfang zu
gewähren, verletzt die Bundesregierung nach Auffassung der fragestellenden
Fraktion nicht nur den UN-Sozialpakt, sondern höhlt auch die Freizügigkeit in-
nerhalb der EU aus. Die Bundesregierung geht in der Gesetzesbegründung davon
aus, dass dieses Gesetz eine Lenkungswirkung auf die betroffenen Menschen hat,
sie also zur Ausreise bewegen wird oder dazu, von ihrer Einreise abzusehen. Für
die fragestellende Fraktion ist die Freizügigkeit innerhalb der EU ein wesentlicher
Teil des europäischen Einigungsprozesses und muss für alle EU-Bürgerinnen und
EU-Bürger auch faktisch möglich sein, auch für Erwerbslose. Das Instrument,
über die Nichtgewährung notwendiger Gesundheitsleistungen Ein- und Ausreise
zu steuern, ist mit elementaren Menschenrechten nicht vereinbar.

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Die Beschränkung auf Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und
oder: von Schmerzzuständen sorgt zudem für eine große Rechtsunsicherheit so-
wohl bei den Leistungserbringenden wie auch bei den Betroffenen. Denn diese
Leistungen sind schwer abgrenzbar. Diese Rechtsunsicherheit kann sogar dazu
führen, dass Leistungen noch weiter eingeschränkt werden, als mit dem Gesetz
beabsichtigt. Das zeigen viele Erfahrungsberichte über die Anwendung der im
Asylbewerberleistungsgesetz ähnlich gefassten Regelung. Im Falle der Nichtge-
währung von Leistungen, etwa bei Infektionskrankheiten, liegt außerdem nicht
nur eine Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der direkt Betroffenen vor,
sondern auch eine Gefährdung der Gesundheit der hier dauerhaft lebenden Men-
schen.
Für die Leistungserbringenden ergibt sich durch die materiellen und zeitlichen
Beschränkungen außerdem ein Konflikt. Sie sind in Notfällen gesetzlich dazu
verpflichtet und im Rahmen von Erkrankungen außerhalb des Notfalles berufs-
rechtlich oder über das Berufsethos dazu gehalten, Hilfe zu leisten. Sie können
aber nicht damit rechnen, dass sie für diese rechts- und moralkonforme Erfüllung
ihrer gesellschaftlichen Funktion auch vergütet werden.
Es ist nicht Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisationen, wie ÄRZTE DER
WELT E. V., die mit diesem Gesetz in den Sozialstaat geschlagenen Lücken zu
schließen. Über 25 Organisationen haben daher einen Brief an Bundesministerin
Andrea Nahles unterschrieben, der auf die Missstände, die durch das neue Gesetz
entstanden sind, aufmerksam macht. Bewusst in die Gesundheitsversorgung ein-
gebaute Lücken, die nur durch zivilgesellschaftliche Organisationen und ehren-
amtliches Engagement aufgefangen werden können, sind nach Ansicht der frage-
stellenden Fraktion außerdem eine Verletzung der Sozialstaatlichkeit nach Arti-
kel 20 des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Was entgegnet die Bundesregierung dem Vorwurf, dass mit solchen Leis-

tungsbeschränkungen die Freizügigkeit innerhalb der EU faktisch auf eine
Freizügigkeit der Menschen mit Arbeit oder ausreichend Vermögen be-
schränkt wird?

2. Um wie viele Menschen geht es derzeit, die durch das Gesetz betroffen sind?
3. Mit welchen finanziellen Einsparungen rechnet die Bundesregierung durch

das neue Gesetz?
4. Wie sieht die Bundesregierung dieses Gesetz im Kontext des UN-Sozial-

pakts?
5. Wie sieht die Bundesregierung dieses Gesetz und dessen Umsetzung im

Kontext des Artikels 1 Absatz 1 i. V. m. Artikel 20 GG?
6. Ist der Bundesregierung bewusst, dass die materielle und zeitliche Beschrän-

kung gesundheitlicher Leistungen etwa durch Infektionskrankheiten Gefah-
ren für die einheimische Bevölkerung bergen, und wie wägt sie diese Gefah-
ren gegen die im Gesetzentwurf nicht bezifferten finanziellen Einsparungen
ab?

7. Ist der Bundesregierung bewusst, dass Studien bereits mehrfach belegt ha-
ben, dass ein Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen aus der medizini-
schen Versorgung oder die deutliche Beschränkung dieser Leistungen lang-
fristig zu höheren Kosten für das Gesundheitssystem führt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13430
8. Ist der Bundesregierung bewusst, dass Einschränkungen der Leistungen in
der Gesundheitsversorgung auf akute Krankheiten und erst recht der völlige
Entfall der Versorgung nach einem Monat zu Verschleppung von Krankhei-
ten und zu Notfällen führen, die dann privat abgerechnet und in der Realität
vermutlich eher unentgeltlich versorgt werden müssen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung Schreiben wie das des Sozialreferats
München, das am 25. April 2017 in einem Brief an alle städtischen Kranken-
häuser schrieb, dass Behandlungskosten (auch von Notfällen) für bestimmte
Gruppen von EU-Bürgern und EU-Bürgerinnen aufgrund des neuen Geset-
zes nicht mehr übernommen würden und eine Ausnahme nur möglich ist,
wenn die Betroffenen bereits vor ihrem Krankenhausaufenthalt Überbrü-
ckungsleistungen beantragt haben?

10. Ist der Bundesregierung bewusst, dass dieses Gesetz für viele EU-Bürger und
EU-Bürgerinnen im Einzelfall bedeutet, dass sie in einem Krankenhaus ab-
gewiesen werden oder aus Angst vor hohen Kosten gar nicht erst Hilfe in
Anspruch nehmen?

11. Ist der Bundesregierung bewusst, dass aufgrund der Komplexität des Leis-
tungsanspruchs weit mehr EU-Bürgern und EU-Bürgerinnen eine Behand-
lung versagt bleibt, da keine angemessene Klärung von Ansprüchen in einem
laufenden Versorgungsbetrieb durchgeführt werden kann?

12. Was rät die Bundesregierung Leistungserbringenden, bei denen sich eine
bzw. ein von diesem Gesetz durch Leistungsausschluss betroffene bzw. be-
troffener EU-Bürgerin oder EU-Bürger vorstellt?

13. Was ist zu tun, wenn ein Notfall vorliegt?
14. Was ist zu tun, wenn kein Notfall, aber eine (Grund-)Erkrankung vorliegt,

die unbehandelt zu einem Notfall führen kann (z. B. Diabetes, Epilepsie, De-
pression usw.)?

15. Was genau beinhalten die im Gesetzestext beschriebenen „besonderen Um-
stände“, die zu einer Erweiterung des Leistungsangebots und -zeitraums füh-
ren können?

16. Was rät die Bundesregierung Ärztinnen und Ärzten sowie Krankenhäusern,
bei denen sich eine EU-Bürgerin oder ein EU-Bürger vorstellt, deren/dessen
Ansprüche noch nicht geklärt wurden, und was rät die Bundesregierung,
wenn sich ein/eine von diesem Gesetz durch Leistungsausschluss be-
troffene/betroffener EU-Bürger/EU-Bürgerin vorstellt?

17. Wird der/die Leistungserbringende für seine/ihre Leistungen bezahlt oder be-
kommt seine/ihre Aufwendungen erstattet?

Wenn ja, wie genau?
Wenn nein, sieht die Bundesregierung dies als gerechtfertigt an?

18. Wäre nach Einschätzung der Bundesregierung angesichts einer Masernepi-
demie, die im Frühjahr 2017 in Nordrhein-Westfalen vor allem unter EU-
Bürgerinnen und EU-Bürgern ohne Zugang zu regulärer Gesundheitsversor-
gung ausbrach, nicht eher eine Verbesserung der tatsächlichen Versorgung,
teils auch durch aufsuchende Angebote angebracht als eine gesetzlich beab-
sichtigte Einschränkung der Gesundheitsversorgung?

19. Wie erfolgt eine Versorgung in einem solchen epidemischen/endemischen
Fall, und wer trägt die Kosten?

Drucksache 18/13430 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

20. Wenn Leistungserbringende innerhalb eines Monats eine Krankheit im

Zweifel als akut einstufen und behandeln, aber wissen, dass die zuständige
Sozialbehörde innerhalb des ihr aufgrund des unbestimmten Rechtsbegriffs
„akute Erkrankung“ zustehenden Ermessensspielraums dies möglicherweise
anders einschätzen wird, sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass Leistun-
gen auch über die Intention des Gesetzes hinaus eingeschränkt werden?
Kann die Bundesregierung nachvollziehen, dass die Motivation der Leis-
tungserbringenden zur Behandlung unter solchen Rahmenbedingungen lei-
det?
Ist dies beabsichtigt?

21. Wenn nein, weshalb konkretisiert die Bundesregierung im Sinne der Schaf-
fung von Rechtssicherheit nicht die Leistungsausschlüsse, sondern überlässt
die Entscheidung über den Ausschluss einem Abwägungs- und ggf. Aus-
handlungsprozess der Leistungserbringenden und Sozialbehörden?

22. Besteht diesbezüglich ein bundeseinheitlicher Vollzug der Sozialbehörden,
und gibt es Absprachen der Länder oder der Gebietskörperschaften darüber,
und wenn ja, wo sind diese veröffentlicht?

23. Begrüßt die Bundesregierung, wenn Nichtregierungsorganisationen und ein-
zelne Leistungserbringende die mit diesem Gesetz geschaffene Versorgungs-
lücke durch unentgeltliche Leistungen füllen?
Wenn ja, warum wird der Leistungsanspruch dann nicht zuverlässig durch
sozialstaatliche Leistungen geregelt?
Wenn nein, warum begrüßt die Bundesregierung dies nicht?

Berlin, den 25. August 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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