BT-Drucksache 18/13254

Wissenschaftsfreiheit und Angriffe gegen die Gleichstellungs- und Geschlechterforschung (Gender Studies)

Vom 31. Juli 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13254
18. Wahlperiode 31.07.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Cornelia Möhring, Sigrid Hupach,
Dr. Rosemarie Hein, Kathrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Wissenschaftsfreiheit und Angriffe gegen die Gleichstellungs- und
Geschlechterforschung (Gender Studies)

Am 6. Mai 1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin von Studie-
renden gestürmt und die über 10 000 Bücher umfassende Bibliothek geplündert.
Dies läutete den Höhepunkt der „Aktion wider den undeutschen Geist“, die
reichsweiten Bücherverbrennungen, ein. Sie wurden organisiert von der Deut-
schen Studentenschaft (DSt), die unter anderem „die Auslese von Studenten und
Professoren nach der Sicherheit des Denkens im deutschen Geiste“ forderte. Zahl-
reiche wissenschaftliche Koryphäen und Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die
nicht ins NS-Weltbild passten, wurden öffentlich verhöhnt und geächtet, darunter
Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld, Bertha von Suttner, Max Hodann und wei-
tere jüdische, sozialdemokratische, kommunistische und liberale Intellektuelle.
In der „Aktion wider den undeutschen Geist“ kulminierte der faschistische Anti-
intellektualismus. Nicht zufällig befanden sich unter den geächteten Autorinnen
und Autoren zahlreiche Reformpädagoginnen und -pädagogen, Sexualreforme-
rinnen und -reformer und Anhängerinnen und Anhänger der freudschen Psycho-
analyse. Deren Perspektive auf Geschlecht, Sexualität und Gesellschaft stand der
nationalsozialistischen Ideologie, welche Frauen prioritär die Rolle als Ehefrau
und Mutter zuwies, diametral entgegen.
84 Jahre später erleben wir erneut eine Welle der Anfeindung von Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern, die sich mit Fragen von geschlechterspezifischer
Diskriminierung beschäftigen. Insbesondere die Gleichstellungs- und Geschlech-
terforschung (Gender Studies) an Hochschulen sieht sich seit geraumer Zeit enor-
men Angriffen ausgesetzt. Die Sprache des Prof. Dr. Ulrich Kutschera, der 2015
die Gender Studies in einem Radiointerview mit einem „Krebsgeschwür“ ver-
glich, muss als Warnsignal verstanden werden.
Im vergangenen Jahr beschloss die AfD ein Grundsatzprogramm, in welchem es
heißt: „Die Gender-Forschung erfüllt nicht den Anspruch, der an seriöse For-
schung gestellt werden muss. Ihre Methoden genügen nicht den Kriterien der
Wissenschaft, da ihre Zielsetzung primär politisch motiviert ist. Bund und Länder
dürfen daher keine Sondermittel für die Gender-Forschung mehr bereitstellen.
Bestehende Genderprofessuren sollten nicht mehr nachbesetzt, laufende Gender-
Forschungsprojekte nicht weiter verlängert werden.“ Der Thüringer AfD-Chef
Björn Höcke erklärte dazu: „Schädliche, teure, steuerfinanzierte Gesellschaftsex-
perimente, die der Abschaffung der natürlichen Geschlechterordnung dienen,
zum Beispiel das Gender-Mainstreaming, sind sofort zu beenden.“ Aus der Be-
zeichnung der traditionellen Geschlechterordnung als natürliche wird deutlich,
dass vor allem der Kampf gegen die Gleichstellungs- und Geschlechterforschung
politisch motiviert ist.

Drucksache 18/13254 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Die Frauenbewegung hat in den vergangenen Jahrzehnten Einiges erreicht.
Frauen in Führungspositionen – sind sie auch noch selten – werden nicht mehr
als Kuriosität wahrgenommen. Auch im Bereich der Professorinnen- und Profes-
sorenschaft steigt der Anteil von Frauen zwar sehr langsam, aber kontinuierlich.
Und selbst in der katholischen Kirche finden ernsthafte Auseinandersetzungen
über die Öffnung von Kirchenämtern für Frauen statt. Unternehmen implemen-
tieren Diversity-Management-Konzepte und auch konservative Parteien haben
sich inzwischen Frauenquoten gegeben. Diese Erfolge gehen nicht zuletzt auf die
wissenschaftliche Erforschung der der Diskriminierung zugrunde liegenden ge-
sellschaftlichen Mechanismen und Machtstrukturen zurück. Die Anfeindungen
gegen die Gleichstellungs- und Geschlechterforschung (Gender Studies) bedro-
hen zugleich die erreichten Fortschritte.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche wissenschaftlichen Disziplinen sind nach den Erkenntnissen der

Bundesregierung in besonderem Maße von wissenschaftsfeindlichen Anfein-
dungen betroffen (bitte ausführen)?

2. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung der Geschlechter- und Gleich-
stellungsforschung in der Wissenschaftslandschaft in Deutschland bei (bitte
ausführen)?

3. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung der Geschlechter- und Gleich-
stellungsforschung für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland bei
(bitte ausführen)?

4. Wie hoch ist der prozentuale Anteil aller Forschungsfördergelder aus den
Haushalten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der seit 2010 in Projekte
und Einrichtungen aus dem Bereich der Gleichstellungs- und Geschlechter-
forschung floss (bitte alle so geförderten Projekte und Einrichtungen ange-
ben)?

5. Inwiefern widerspricht nach Einschätzung der Bundesregierung die politi-
sche Forderung nach einer Kürzung bzw. vollständigen Streichung von öf-
fentlichen Geldern für die Geschlechter- und Gleichstellungsforschung der
Freiheit der Wissenschaft nach Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes (bitte
ausführen)?

6. Welche Personen des öffentlichen Lebens, Publikationen, Organisationen
und Parteien fordern nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit die Kür-
zung oder vollständige Streichung von öffentlichen Geldern für die Gleich-
stellungs- und Geschlechterforschung?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Art und Umfang von An-
feindungen und Angriffen gegen Einrichtungen, Personal und Studierende
der Geschlechter- und Gleichstellungsforschung (z. B. verbale oder schrift-
liche Anfeindungen, Herabwürdigungen, diskriminierende oder beleidi-
gende öffentliche Äußerungen, Gewaltandrohung, Störungen von Veranstal-
tungen, Gewaltanwendung etc.)?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Art und Umfang von An-
feindungen und Angriffen gegen Gleichstellungs- und Frauenbeauftragte in
öffentlichen Einrichtungen und privaten Betrieben (z. B. verbale oder
schriftliche Anfeindungen, Herabwürdigungen, diskriminierende oder belei-
digende öffentliche Äußerungen, Gewaltandrohung, Störungen von Veran-
staltungen, Gewaltanwendung etc.)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13254
9. Inwiefern sieht die Bundesregierung die Wissenschaftsfreiheit im Falle von
Anfeindungen gegen Einrichtungen, Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler
und Studierende der Geschlechter- und Gleichstellungsforschung bedroht
(bitte ausführen)?

10. Welche Auswirkungen hat nach den Erkenntnissen der Bundesregierung das
Erstarken des sogenannten Rechtspopulismus auf den öffentlichen Diskurs
um Gleichstellungs- und Geschlechterforschung?

11. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung im Umgang mit Per-
sonen, Blogs und Internetforen, Strömungen und Organisationen, die Stim-
mung machen gegen die Wissenschaftsfreiheit und die Geschlechter- und
Gleichstellungsforschung?

12. Hält die Bundesregierung Maßnahmen zur Stärkung der Wissenschaftsfrei-
heit und der Geschlechter- und Gleichstellungsforschung für angebracht?

Wenn ja, welche?
13. Wie beurteilt die Bundesregierung Forderungen nach öffentlich wahrnehm-

barer Stärkung der Gleichstellungs- und Geschlechterforschung, beispiels-
weise durch ein Programm des BMBF oder der DFG?

Berlin, den 31. Juli 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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