BT-Drucksache 18/13190

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das zweite Quartal 2017 - Schwerpunktfragen zum Dublin-Verfahren

Vom 20. Juli 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13190
18. Wahlperiode 20.07.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Jan Korte,
Petra Pau, Harald Petzold (Havelland), Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das zweite Quartal 2017 –
Schwerpunktfragen zum Dublin-Verfahren

Bei 7,7 Prozent aller Asylsuchenden stellte das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2016 ein Rückübernahmeersuchen nach der Dublin-
Verordnung der Europäischen Union (EU; Bundestagsdrucksache 18/11262) –
im ersten Quartal 2017 lag dieser Anteil bei 30,6 Prozent (Bundestagsdrucksache
18/12623, Antwort zu Frage 5).
In 31 488 Fällen wurde 2016 die Zuständigkeit Griechenlands vermutet und des-
halb kein Ersuchen gestellt. Wegen der dortigen systemischen Mängel im Asyl-
und Aufnahmesystem gab es seit 2011 einen Überstellungsstopp, der im März
dieses Jahres jedoch endete. Übernahmeersuchen wurden im Jahr 2016 vor allem
an Italien gerichtet (23,4 Prozent), danach folgten Ungarn (21,5 Prozent), Polen
und Bulgarien.
Den insgesamt 55 690 Dublin-Ersuchen im Jahr 2016 standen nur 3 968 tatsäch-
liche Überstellungen gegenüber, das sind gerade einmal 7 Prozent; gemessen an
den Zustimmungen der anderen EU-Staaten zur Rückübernahme (29 274) betrug
die so genannte Überstellungsquote 13,6 Prozent (in Bezug auf Ungarn: 2,5 bzw.
7,8 Prozent). Nicht selten verhindern Gerichte geplante Überstellungen wegen
erheblicher Mängel in den Asylsystemen anderer Mitgliedstaaten oder aufgrund
individueller Umstände (64,5 Prozent der Rechtsschutzanträge gegen Überstel-
lungen nach Ungarn waren 2016 erfolgreich, in Bezug auf Italien lag die Quote
bei 24,6 Prozent). Nicht wenige Schutzsuchende tauchen in ihrer Not eher unter,
als sich gegen ihren Willen in ein Land überstellen zu lassen, in dem sie ein un-
faires Asylverfahren, unwürdige Lebensbedingungen, rassistische Ablehnung,
Obdachlosigkeit oder eine Inhaftierung fürchten. Die geringe Überstellungsquote
erklärt sich auch dadurch, dass einzelne Mitgliedstaaten – wie etwa Ungarn – nur
eine bestimmte Zahl von Schutzsuchenden pro Tag aus allen anderen Dublin-
Staaten zurücknehmen. Innerhalb des BAMF wird für Dublin-Verfahren Personal
gebunden, das ansonsten in der regulären Asylprüfung eingesetzt werden könnte.
Eine reale Verteilungswirkung ist mit dem Dublin-System für Deutschland kaum
verbunden: Die immer komplexeren Dublin-Verfahren beschäftigen das BAMF
und die Gerichte zunehmend, die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland hat sich
durch Dublin-Überstellungen aus anderen Ländern im Jahr 2016 im Saldo um
8 123 Personen erhöht.

Drucksache 18/13190 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-Verordnung wurden im zweiten
Quartal 2017 bzw. im vorherigen Quartal eingeleitet (bitte in absoluten Zah-
len und in Prozentzahlen die Relation zu allen Asylerstanträgen sowie die
Quote der auf Eurodac-Treffern [Eurodac: Europäische Datenbank zur Spei-
cherung von Fingerabdrücken] basierenden Dublin-Verfahren angeben; bitte
auch nach den unterschiedlichen Eurodac-Treffern differenzieren), und wie
viele VIS-Treffer (VIS: Visa-Informationssystem) bei Asylsuchenden gab es
(bitte Gesamtzahl nennen und jeweils nach den fünf wichtigsten Ausstel-
lungsländern der Visa und Herkunftsländern differenzieren)?

2. Welches waren in den in Frage 1g benannten Zeiträumen die 15 am stärksten
betroffenen Herkunftsländer und welches die 15 am stärksten angefragten
Mitgliedstaaten der Europäischen Union (bitte in absoluten Zahlen und in
Prozentzahlen angeben sowie in jedem Fall die Zahlen zu Griechenland, Zy-
pern, Malta, Bulgarien und Ungarn nennen)?

3. Wie viele Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständigkeit ei-
nes anderen EU-Mitgliedstaates bzw. der Bundesrepublik Deutschland,
Selbsteintritt, humanitäre Fälle, Familienzusammenführung usw.) gab es in
den in Frage 1g benannten Zeiträumen (bitte bei der Zahl der Selbsteintritte
auch nach Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den jeweils fünf
wichtigsten Herkunftsländern differenzieren), und wie viele der formellen
Entscheidungen des BAMF waren in den benannten Zeiträumen Dublin-Ent-
scheidungen (hierzu bitte auch Angaben für das Gesamtjahr 2016 machen,
und falls keine konkreten Zahlen hierzu vorliegen, bitte eine ungefähre Ein-
schätzung fachkundiger Bundesbediensteter geben)?

4. Wie viele Überstellungen nach der Dublin-Verordnung wurden in den in
Frage 1g benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Zahlen und in
Prozentzahlen angeben und auch nach den 15 wichtigsten Herkunftsländern
und Mitgliedstaaten der Europäischen Union – in jedem Fall auch Griechen-
land, Ungarn, Bulgarien, Zypern und Malta – differenzieren), und wie viele
dieser Personen wurden unter Einschaltung des BAMF, aber ohne Durchfüh-
rung eines Asylverfahrens überstellt?

5. Wie viele Asylanträge wurden in den in Frage 1 genannten Zeiträumen mit
der Begründung einer Nichtzuständigkeit nach der Dublin-Verordnung als
unzulässig abgelehnt oder eingestellt, ohne dass ein Asylverfahren mit in-
haltlicher Prüfung durchgeführt wurde (bitte in absoluten und relativen Zah-
len angeben), und wie viele Asylanträge wurden als unzulässig erachtet, weil
bereits in einem anderen Land ein Schutzstatus gewährt wurde (bitte in ab-
soluten und relativen Zahlen angeben und weitere Angaben zu den wichtigs-
ten betroffenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den dort ge-
währten Schutzstatus und der Staatsangehörigkeit der Betroffenen machen)?

6. Wie viele Übernahmeersuchen, Zustimmungen bzw. Überstellungen (bitte
differenzieren) im Rahmen des Dublin-Systems gab es in den in Frage 1 ge-
nannten Zeiträumen durch bzw. an Deutschland (bitte auch nach Ländern
differenzieren und die jeweiligen Überstellungsquoten nennen)?

7. In wie vielen Fällen wurde in den in Frage 1 genannten Zeiträumen bei Asyl-
suchenden festgestellt, dass eigentlich Griechenland nach der Dublin-Ver-
ordnung zuständig wäre (bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftslän-
dern differenziert angeben), wie ist die derzeitige Praxis bei Ersuchen und
Überstellungen nach Griechenland, und wie bewertet die Bundesregierung
die bisherigen Erfahrungen nach Wiederaufnahme der Ersuchen bzw. Über-
stellungen nach Griechenland (bitte ausführen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13190
8. Wie viele Übernahmeersuchen der griechischen Behörden an Deutschland
im Rahmen der Familienzusammenführungsregelungen nach der Dublin-
Verordnung gab es in den genannten Zeiträumen, wie vielen Ersuchen wurde
stattgegeben, wie viele Überstellungen von Griechenland nach Deutschland
fanden in den in Frage 1 genannten Zeiträumen statt, und wie viele Familien-
angehörige, für die das BAMF bereits die Zustimmung zur Übernahme er-
klärt hat, warten aktuell in Griechenland noch auf ihre Überstellung (bitte
auch nach den fünf wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

9. Was haben die Prüfungen der Bundesregierung in Bezug auf die Überstel-
lungspraxis nach Ungarn infolge weiterer Maßnahmen der Europäischen
Kommission in asylrechtlichen Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn
ergeben (vgl. Antwort zu Frage 21 auf Bundestagsdrucksache 18/12622),
und falls es keinen Überstellungsstopp geben sollte, wie wird dies begründet,
und wie ist die derzeitige Ersuchens- und Überstellungspraxis in Bezug auf
Ungarn?

10. Wie viele Überstellungen nach Ungarn gab es seit der Mitteilung der Euro-
päischen Kommission am 17. Mai 2017 über weitere Maßnahmen gegenüber
Ungarn, und was ist der Bundesregierung gegebenenfalls über das Schicksal
der nach Ungarn überstellen Personen bekannt (wurden sie nach der Über-
stellung inhaftiert, hatten sie Zugang zu einem fairen Asylverfahren, wurden
sie nach Serbien abgeschoben, das von Ungarn als sicherer Drittstaat erachtet
wird, usw.)?

11. Gab es nach dem 11. April 2017 Überstellungen nach Ungarn, und wenn ja,
wie wurde dies begründet angesichts der Einschätzung des Staatsministers
Michael Roth vom 11. April 2017 (vgl. Antwort zu Frage 3 auf Bundestags-
drucksache 18/12622), wonach es „deutliche Zweifel“ daran gebe, ob die
verschärfte ungarische Asylgesetzgebung „überhaupt mit EU- und internati-
onalem Recht in Einklang zu bringen sei“ (bitte begründen)?

12. Hat die Bundesregierung oder hat die Bundeskanzlerin dem ungarischen Mi-
nisterpräsidenten Viktor Orbán irgendwann einmal (wenn ja, wann) unmiss-
verständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm nicht dankbar dafür ist, was
er an der Grenze macht (Nachfrage zur Antwort zu Frage 4 auf Bundestags-
drucksache 18/12622), und wenn nein, warum nicht, zumal Viktor Orbán
nach einer Meldung von dpa vom 7. Juli 2017 öffentlich erklärte, es sei „ein
Gemeinplatz“ in Europa, dass Ungarns Migrationspolitik richtig sei und fast
jeder EU-Regierungschef „gibt dies unter vier Augen zu“ (bitte ausführen,
inwieweit auch die Bundesregierung diese Einschätzung teilt und ob die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dem ungarischen Ministerpräsidenten
unter vier Augen ihre Zustimmung zur ungarischen Migrationspolitik erklärt
hat)?

13. Warum hat die Bundesregierung in den EU-Gremien niemals Berichte über
systematische Misshandlungen von Geflüchteten an der ungarischen Grenze
zum Zwecke der Abschreckung bzw. Berichte über Menschenrechtsverlet-
zungen in der ungarischen Asylpraxis thematisiert (vgl. Antwort zu
Frage 11a auf Bundestagsdrucksache 18/12622), obwohl „Defizite“ an den
EU-Außengrenzen ein ständiges Thema in den EU-Gremien waren und sind,
und obwohl der Vertreter des Bundesministeriums des Innern in der Sitzung
des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 28. September 2016
(TOP 17a) auf Nachfrage erklärt hatte, einem Bericht von Amnesty Interna-
tional über systematische Misshandlungen an der ungarische Grenze würde
die Bundesregierung nachgehen und dies gegebenenfalls thematisieren (bitte
darlegen)?

Drucksache 18/13190 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

14. Ist der Meinungsbildungsprozess innerhalb der Bundesregierung zu der

Frage, wie sie sich bei den Verhandlungen zur Dublin-Verordnung zum Prin-
zip der „ewigen Zuständigkeit“ verhalten soll, inzwischen abgeschlossen
(wenn ja, mit welchem Ergebnis; Nachfrage zur Antwort zu Frage 5j auf
Bundestagsdrucksache 18/12623), und falls dies immer noch nicht der Fall
sein sollte, wie wird eine gemeinsame Haltung der Bundesregierung zu die-
sem sehr wichtigen Punkt erarbeitet, und wie kann sich die Bundesregierung
in die aktuellen Verhandlungen zu diesem Punkt einbringen, wenn es keine
gemeinsame Haltung dazu gibt (bitte darstellen)?

15. Welche genauen Angaben kann die Bundesregierung zur Arbeit der Arbeits-
gruppe „Dublin-Verfahren“ im BAMF machen, wie viel Personal im BAMF
ist an welcher Stelle mit Dublin-Verfahren beschäftigt, und welche Hinweise
gibt das BAMF an die Ausländerbehörden für den Umgang mit physischen
oder psychischen Erkrankungen bei geplanten Überstellungen (etwa zur
Überprüfung geltend gemachter Diagnosen und Prognosen, in welchen Fäl-
len soll eine Überprüfung vorgelegter Atteste oder psychologischer Gutach-
ten erfolgen, welche Stellen sollen die Überprüfung vornehmen usw.)?

16. Wie verlaufen ganz konkret (bitte die maßgeblichen Rechtsgrundlagen, Vor-
schriften, internen Anweisungen usw. ebenso nennen wie die praktische Um-
setzung des Verfahrens darstellen, etwa zur Frage der Inhaftierung usw.) Zu-
rückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen EU-Binnengrenzen als
Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens (Nachfrage zur Antwort
zu Frage 1 auf Bundestagsdrucksache 18/9634), wie (durch wen und in wel-
chen Verfahren) wird in der Grenzkontrollsituation die Zuständigkeit des
Mitgliedstaates ermittelt, welche effektiven Rechtsmittel gegen eine solche
Zurückweisung/Überstellung an der Grenze stehen den Betroffenen zur Ver-
fügung, und wie sind solche Zurückweisungen/Überstellungen an der maß-
geblichen deutsch-österreichischen Grenze zu erklären, da Österreich auf-
grund der geografischen Lage nach den Bestimmungen der Dublin-Verord-
nung im Regelfall nicht der für die Asylprüfung zuständige Mitgliedstaat
sein dürfte (bitte ausführen)?

17. Inwieweit wird die Bundesregierung Überstellungen nach Italien aussetzen
oder zahlenmäßig reduzieren vor dem Hintergrund der aktuell starken Inan-
spruchnahme Italiens infolge der Seenotrettung zehntausender Menschen auf
der zentralen Mittelmeerroute und weil es nach Auffassung der Fragestelle-
rinnen und Fragesteller widersprüchlich wäre, Italien über die EU-interne
Umverteilung von Asylsuchenden zu entlasten und gleichzeitig Asylsu-
chende nach Italien zurückzuschicken (bitte begründen)?

18. Inwieweit sieht sich die Bundeskanzlerin in ihrer Entscheidung vom Herbst
2015, syrische Flüchtlinge aus Ungarn zur Asylprüfung nach Deutschland
einreisen zu lassen, gestärkt durch den Schlussantrag der Generalanwältin
beim Europäischen Gerichtshof Eleanor Sharpston, die ausführt, dass durch
die Ausnahmesituation im Herbst 2015 die Dublin-Verordnung faktisch au-
ßer Kraft gesetzt und die Weiterleitung der Geflüchteten durch mehrere EU-
Transitländer schon deshalb erforderlich war, weil die Randstaaten der EU
ansonsten faktisch überfordert gewesen wären, ihren vertraglichen Ver-
pflichtungen zum Flüchtlingsschutz nachzukommen (Kroatien wäre nach
strenger Auslegung der Dublin-Verordnung für fast 700 000 Asylsuchende
zuständig gewesen, https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/
2017-06/cp170057de.pdf), und inwieweit teilt sie diese Sichtweise (bitte dar-
legen)?

Berlin, den 19. Juli 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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