BT-Drucksache 18/11606

Gemeinsam für ein gutes Morgen - Den demografischen Wandel gestalten

Vom 22. März 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/11606
18. Wahlperiode 22.03.2017
Antrag
der Abgeordneten Doris Wagner, Ulle Schauws, Brigitte Pothmer, Beate
Walter-Rosenheimer, Kai Gehring, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner,
Maria Klein-Schmeink, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Kordula
Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Luise Amtsberg, Britta Haßelmann, Dieter
Janecek und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsam für ein gutes Morgen – Den demografischen Wandel gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der demografische Wandel ist ein stetiger Prozess – ohne Anfang und Ende. Ihn im
täglichen Politikgeschäft mitzudenken, heißt, die Zukunft im Blick zu haben. Es be-
deutet, immer wieder aufs Neue zu überprüfen, welche Folgen Politik von heute für
die Gesellschaft von morgen hat – und welche Politik die Gesellschaft von morgen
schon heute braucht. Demografiepolitik soll Zusammenhalt organisieren und allen Ge-
nerationen ein gutes Leben ermöglichen. Auch denen, die heute noch nicht geboren
sind.
In ihrer demografiepolitischen Bilanz zum Ende der 18. Wahlperiode konstatiert die
Bundesregierung, dass sich die Erwerbsbevölkerung bis zum Jahr 2060 aufgrund der
Zuwanderung und der leicht steigenden Geburtenrate deutlich stabiler entwickeln
wird, als noch vor wenigen Jahren erwartet. Die Gesamtbevölkerung wird laut Bun-
desregierung mit 82 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in der jetzigen Größe
verbleiben. In der Bilanz werden diverse Maßnahmen und Programme verschiedener
Ressorts aufgezählt. Doch blinde Flecke zeugen von der mangelnden strategischen
Konsistenz. Es fehlen Ideen oder gar Maßnahmen zur Gestaltung unserer Einwande-
rungsgesellschaft. Der Zusammenhang von Gleichstellungs- und Demografiepolitik
wird nicht erkannt. Die Alterung ist eine der großen Herausforderungen unserer Ge-
sellschaft. Kinder und Jugendliche werden weniger. Doch Fragen der Kinder- und Ju-
gendbeteiligung kommen in den demografiepolitischen Bilanzierungen der Bundesre-
gierung nicht vor. Der vorliegende Antrag beleuchtet exemplarisch die genannten
Leerstellen der Demografiebilanz der Bundesregierung.
Unser Land braucht Einwanderung, um seinen Wohlstand zu erhalten. Um den Fach-
kräftebedarf nachhaltig zu sichern, wird Deutschland in Zukunft auf die kontinuierli-
che Einwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland, die in
Deutschland leben und arbeiten wollen, angewiesen sein. Deshalb muss Deutschland
als Einwanderungsland attraktiver werden. Einwanderung braucht Rahmenbedingun-
gen und muss gestaltet werden. Dazu gehört nicht nur ein modernes Einwanderungs-
gesetz, sondern auch eine Integrationspolitik, die diesen Namen verdient. Menschen

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unterschiedlichster Herkunft und Religion können dann gut zusammen leben, wenn
die Gesellschaft gelernt hat, die Chancen in der Vielfalt zu sehen, und die Integration
fördert – sei es auf dem Arbeitsmarkt oder in der Schule. Gut ein Drittel der unter
Sechsjährigen in unserem Land hat eine Einwanderungsgeschichte, in manchen Regi-
onen heute schon die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen. Die Chancen von Kin-
dern und Jugendlichen sind hierzulande aber ungerecht verteilt. Auch wenn alle die
gleichen Rechte haben, kommen sie nicht gleichermaßen zu ihrem Recht. Denn noch
immer hängt in Deutschland, wie in kaum einem anderen entwickelten Land, der Bil-
dungserfolg von der sozialen Herkunft der Eltern ab.
Demografiepolitik muss immer auch Gleichstellungspolitik sein. Denn ohne die
Frauen geht es nicht. Weniger Menschen müssen in Zukunft mehr erwirtschaften, um
den gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten. Von 2020 bis 2035 wird es zu einer
gravierenden Verschiebung des Zahlenverhältnisses zwischen Erwerbstätigen und
Menschen im Ruhestand kommen. Die Folge: Wir werden anders zusammenleben,
anders und teilweise auch länger arbeiten. Auch wenn die Bundesregierung kleine
Schritte geht, um die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verbessern, bleiben
diese Maßnahmen bruchstückhaft, erreichen nur wenige Frauen und lösen die Nach-
teile nicht auf. Während beispielsweise das Elterngeld Anreize für einen zügigen Wie-
dereinstieg in den Beruf setzt, behindern Ehegattensplitting, Minijobs und kostenfreie
Mitversicherung von Ehepartnern und -partnerinnen diesen eher.
Es ist der Bundesregierung nicht gelungen, die im EU-Vergleich äußerst wenigen Ar-
beitsstunden von teilzeitbeschäftigten Frauen zu erhöhen – obwohl viele Frauen gerne
mehr arbeiten würden. Das Rückkehrrecht auf Vollzeit bzw. die befristete Teilzeit
steht zwar im Koalitionsvertrag und wurde bereits häufig angekündigt – bisher hat die
Bundesregierung aber nichts vorgelegt. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll
durch ein Familienzeitgesetz verbessert werden. Auch hier wurde kein Gesetzentwurf
vorgelegt. Erforderlich ist eine Gleichstellungspolitik, die alle Bereiche umfasst und
dem Leitbild der wirtschaftlichen Unabhängigkeit verpflichtet ist. Niedrige Löhne,
hohe Teilzeitquote, Erwerbsunterbrechungen und Minijobs führen zu einer Renten-
kluft von 57 Prozent zwischen den Geschlechtern. Altersarmut ist weiblich. Hier müs-
sen Gleichstellungs- und Demografiepolitik ansetzen, die den gesamten Lebensverlauf
berücksichtigen. Stattdessen lässt die Bundesregierung die Hürden für die wirtschaft-
liche Unabhängigkeit von Frauen unangetastet.
Die Demografiepolitik der Bundesregierung vernachlässigt nicht nur die Frauen, sie
ist auch zukunftsvergessen. Die diversen im Koalitionsvertrag verankerten Check-
Verfahren scheinen nichts weiter als Beruhigungspillen zu sein: Der im Koalitionsver-
trag der Regierungskoalition für alle Gesetzesvorhaben angekündigte Demografie-
Check ist auf ein Schreiben mit der Bitte um Berücksichtigung der demografischen
Auswirkungen für alle Gesetzesvorhaben geschrumpft. Er ist unverbindlich und ver-
fügt über keine Sanktionsmöglichkeiten. Ob sich der angekündigte Jugend-Check
überhaupt zu einem wirksamen Instrument der Gesetzesfolgenabschätzung entwickeln
lässt und wie und wann er umgesetzt werden soll, steht zudem in den Sternen. Hoch-
interessant wäre diese Prüfung beispielsweise für das zukunftsvergessene Rentenpaket
zu Beginn der 18. Legislaturperiode gewesen – das hätte wohl kaum einen Demogra-
fie- oder einen Jugend-Check überstanden. Kinder und Jugendliche werden im Ver-
gleich zu den älteren Generationen immer weniger. Damit sie nicht überhört werden,
müssen junge Menschen mitbestimmen, wer ihre Welt gestaltet und mitentscheiden,
wie ihre Welt aussieht. Darum gehören die Kinderrechte ins Grundgesetz und Kinder-
und Jugendbeteiligung gestärkt. Damit sich gerade junge Menschen früh einbringen
können, muss das Wahlalter bei allen Wahlen auf 16 Jahre abgesenkt werden.
Um den demografischen Wandel zu gestalten, ist mehr erforderlich als pflichtbewusste
Bilanzen und Demografiegipfel. Die ressortübergreifende Steuerung der Demografie-
politik aus dem Bundesinnenministerium heraus gelingt nicht – dass zeigen exempla-
risch die Leerstellen im Bereich Einwanderungs-, Gleichstellungs- und Jugendpolitik.

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Damit Demografiepolitik nicht zwischen den Fachministerien zerrieben wird, muss sie
von einem oder einer Demografiebeauftragten im Bundeskanzleramt koordiniert wer-
den.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

eine oder einen Demografiebeauftragten im Bundeskanzleramt einzusetzen und
1. Einwanderung und Integration zu gestalten und dafür:

• ein modernes Einwanderungsgesetz vorzulegen, das das bestehende bürokra-
tische Arbeitsmigrationsrecht, das derzeit fast ausschließlich nachfrageorien-
tiert ist, liberalisiert, systematisiert und durch eine grundlegend verbesserte
Möglichkeit einer angebotsorientierten Einwanderung zur Arbeitsplatzsuche
ergänzt, die über ein Punktesystem gesteuert werden soll. Bildungsmigration
soll zu einem echten migrationspolitischen Schwerpunkt ausgebaut, das neue
deutsche Einwanderungsrecht sinnvoll in das europäische Recht eingebettet
und entwicklungspolitisch nachhaltig ausgestaltet werden;

• effektive staatliche Strukturen für Integration zu schaffen. Dafür braucht es
auch im Bund ein Ministerium für Migration und Integration, das in allen
aufenthalts- und asylrechtlichen Fragen federführend ist und vom Asylver-
fahren über Integrationsmaßnahmen bis zur Projektförderung steuernd agie-
ren kann;

• eine bundesweite Bildungsoffensive zu starten, um für bessere Bildungs-
chancen und mehr soziale Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem zu
sorgen. Alle Kinder und Jugendlichen sollen unabhängig von ihrer sozialen
oder kulturellen Herkunft echte Chancen erhalten. In Kita, Schule und Be-
rufsschule soll nicht die Herkunft entscheiden, sondern alle individuell ge-
fördert und unterschiedliche Startchancen ausgeglichen werden. Ganztags-
schulen schaffen dies besonders gut, deshalb braucht es Investitionen in ein
neues Ganztagsschulprogramm;

2. eine wirksame Frauen- und Gleichstellungspolitik umzusetzen und dafür:
• die Hürden wie Ehegattensplitting oder Minijobs für die wirtschaftliche Un-

abhängigkeit von Frauen abzubauen und den Grundsatz „gleicher Lohn für
gleiche und gleichwertige Arbeit“ mit einem wirkungsvollen Entgeltgleich-
heitsgesetz durchzusetzen. Um den Anteil von Frauen in Führungspositionen
zu erhöhen, müssen gesetzliche Regelungen für die Privatwirtschaft, die kon-
krete Maßnahmen und Quoten zur Erhöhung des Frauenanteils in Führungs-
positionen auf allen betrieblichen Ebenen beinhalten, in denen sie unterre-
präsentiert sind (auch für Aufsichtsräte und Vorstände), erlassen werden;

• die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer zu erleich-
tern. Dafür müssen die Kinderbetreuung sowie Ganztagsschulen quantitativ
wie qualitativ ausgebaut und Eltern mit einer KinderZeitPlus unterstützt wer-
den: jeweils acht Monate für Vater und Mutter und weitere acht Monate frei
aufteilbar. Im ersten Lebensjahr des Kindes können beide Eltern – nachei-
nander oder gleichzeitig – vollständig aus dem Beruf aussteigen. Danach
wird eine Reduzierung der Arbeitszeit finanziell abgefedert;

• muss das Rückkehrrecht auf die vorherige Stundenzahl gesetzlich ermöglicht
und die Mitspracherechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über den
Umfang, Lage und Ort ihrer Arbeitszeit ausgebaut werden. Zentral dafür ist
ein Wahlarbeitszeitkorridor, mit dem Beschäftigte ihren Arbeitszeitumfang
bedarfsgerecht anpassen können. Das Pflegezeitgesetz und das Familienpfle-

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gezeitgesetz müssen zu einem Gesetz für mehr Zeitsouveränität für berufstä-
tige Pflegende weiterentwickelt und eine dreimonatige PflegeZeit Plus für
jede zu pflegender Person eingeführt werden;

3. die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen zu stärken und dafür:
• einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Kinderrechte im Grundgesetz stärkt,

Kinder als Träger eigenständiger Rechte definiert und dazu u. a. ihre Beteili-
gungsrechte bei sie betreffenden Angelegenheiten formuliert. Das stärkt die
Bedeutung und die Eigenständigkeit ihrer Rechte. Kinder- und Jugendbetei-
ligung soll an allen Orten des Aufwachsens möglich sein und in Verwaltungs-
strukturen verankert werden;

• das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken, Beschwerdemöglichkeiten und Om-
budschaften zu stärken. Mit einem Nationalen Aktionsplan für Kinder- und
Jugendbeteiligung soll Demokratiebildung in Kitas und Schulen ausgebaut
werden. Außerdem soll eine Informationskampagne über Kinderrechte und
Beschwerdemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen initiiert und Pro-
gramme entwickelt werden, die gezielt sozial benachteiligte Kinder und Ju-
gendliche ansprechen und sie zur Mitwirkung motivieren;

• gesetzliche Regelungen für verbindliche Demokratie- und Teilhabekonzepte
bereits für Kindertagesstätten weiter zu entwickeln bzw. deren Umsetzung zu
befördern. Beteiligung sollte zum tragenden Leitprinzip aller Bildungsein-
richtungen werden.

Berlin, den 21. März 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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