BT-Drucksache 18/10978

Fairen Wettbewerb und kommunale Gestaltungsmöglichkeiten im Nahverkehr sicherstellen

Vom 25. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10978
18. Wahlperiode 25.01.2017
Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Britta Haßelmann,
Matthias Gastel, Tabea Rößner, Markus Tressel, Oliver Krischer,
Annalena Baerbock, Harald Ebner, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl,
Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Nicole Maisch, Peter Meiwald,
Friedrich Ostendorff, Dr. Julia Verlinden, Brigitte Pothmer, Corinna Rüffer
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Fairen Wettbewerb und kommunale Gestaltungsmöglichkeiten im Nahverkehr
sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der letzten Novelle des Personenbeförderungsgesetzes hat der Gesetzgeber den
Vorrang eigenwirtschaftlicher Verkehre im Personenbeförderungsgesetz (PBefG) neu
justiert. Danach ist es möglich, dass sogenannte eigenwirtschaftliche Konkurrenzan-
träge für Linienverkehre des ÖPNV genehmigt werden, obwohl sie öffentliche Zu-
schüsse für die Beförderung von Schülern und Menschen mit Behinderungen erhalten.
Der Begriff „Eigenwirtschaftlichkeit“ täuscht darüber hinweg, dass auch sogenannte
eigenwirtschaftliche Verkehre zu entscheidenden Teilen mit Steuermitteln finanziert
werden. Es handelt sich dabei also um eine konstruierte Eigenwirtschaftlichkeit.
Der Vorrang sogenannter eigenwirtschaftlicher Verkehre kann zu einer Genehmigung
von Nahverkehrsleistungen führen, ohne dass ein vergaberechtlicher Wettbewerb
stattfindet, den die kommunalen Aufgabenträger über soziale und ökologische Krite-
rien gestalten können und ohne dass eigene kommunale Unternehmen den vorab ge-
nehmigten eigenwirtschaftlichen Verkehren Konkurrenz machen können.
Dieser Rechtsrahmen hat zur Folge, dass eine Vielzahl von denen im Jahr 2017 aus-
laufenden Verkehrsverträgen zwischen den Kommunen und ihrem kommunalen Ver-
kehrsunternehmen zur Disposition stehen, weil private Unternehmen vermeintlich aus
eigener wirtschaftlicher Kraft die Verkehrsleistung erbringen können.
Im Januar 2016 erhielt in Pforzheim ein privates Busunternehmen (Tochterunterneh-
men von DB-Regio) nach einem entsprechenden Antrag eine eigenwirtschaftliche Ge-
nehmigung zum Betrieb des gesamten Stadtverkehrs vor einer entsprechenden Direkt-
vergabe an das städtische Verkehrsunternehmen. In der Folge musste das städtische
Verkehrsunternehmen vollständig abgewickelt werden. Ähnliche Vorgänge werden
aus Hildesheim, Oldenburg, Leverkusen oder Hamm berichtet.
Damit verliert die betreffende Stadt oder der Landkreis während der Laufzeit der ei-
genwirtschaftlichen Genehmigung auch weitgehend seine Einflussmöglichkeiten auf

Drucksache 18/10978 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
die Gestaltung und Qualität der Verkehrsleistung. Eigenwirtschaftlichen Verkehren
wird in Deutschland ein weitreichender Konkurrenzschutz gewährt. Eigene Angebots-
konzepte des kommunalen Aufgabenträgers lassen sich daher nicht oder nur unter er-
schwerten Bedingungen durchsetzen. Die Kommunen als Träger der kommunalen Da-
seinsvorsorge werden in ihren Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten einge-
schränkt. Die Beschäftigten laufen Gefahr ihre fairen tariflichen Arbeits- und Entloh-
nungsbedingungen zu verlieren. Es drohen deutliche Lohneinbußen und schlechtere
Arbeitsbedingungen.
Eine Vielzahl kommunaler Unternehmen sieht sich der Gefahr ausgesetzt, von eigen-
wirtschaftlichen Verkehrsanbietern aus dem Markt gedrängt zu werden, da kommu-
nale Unternehmen im Regelfall höhere Tariflöhne zahlen, während ein eigenwirt-
schaftlicher Antragsteller – wegen der bei eigenwirtschaftlichen Konkurrenzanträgen
nicht anwendbaren Vergaberichtlinien – nicht an soziale aber auch ökologische Krite-
rien gebunden ist. Neben der Lohnhöhe hängt die Wettbewerbsfähigkeit von Nahver-
kehrsunternehmen aber auch von weiteren Faktoren wie der Personalstärke oder der
Effizienz der Betriebsabläufe ab. Dort wo die Bundespolitik gefordert ist, für fairen
Wettbewerb und kommunale Gestaltungsmöglichkeiten zu sorgen, schaut die Bundes-
regierung tatenlos zu und lässt die Kommunen mit dem Problem alleine. Eine Ände-
rung des Personenbeförderungsgesetzes lehnt die Bundesregierung ab.
Um das Problem zu entschärfen, sind einige Bundesländer wie Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen dazu übergegangen, in ihren Ausführungsgesetzen die Entschei-
dung darüber, ob konkurrierende eigenwirtschaftliche Antragsteller die Erstattungs-
zahlungen für die Schülerverkehre im Rahmen eines öffentlichen Dienstleistungsauf-
trags verwenden können, in das Ermessen der kommunalen Aufgabenträger zu stellen.
Die Bundesregierung hat bisher jedoch keine Aktivitäten entwickelt, um die Gestal-
tungsmöglichkeiten der Kommunen im Nahverkehr zu erweitern.
Da angesichts der Vielzahl auslaufender Verkehrsverträge eine kurzfristig wirksame
Lösung erforderlich ist, haben die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen,
Schleswig-Holstein und Brandenburg am 16.12.2016 in den Bundesrat einen Gesetz-
entwurf zur Änderung des PBefG (BR Ds. 741/16) eingebracht. Der Gesetzentwurf
soll sicherstellen, dass „Aufgabenträger verkehrliche, soziale und umweltbezogene
Anforderungen wirksam definieren können, die dann auch von einem Unternehmer,
der die Verkehrsleistung eigenwirtschaftlich erbringen möchte, umfassend und für die
gesamte Genehmigungsdauer erfüllt werden müssen. Zudem muss auch sichergestellt
werden, dass für den Genehmigungswettbewerb eigenwirtschaftlicher Unternehmer
untereinander ebenfalls gleiche Bedingungen auch in Bezug auf die Einhaltung sozia-
ler Standards vorgegeben werden können, um Wettbewerbsverzerrungen und Lohn-
dumping zu verhindern.“
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10978
II. Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1.) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den weitgehenden Konkurrenzschutz des
Personenbeförderungsgesetzes für eigenwirtschaftliche Verkehre abbaut und so
die Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 1370/2007 mit dem Personenbeförde-
rungsgesetz in Einklang bringt. Die Kompetenzen der kommunalen Aufgabenträ-
ger müssen so erweitert werden, dass öffentliche Interessen im ÖPNV durchge-
setzt und auch soziale und ökologische Standards definiert werden können;

2.) das Personenbeförderungsgesetz dahingehend zu ändern, dass auch die Zahlung
der Tarifersatzleistungen für die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter
Menschen nach SGB IX künftig nicht mehr in die Kalkulation von eigenwirt-
schaftlichen Anträgen einfließen darf.

Berlin, den 24. Januar 2017

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Begründung

zu 1.) Bisher wird zu Gunsten eigenwirtschaftlicher Verkehre ein weitgehender Konkurrenzschutz praktiziert.
Auch Angebotskonzepte des kommunalen Aufgabenträgers lassen sich daher ggf. nicht oder nur unter erschwer-
ten Bedingungen realisieren, wenn deren Umsetzung in das Erlöspotenzial eigenwirtschaftlicher Verkehre ein-
greift.
Die bisherige Praxis des Konkurrenzschutzes eigenwirtschaftlicher Verkehre ist nicht mit § 8 Abs. 4 Satz 3
PBefG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1370/2007 vereinbar. Nach dem EU-Recht sind ausschließ-
liche Rechte zwar zulässig, sie müssen aber nach Art und Umfang in öffentlichen Dienstleistungsaufträgen fest-
gelegt werden.
Nach § 8 Abs. 4 Satz 3 PBefG definiert sich ein eigenwirtschaftlicher Verkehr aber genau darüber, dass ihm kein
öffentlicher Dienstleistungsauftrag zu Grunde liegt. Ohne öffentlichen Dienstleistungsauftrag darf aber auch kei-
nen Schutz vor Konkurrenz geben. Erst recht darf es keinen Konkurrenzschutz gegenüber dem kommunalen
Aufgabenträger geben, der als einziger legitimiert wäre, Art und Umfang eines ausschließlichen Rechtes festzu-
legen.
Die Konkurrenzschutzregelungen des PBefG dürfen nicht gegen Genehmigungen zur Anwendung kommen, die
zur Umsetzung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrages erteilt werden sollen. Das PBefG ist – durch Rechts-
praxis oder Gesetzesänderung – mit den Vorgaben der VO (EU) Nr. 1370/2007 in Übereinstimmung zu bringen.

zu 2.) Die Tarifersatzleistungen für die so genannte Schwerbehindertenfreifahrt sind ein Ausgleich für entgan-
gene Fahrgeldeinnahmen. Die Bemessung des Ausgleichs erfolgt entweder pauschal aufgrund einer landesrecht-
lich festgelegten Quote oder auf Basis einer in der Vergangenheit liegenden Fahrgastzählung. Da der Ausgleich
aus öffentlichen Kassen unabhängig vom ÖPNV-Betreiber erfolgt, dürfen die Mittel nicht zur Konstruktion „ei-
genwirtschaftlicher Anträge“ genutzt werden.
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