BT-Drucksache 18/10826

Entscheidungen zu Asylersuchen aufgrund sexueller Orientierung

Vom 11. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10826
18. Wahlperiode 11.01.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Annette Groth, Andrej Hunko, Katrin Kunert,
Niema Movassat, Kersten Steinke, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Entscheidungen zu Asylersuchen aufgrund sexueller Orientierung

In vielen Ländern unterliegen LSBTTI (Lesben, Schwule, Bi-, Transsexuelle,
Transgender und Intersexuelle) einer besonderen Verfolgung und sind zur Flucht
gezwungen. Auch in vielen Erstaufnahmeländern werden sie restriktiven, diskri-
minierenden Gesetzen und Vorschriften unterworfen. Dieser Lage trug der Hohe
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) im Jahr 2010 mit der
Zuerkennung einer „besonderen Schutzbedürftigkeit“ von LSBTTI-Flüchtlingen
Rechnung (www.unhcr.org.uk/resources/monthly-updates/october-2010/lgbt.
html).
Der Fall einer lesbischen Marokkanerin, die im Oktober 2016 einen Asylantrag
stellte, der kurz darauf als „offensichtlich unbegründet“ vom Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt wurde, wirft in diesem Zusam-
menhang Fragen auf. In der Begründung heißt es unter anderem, dass „nach Er-
kenntnissen des Bundesamtes […] Homosexualität in Marokko toleriert [werde],
solange sie im Verborgenen gelebt wird“ (http://koelner-fluechtlingsrat.de/
neu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf).
Diese Begründung steht nach Ansicht der Fragesteller im Widerspruch zu der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 7. November 2013
(C199/12 bis C201/12), in der es heißt: „Bei der Prüfung des Antrags auf Zuer-
kennung der Flüchtlingseigenschaft, können die zuständigen Behörden von dem
Asylbewerber nicht erwarten, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunfts-
land geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrich-
tung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“
Nach Artikel 489 des marokkanischen Strafgesetzbuches steht in Marokko das
Ausleben von Homosexualität unter Strafe. Während bisher vor allem Fälle von
nach diesem Artikel verfolgten homosexuellen Männern (www.queer.de/detail.
php?article_id=26708) bekannt geworden sind, gab es im Jahr 2016 mindestens
einen Fall bei dem Frauen und Mädchen nach diesem Paragraf inhaftiert wurden.
Menschenrechtsorganisationen berichteten über den Fall zweier junger Mädchen,
die mehrere Tage inhaftiert worden sind (www.hrw.org/news/2016/11/25/
morocco-drop-homosexuality-charges-against-teenage-girls).
Die Asylbewerberin hatte im Verfahren mehrfach deutlich gemacht, dass sie ihre
sexuelle Orientierung in Marokko geheim halten müsse und deswegen Misshand-
lungen und Übergriffe erlebt habe. Im betreffenden Fall machte das BAMF gel-
tend, dass die Aussagen der Antragstellerin nicht glaubhaft seien, da sie den An-
trag erst 1,5 Jahre nach ihrer Einreise gestellt habe (http://koelner-fluechtlingsrat.
de/neu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf). Der EuGH stellte allerdings
am 2. Dezember 2014 fest (AZ-C-148-150/13): „Es liefe auf einen Verstoß gegen

http://www.unhcr.org.uk/resources/monthly-updates/october-2010/lgbt.html
http://www.unhcr.org.uk/resources/monthly-updates/october-2010/lgbt.html
http://koelner-fluechtlingsrat.de/%0bneu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf
http://koelner-fluechtlingsrat.de/%0bneu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf
http://www.hrw.org/news/2016/11/25/morocco-drop-homosexuality-charges-against-teenage-girls
http://www.hrw.org/news/2016/11/25/morocco-drop-homosexuality-charges-against-teenage-girls
http://koelner-fluechtlingsrat.de/neu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf
http://koelner-fluechtlingsrat.de/neu/userfiles/pdfs/2016-11PM_Marokko-2.pdf
Drucksache 18/10826 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

das in der vorigen Randnummer dargestellte Erfordernis hinaus, wenn ein Asyl-
bewerber allein deshalb als unglaubwürdig angesehen würde, weil er seine sexu-
elle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung
der Verfolgungsgründe offenbart hat“ (http://curia.europa.eu/juris/document/
document.jsf?text=&docid=160244&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&
dir=&occ=first&part=1&cid=194831).
Durch den genannten Fall drängen sich Fragen bezüglich der rechtlichen Dimen-
sion der Anerkennungspraxis des BAMF und der Einstufung von Maghrebstaaten
und Ägypten als sichere Herkunftsstaaten auf.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie beurteilt die Bundesregierung die menschenrechtliche Situation von

LSBTTI in Marokko?
2. Wie viele Menschen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung wegen ein-

vernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen seit
2013 verurteilt?

3. Wie viele Übergriffe gegen LSBTTI sind der Bundesregierung seit 2013 be-
kannt geworden, und in wie vielen Fällen kam es nach Kenntnis der Bundes-
regierung zu Strafverfahren und Verurteilungen?

4. Inwiefern setzt sich die Bundesregierung gegenüber der marokkanischen Re-
gierung für die Rechte von LSBTTI in Marokko ein?

5. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung zum Schutz von LSBTTI
in Marokko, und welche Maßnahmen wird sie in Zukunft ergreifen?

6. Nach welchen Kriterien werden LSBTTI-Flüchtlinge aktuell erfasst (falls
keine Erfassung vorliegt, bitte begründen)?
Wie viele LSBTTI-Flüchtlinge sind nach Kenntnis der Bundesregierung in
Deutschland registriert, und wie hoch ist die Dunkelziffer nach Einschätzung
der Bundesregierung (bitte den Kriterien entsprechend aufschlüsseln)?
a) Aus welchen Herkunftsstaaten stammen die LSBTTI-Flüchtlinge (bitte

aufschlüsseln)?
b) Welchen Status besitzen sie (bitte aufschlüsseln)?

Wie viele Entscheidungen von LSBTTI aus Marokko wurden seit 2010
als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt (bitte nach den von den Be-
hörden für LSBTTI verwendeten Kategorien aufschlüsseln)?

c) Wie hoch ist nach Ermessen der Bundesregierung die entsprechende Dun-
kelziffer der in Deutschland lebenden, jedoch nicht registrierten LSBTTI-
Flüchtlinge?

7. Wie wird der vom UNHCR festgestellten „besonderen Schutzbedürftigkeit“
von LSBTTI-Flüchtlingen nach Kenntnis der Bundesregierung z. B. durch
andere Formen der Unterbringung Rechnung getragen?

8. Welche Schutzprogramme für LSBTTI-Flüchtlinge gibt es nach Kenntnis
der Bundesregierung im Rahmen von Gewaltschutz in Unterkünften und
Rechtsberatung?

9. Welche Bundesprogramme zum Schutz und zur Aufklärung über die beson-
dere Schutzbedürftigkeit von LSBTTI-Flüchtlingen gibt es?

10. Spielt das Thema LSBTTI im vorgesehenen Curriculum für Integrations-
kurse eine Rolle (falls nein, bitte begründen)?

http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=160244&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=194831
http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=160244&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=194831
http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=160244&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=194831
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10826

11. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung durch das BAMF oder andere

Behörden konkrete Bemühungen, LSBTTI die Möglichkeit zu bieten, die ei-
gene Identität als Fluchtgrund und als Grund für eine besondere Schutzbe-
dürftigkeit vertraulich geltend zu machen?
Falls ja, zu welchem Zeitpunkt im Asylverfahren wird der Fluchtgrund
LSBTTI erfasst (bitte aufschlüsseln), und zu welchem Zeitpunkt bietet sich
für Geflüchtete die Möglichkeit, „ihre besondere Schutzbedürftigkeit“ als
LSBTTI vertraulich geltend zu machen?

12. Inwiefern werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BAMF, insbeson-
dere in der Funktion als Anhörer und Entscheider, bzgl. der besonderen Dis-
kriminierung von LSBTTI sensibilisiert?

13. Gibt es Stellen, bei denen sich Asylbewerberinnen und Asylbewerber über
diskriminierende Behandlungen durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des
BAMF und nachrangiger Behörden beschweren können?
a) Falls ja, wie viele solche Beschwerdestellen gibt es nach Kenntnis der

Bundesregierung?
b) Wie viele Beschwerden sind bei diesen Stellen seit Beginn der Erfassung

aufgelaufen (bitte nach Phänomenbereichen aufschlüsseln, insbesondere
das LSBTTI-Spektrum benennen)?

c) Welche Konsequenzen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung aus
wie vielen und welchen der Beschwerden gezogen?

14. Welche offiziellen Beschwerdemöglichkeiten haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung Beraterinnen und Berater, Rechtsanwältinnen und Rechtsan-
wälte, aber auch die Geflüchteten selbst, in Fällen von Diskriminierung
durch Sprachmittlerinnen und Sprachmittler oder Anhörerinnen und Anhö-
rer, und wie werden diese im Speziellen bzgl. der LSBTTI-Diskriminierung
geschult (falls eine der Teilfragen verneint wird, bitte ausführlich begrün-
den)?

15. Inwiefern wird der Tatsache Rechnung getragen, dass LSBTTI auch gegen-
über deutschen Behörden Bedenken haben, sich im Asylverfahren offen über
ihre sexuelle Orientierung und die daraus bereits erlittene Verfolgung zu äu-
ßern ?

16. Wie erklärt die Bundesregierung den offenbaren Widerspruch zwischen der
Entscheidung des EuGH vom 7. November 2013 (C199/12 bis C201/12) und
der Entscheidung des BAMF in oben zitiertem Fall?

17. Wie erklärt die Bundesregierung den offenbaren Widerspruch zwischen der
Entscheidung des EuGH vom 2. Dezember 2014 (AZ-C-148-150/13) und der
Entscheidung des BAMF in oben zitiertem Fall?

18. Folgt das BAMF nach Kenntnis der Bundesregierung immer noch seiner
Aussage vom 27. Februar 2012: „dass es „[e]inem Antragsteller […] grund-
sätzlich nicht zumutbar [ist], gefahrenträchtige Verhaltensweisen zu vermei-
den, um einer Verfolgung auszuweichen, die ihm andernfalls, z. B. wegen
seiner sexuellen Ausrichtung, drohen würde“ (http://bit.ly/2g6vjVZ)?

Falls nein, warum nicht?
19. Wie begründet die Bundesregierung die geplante Erklärung Marokkos zum

sicheren Herkunftsstaat vor dem Hintergrund rapide ansteigender Anerken-
nungsquoten von Geflüchteten aus Marokko?

20. Wie begründet die Bundesregierung die geplante Erklärung Marokkos zum
sicheren Herkunftsstaat vor dem Hintergrund von systematischer Verfol-
gung von LSBTTI (www.boell.de/de/2016/07/05/lgbti-marokko-repressive-
rechtsvorschriften-engstirnige-sozialmoral)?

http://bit.ly/2g6vjVZ
http://www.boell.de/de/2016/07/05/lgbti-marokko-repressive-rechtsvorschriften-engstirnige-sozialmoral
http://www.boell.de/de/2016/07/05/lgbti-marokko-repressive-rechtsvorschriften-engstirnige-sozialmoral
Drucksache 18/10826 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

21. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung bzgl. einer Straflosigkeit von

Lynchjustiz gegenüber LSBTTI in Marokko?
22. Auf welche Art und Weise wird die Erklärung von Marokko zum sicheren

Herkunftsstaat die Entscheidungspraxis des BAMF bzgl. LSBTTI aus Ma-
rokko verändern?

23. Wie sieht die Bundesregierung die Situation von LSBTTI in den anderen
nordafrikanischen Staaten (bitte nach den einzelnen Ländern aufschlüsseln)?

24. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Inhaftierung von
274 Menschen wegen angeblicher LSBTTI-Identität in Ägypten (www.
nytimes.com/2016/08/11/world/africa/gay-egyptians-surveilled-and-entrapped-
are-driven-underground.html?_r=3)?

25. Über welche Kenntnisse verfügt die Bundesregierung zur Situation von
LSBTTI in den für die sogenannten Rückführungszentren vorgesehenen oder
angedachten Staaten?
a) Auf welche Art und Weise sollen nach Kenntnis der Bundesregierung

LSBTTI-Flüchtlinge in den geplanten sogenannten Rückführungszentren
und Aufnahmelagern geschützt werden?

b) Wie soll nach Kenntnis der Bundesregierung verhindert werden, dass
Flüchtlinge in den Staaten, in denen die sogenannten Rückführungszen-
tren eingerichtet werden sollen, bei Bekanntmachung ihrer LSBTTI-Iden-
tität wegen „Anstachelung zu unsittlichem Verhalten“ oder ähnlicher Pa-
ragraphen verfolgt werden?

c) Hat die Bundesregierung Bemühungen unternommen, die Situation von
LSBTTI in den für Rückführungszentren vorgesehenen Staaten zu ver-
bessern?

Wenn ja, welche, und in welchem Rahmen?

Berlin, den 10. Januar 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
http://www.nytimes.com/2016/08/11/world/africa/gay-egyptians-surveilled-and-entrapped-are-driven-underground.html?_r=3
http://www.nytimes.com/2016/08/11/world/africa/gay-egyptians-surveilled-and-entrapped-are-driven-underground.html?_r=3
http://www.nytimes.com/2016/08/11/world/africa/gay-egyptians-surveilled-and-entrapped-are-driven-underground.html?_r=3

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