BT-Drucksache 18/10809

Umsetzung des Leistungsentzugs nach dem Bundesversorgungsgesetz für Kriegsverbrecher

Vom 9. Januar 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10809
18. Wahlperiode 09.01.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Sevim Dağdelen, Katrin Kunert,
Harald Petzold (Havelland) und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung des Leistungsentzugs nach dem Bundesversorgungsgesetz für
Kriegsverbrecher

Die große Mehrzahl von Kriegsverbrechern aus Wehrmacht, Waffen-SS und Po-
lizeibataillonen bekommt bzw. bekam Bezüge, die sie nach dem Bundesversor-
gungsgesetz für erlittene Gesundheitsschäden im Kriegsdienst oder in Gefangen-
schaft bezogen haben, bis zu ihrem Tod ausbezahlt. § 1a des Bundesversorgungs-
gesetzes (BVG), der im Jahr 1998 regelte, dass bei Verstößen „gegen die Grunds-
ätze der Rechtsstaatlichkeit oder der Menschlichkeit“ die Leistungen versagt bzw.
entzogen werden können, wurde praktisch nicht umgesetzt. Schon im Sommer
2011 teilte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Frak-
tion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/6270) mit, lediglich in 99 Fällen
habe es einen Entzug gegeben. Bei einem Gesamtbestand von 940 000 Versor-
gungsemfängern (Stand 1998) liegt damit der Anteil der Entziehungen im kaum
messbaren Promillebereich. Aus Sicht der Fragestellenden kann unmöglich ange-
nommen werden, dass nur rund 0,01 Prozent der deutschen Soldaten während des
Zweiten Weltkrieges an Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit beteiligt gewesen sein sollen. Die Bundesregierung hat aber auf Anfragen
der Fraktion Die LINKE. erklärt, sie halte das Vorgehen der Länder für nicht zu
beanstanden.
Ein im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales entstandener
Forschungsbericht bestätigt nun, dass lediglich 99 Personen die Leistungen ent-
zogen worden sind. Es hat demnach seit dem Jahr 2008 überhaupt keine Entzüge
mehr gegeben.
Ausschlaggebend für das faktische Scheitern der Gesetzesnovelle aus dem
Jahr 1998 sind dem Bericht zufolge unter anderem administrative Schwierigkei-
ten, die sich daraus ergeben, dass die Akten der Zentralen Stelle in Ludwigsburg
nicht digitalisiert worden sind, nur die Nachnamen Verdächtiger erfasst wurden
und die Geburtsdaten nicht gespeichert sind. Bei Verdachtsfällen, von denen bei-
spielsweise nur ein extrem häufiger Nachname wie „Weber“ bekannt war, wirkte
sich dies sehr hinderlich aus. Auch zu geringe materielle und personelle Ressour-
cen werden genannt, ebenso wie unterschiedliche Auslegungen des Gesetzes, die
sich z. B. darin manifestieren, dass laut Auffassung des Landessozialgerichts Ber-
lin-Brandenburg (S. 104 f. des Berichts) die Teilnahme an einer Massenerschie-
ßung durch Sicherungstätigkeiten zwar „objektiv“ einen Verstoß gegen die
Grundsätze der Menschlichkeit darstellen, dieser aber „allein“ nicht ausreiche.
Aus dem Bericht geht hervor, dass mehrere überprüfte Leistungsempfänger ihre
Bezüge auch weiterhin erhielten, obwohl zweifelsfrei feststand, dass sie Dienst in
einem Konzentrationslager (Majdanek u. a.) taten oder einem verbrecherischen
Polizeibataillonen angehört hatten. Dies ist umso unverständlicher, als für eine

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Leistungsentziehung keine strafrechtliche Verurteilung notwendig ist, sondern es
ausreicht, dem Empfänger einen „ethischen Schuldvorwurf“ machen zu können
(vgl. Bundestagsdrucksache 18/1164, Antwort zu Frage 8). Gerade im Licht des
Demjanjuk-Urteils wäre eine Neuüberprüfung erforderlich gewesen.
Vertreter von NS-Opferverbänden reagierten entsetzt auf den Bericht. Er sei „aus-
gesprochen deprimierend“, so Efraim Zuroff vom Jerusalemer Simon Wiesenthal
Center, das in der Vergangenheit Zehntausende Daten über Verdächtige übermit-
telt hat. Zentralrat der Juden: „Für viele NS-Opfer ist dies besonders bitter“.
Das Bundesarbeits- und Sozialministerium hat die Bilanz zwar ebenfalls „unbe-
friedigend“ genannt (Jüdische Allgemeine, 1. Dezember 2016), sieht darin aber
dennoch ein „Signal der Anerkennung des Leidens der Opfer und der Distanzie-
rung von den Unrechtsmaßnahmen der NS-Täter“. Dem können sich die Frage-
steller nicht anschließen. Sie halten vielmehr das Gegenteil für richtig: Wenn
Deutschland NS-Verbrechern sogenannte Kriegsopferrenten bezahlt, während es
in Osteuropa immer noch Opfer gibt, die niemals eine Entschädigung erhalten
haben, ist dies ein Zeichen fehlender Anerkennung des Leidens der Opfer und
fehlender Distanzierung von den Tätern.
Ausdrücklich hatte die Bundesregierung schon im Jahr 2011 angegeben, dass eine
Totalüberprüfung im Sinne eines „Aktensturzes“ und der Überprüfung sämtlicher
Leistungsempfänger nicht stattgefunden hat. Dies sollte nun dringend nachgeholt
werden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass manche Leistungs-

empfänger die Leistungen auch nach der Überprüfung weiter beziehen konn-
ten, obwohl sie erwiesenermaßen in Konzentrationslagern bzw. verbrecheri-
schen Polizeieinheiten Dienst geleistet hatten, und welche Schlussfolgerun-
gen zieht sie daraus?

2. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass es seit dem Jahr 2008 keine ein-
zige weitere Leistungsentziehung gegeben hat?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Abschluss-
bericht, und wie bewertet sie vor dem Hintergrund von gerade einmal
99 Leistungsentziehungen die Effektivität von § 1a BVG?

4. Beabsichtigt die Bundesregierung, aus dem im Abschlussbericht dargestell-
ten Problem der fehlenden Digitalisierung der erforderlichen Akten die Kon-
sequenz zu ziehen, eine solche Digitalisierung nachzuholen und der Zentra-
len Stelle die dafür benötigte personelle und materielle Unterstützung zur
Verfügung zu stellen (bitte ausführen bzw. bitte begründen, wenn nicht)?

5. Beabsichtigt die Bundesregierung, aus dem dargestellten Problem der feh-
lenden Erfassung der Vornamen und Geburtsdaten die Konsequenz zu zie-
hen, die entsprechenden Akten zu überarbeiten und den zuständigen Behör-
den die hierfür benötigte personelle und materielle Unterstützung zu gewäh-
ren (bitte ausführen bzw. begründen, wenn nicht)?

6. Beabsichtigt die Bundesregierung, aus dem dargestellten Problem der unter-
schiedlichen Gesetzesinterpretationen die Konsequenz zu ziehen, eine ge-
setzliche Klarstellung zu initiieren (bitte ausführen bzw. begründen, wenn
nicht)?

7. Wie viele versorgungsberechtigte Beschädigte und Hinterbliebene gibt es ge-
genwärtig insgesamt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10809
8. Beabsichtigt die Bundesregierung, den Ländern einen bislang abgelehnten
„Aktensturz“ im Sinne einer anlasslosen Gesamtüberprüfung aller noch le-
benden (mit Stand April 2014, s. Bundestagsdrucksache 18/1164) Versor-
gungsempfänger vorzuschlagen bzw. ihnen dafür die benötigte materielle,
finanzielle oder personelle Unterstützung anzubieten (bitte ausführen bzw.
begründen, wenn nicht)?

Welcher personelle und zeitliche Aufwand wäre hierfür erforderlich?
9. Hat die Bundesregierung mittlerweile Kenntnisse zur Frage, inwiefern die

Länder eine Überprüfung der Akten vorgenommen haben mit dem Ziel, Leis-
tungsentzüge für Angehörige verbrecherischer Polizei- oder SS-Formatio-
nen, Trägern des Bandenbekämpfungsabzeichens oder KZ-Personal die
Leistungen zu entziehen (bitte ggf. ausführen)?

10. Inwiefern kann die Bundesregierung Angaben machen zur Zahl
a) ehemaliger Angehöriger der SS sowie Waffen-SS (bitte getrennt darstel-

len, auch nach ausländischen SS-Einheiten),
b) ehemaliger Angehöriger von Einsatzgruppen,
c) von Trägern des „Bandenbekämpfungsabzeichens“,
d) ehemaliger Angehöriger von Polizeibataillonen,
e) von SS-, Polizei- oder Wehrmachtsangehörigen, die in einem Konzentra-

tionslager oder Ghetto Dienst taten,
die heute Leistungen nach dem BVG beziehen (bitte soweit möglich nach
Ländern aufgliedern)?
Was will sie unternehmen (auch in Form von Anregungen gegenüber den
Ländern), um diesen Personen die Leistungen zu entziehen oder sie zumin-
dest einer erneuten und intensiveren Prüfung zu unterziehen als bisher er-
folgt?

11. Welche Detailangaben kann die Bundesregierung zu den 99 erfolgten Leis-
tungsentziehungen machen (bitte Zugehörigkeit zu entsprechenden Einhei-
ten und konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen darstellen)?

12. Wieso hat die Zentrale Stelle Ludwigsburg nicht die benötigte personelle und
materielle Unterstützung bekommen, nachdem sie im Jahr 1999 dem Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales mitgeteilt hatte (vgl. S. 71 f. des Be-
richts), ein Abgleich der Dateien mit Namenslisten des Simon-Wiesenthal-
Centers liege außerhalb dessen, was sie leisten könne?
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass dessen ungeachtet die
damalige Bundesministerin der Justiz „keinen Bedarf“ für Neueinstellungen
sah, und welche Schlussfolgerungen zieht sie heute hieraus?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache,
dass die Überprüfungen in den einzelnen Bundesländern äußerst unterschied-
lich intensiv durchgeführt wurden, was sich unter anderem darin spiegelt,
dass es zwar in Baden-Württemberg 29 Leistungsentziehungen gab, in Sach-
sen aber keine einzige und in Sachsen-Anhalt und Thüringen nur je eine?

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14. Hatte die Bundesregierung bei Einführung des §1a BVG die Einschätzung,

Leistungsentziehungen seien bereits gerechtfertigt, wenn ein Bezieher ein-
deutig gegen Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen hat, oder war sie da-
mals davon ausgegangen, dass die Schädigung im Zusammenhang mit dem
NS-System und während dessen Herrschaft eingetreten sein musste (wobei
letztere Auffassung das Bundessozialgericht am 24. November 2005 dazu
motivierte, einem SS-Angehörigen, der an Massenerschießungen von Zivi-
listen beteiligt war, die Leistungen weiterhin zu gewähren, weil er die dies-
bezügliche Gesundheitsbeeinträchtigung erst während seiner Gefangen-
schaft nach dem Krieg erlitten hatte), und welche Schlussfolgerungen zieht
sie daraus (vgl. S. 113 f. des Berichts)?

15. Beabsichtigt die Bundesregierung, weitere Forschungen zu veranlassen oder
zu fördern, um eine Datenmenge zu erhalten, die zuverlässige Hochrechnun-
gen zur Entwicklung bundesweit erlauben, um letztlich ermitteln zu können,
wie viele NS-Täter trotz Verstößen gegen Grundsätze der Menschlichkeit
eine Kriegsopferrente bezogen haben bzw. noch beziehen (bitte begründen)?

16. Welche weiteren Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem
Abschlussbericht, insbesondere auch aus der Kritik des Simon-Wiesenthal-
Centers?

Berlin, den 6. Januar 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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