BT-Drucksache 18/10768

Verlauf der "Operation Sophia" im Mittelmeer und Erkenntnisse über Fluchtrouten und Schleuserstrukturen

Vom 21. Dezember 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10768
18. Wahlperiode 21.12.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dağdelen, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko, Kerstin Kassner,
Jan Korte, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Dr. Petra Sitte,
Kersten Steinke, Kathrin Vogler, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Verlauf der „Operation Sophia“ im Mittelmeer und Erkenntnisse über Fluchtrouten
und Schleuserstrukturen

Seit April 2015 führt die Europäische Union eine Militärmission im Mittelmeer
durch, die unter der Bezeichnung „EUNAVFOR MED“ bzw. „Operation Sophia“
zur Aufklärung von Schleusernetzwerken beitragen soll. Seit Beginn der Phase 2i
des Einsatzes im Oktober 2015 dürfen die eingesetzten Kriegsschiffe in interna-
tionalen Gewässern Boote anhalten und durchsuchen sowie beschlagnahmen,
umleiten oder vernichten, wenn der Verdacht besteht, dass diese zur Schleusung
von Flüchtlingen verwendet werden bzw. wurden.
Der Militäreinsatz ist in der Öffentlichkeit umstritten, da er nach Ansicht von
Kritikerinnen und Kritikern bewirkt, dass Schleuser, die sich der Festnahme
entziehen bzw. Verluste durch die Vernichtung von Booten verringern wollen,
dazu übergehen, weniger seetaugliche Boote einzusetzen, sie nicht mit ausrei-
chend Treibstoff auszustatten und bei Erreichen internationaler Gewässer die
Flüchtlinge führerlos zurückzulassen. Diese Einschätzung findet sich auch in ei-
nem Bericht des EU-Ausschusses des britischen Parlaments vom Mai 2016
(www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/144/14402.htm).
Der Ausschuss stellt darin fest, die Mission habe bislang nicht wesentlich zur
Störung der Schleusernetzwerke beigetragen. Darauf deutet auch der Bericht des
italienischen Konteradmirals Enrico Credendino an den EU-Militärstab hin, in
dem es heißt, dass mittlerweile 90 Prozent der Versuche, nach Europa zu gelan-
gen, auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien unternommen
werden (augengeradeaus.net, 4. Dezember 2016). Während Credendino keinen
direkten Einfluss der Operation auf die Fluchtbewegungen im Mittelmeer sieht,
gibt die Bundeswehr an, dass die Seenotrettung „in gewisser Weise“ das Geschäft
der Schleuser befördere („EU-Mission im Mittelmeer: Fragen und Antworten zur
Phase 2“, www.bundeswehr.de vom 1. Dezember 2015).
Offenkundig ist jedenfalls, dass die Überfahrten über das Mittelmeer riskanter
geworden sind. Im Jahr 2016 ist die Zahl der Todesfälle nach Angaben des UN-
Flüchtlingshilfswerks UNHCR höher als jemals zuvor („Mediterranean death toll
soars to all-time high“, www.unhcr.org vom 25. Oktober 2016). Die Organisation
Ärzte ohne Grenzen meldete am 2. Dezember 2016, es seien bislang 4 690 Tote
registriert worden, 1 000 mehr als im Jahr 2015 (KAA, 2. Dezember 2016).
Die Fragesteller weisen darauf hin, dass sie in dieser Anfrage die Begriffe
„Boote“ und „Schiffe“ synonym verwenden und bitten dies bei der Beantwortung
zu berücksichtigen.

http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/144/14402.htm
http://www.bundeswehr.de/
http://www.unhcr.org/
Drucksache 18/10768 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse bzw. Lagebilder zu Fluchtrouten und Schleusernetz-
werken konnten nach Kenntnis der Bundesregierung bisher im Verlauf der
Operation EUNAVFOR MED gewonnen werden?
a) Inwiefern konnten auch Erkenntnisse über Organisationen und zentrale

Persönlichkeiten aus dem Schleusermilieu gewonnen werden,
b) in welchen Dateien sind diese Erkenntnisse nach Kenntnis der Bundesre-

gierung gespeichert, und
c) an welche Behörden von Drittstaaten wurden personengebundene Infor-

mationen weitergeleitet?
2. Welchen konkreten Nutzen haben nach Kenntnis der Bundesregierung die

gewonnenen Erkenntnisse zur Bekämpfung der Schleuser?
a) Inwiefern werden diese Erkenntnisse operationalisiert?
b) Inwiefern haben die Erkenntnisse zur Einleitung von Strafverfahren in

Deutschland oder im Ausland bzw. zur Anforderung von Rechtshilfe (an
welche Staaten) geführt?

c) Inwiefern haben die Erkenntnisse zur Auflösung von Schleuserorganisa-
tionen oder zur Festnahme zentraler Persönlichkeiten der Schleuserszene
geführt (bitte angeben, in welchem Land die Festnahme erfolgte)?

d) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus diesen Er-
kenntnissen, und welche ziehen nach ihrer Kenntnis die anderen am Mi-
litäreinsatz beteiligten Staaten?

3. Welchen Einfluss hatte die Operation bislang nach Einschätzung der Bun-
desregierung auf Schleusernetzwerke?
a) Inwiefern sind diese nach Einschätzung der Bundesregierung in der Lage,

durch die Operation allfällig erlittene Rückschläge zu kompensieren, und
b) wie beurteilt sie angesichts von Meldungen, dass mittlerweile 90 Prozent

der übers Mittelmeer kommenden Flüchtlinge die zentrale Route wählen,
die durch das Einsatzgebiet von EUNAVFOR MED führt, die Wirkung
der Operation?

4. Welche strategischen, taktischen oder konzeptionellen Änderungen ihres
„Geschäftsmodells“ haben nach Kenntnis der Bundesregierung Schleuser
aus dem Verlauf von EUNAVFOR MED vorgenommen?

5. Inwiefern kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, denen zufolge
Schleuser seit Beginn der Operation vermehrt auf weniger bzw. gar nicht
mehr hochseetaugliche Boote zurückgreifen oder davon absehen, die Boote
mit einer für die Überfahrt bis Italien ausreichenden Treibstoffmenge auszu-
statten oder eigenes Personal im Vorfeld einer Entdeckung durch ausländi-
sche Schiffe von den Booten abziehen und diese führerlos lassen bzw. nicht
dafür ausgebildeten Flüchtlingen überlassen?
Inwiefern hält sie solche Berichte für plausibel, und welche Schlussfolgerun-
gen zieht sie daraus?

6. Wie viele Meldungen über verdächtige Boote bzw. Bewegungen wurden den
am Einsatz beteiligten Staaten seit Beginn der Operation übermittelt bzw.
von den eingesetzten Booten selbst kommuniziert (bitte jeweils nach Quar-
talen und Urhebern der Meldung aufgliedern)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10768
7. Wer an Bord eines Militärschiffes trifft nach Kenntnis der Bundesregierung
jeweils die Entscheidung, ob ein Schiff bzw. Boot als „schleuserverdächtig“
anzusehen ist und angehalten, durchsucht, umgeleitet oder zerstört wird?
Welche Kriterien gibt es für die Feststellung, ob ein Boot als schleuserver-
dächtig anzusehen ist, insbesondere dann, wenn nicht gewissermaßen „auf
frischer Tat“ Flüchtlinge darauf angetroffen werden (bitte ggf. entsprechende
Rundbriefe, Einschätzungshilfen, Anordnungen usw. zusammenfassen oder
beifügen)?

8. Wie oft wurden nach Kenntnis der Bundesregierung im Verlauf der Opera-
tion EUNAFVOR MED Boote
a) angehalten,
b) durchsucht,
c) umgeleitet oder
d) zerstört
(bitte jeweils nach einzelnen Quartalen aufgliedern sowie angeben, wessen
Landeskräfte die jeweiligen Maßnahmen durchgeführt haben, welcher Art
die Schiffe bzw. Boote waren, und welchen mutmaßlichen Wert diese hatten
sowie bzgl. zerstörter Boote bitte zusätzlich den Grund für die Zerstörung
angeben)?

9. In wie vielen Fällen wurde nach Kenntnis der Bundesregierung bislang im
Rahmen der Operation EUNAVFOR MED Gewalt gegen (nicht am Einsatz
beteiligte) Personen angedroht bzw. angewendet,
a) von welchen Einsatzkräften wurde die Maßnahme ausgeführt,
b) gegen wie viele Personen richtete sich die Gewaltanwendung bzw. -dro-

hung,
c) wann ereignete sich die Maßnahme,
d) was war der Grund, und
e) was waren die näheren Umstände der Maßnahme?

10. Wie viele Personen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung seit Beginn
der Operation direkt an Bord von Schiffen festgenommen?
a) Wohin wurden diese Personen verbracht,
b) wer hat die Festnahmen vorgenommen, und
c) welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, gegen wie viele

dieser Personen ein Strafverfahren eingeleitet, eine Anklage erhoben, ein
Gerichtsverfahren begonnen bzw. ein Urteil gesprochen wurde (bitte
möglichst ausführlich aufgliedern und angeben, in welchen Ländern die
Verfahren liefen, in wie vielen Fällen ein Schuldspruch ergangen ist, und
wie hoch das Strafmaß war)?

11. Inwiefern trifft es zu, dass Schleuser dazu übergangen sind, „als Fischer ge-
tarnt die verlassenen Boote wieder zurückzuschleppen“ und dabei einige
festgenommen worden sind (www.augengeradeaus, wie oben), und
a) wie oft war dies bisher der Fall (bitte nach Quartalen seit Beginn der Ope-

ration aufgliedern),
b) die Kräfte welcher Staaten waren an solchen Festnahmen beteiligt, und
c) anhand welcher Kriterien werden Personen auf ansonsten verlassenen

Schiffen als mutmaßliche Schleuser identifiziert?

http://www.augengeradeaus/
Drucksache 18/10768 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

12. Inwiefern haben die von der Bundeswehr eingesetzten Kampfschwimmer

bislang spezifische Beiträge beim Vorgehen gegen Schleuser geleistet, und
welcher Art waren diese Beiträge?

13. Inwiefern steht den Eigentümern der beschlagnahmten, umgeleiteten, durch-
suchten oder zerstörten Boote der Rechtsweg offen, um Entschädigungen zu
verlangen, und inwiefern sind bereits entsprechende Forderungen erhoben
worden?

14. Inwiefern werden nach Kenntnis der Bundesregierung im Rahmen der Ope-
ration EUNAVFOR MED Erkenntnisse über verdächtige Boote an die liby-
sche Küstenwache übermittelt, und in wie vielen Fällen hat die libysche Küs-
tenwache innerhalb bzw. außerhalb libyscher Hoheitsgewässer Flüchtlings-
boote zum Umkehren veranlasst bzw. die Passagiere nach Libyen zurückver-
bracht?

15. Welche Gremien sowie Informations- und Kommunikationsplattformen sind
für die Operation EUNAVFOR MED von Belang, was ist jeweils deren spe-
zifische Funktion sowie ihr spezifischer Beitrag, wie sind diese zusammen-
gesetzt (bitte die Zusammensetzung nach Staaten, Personenzahl sowie Funk-
tion aufgliedern), und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
aus den bisherigen Erfahrungen mit diesen Gremien bzw. Plattformen?

16. Wie genau gestaltet sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Unterstüt-
zungsbeitrag der NATO-Operation ACTIVE ENDEAVOUR für EUNA-
VFOR MED, und inwiefern hat die NATO bislang relevante Beiträge für
Verdachtsmeldungen oder Durchsuchungen, Umleitungen, Beschlagnah-
mungen oder Zerstörungen von Booten geleistet?
Welche Absichten zur weiteren Zusammenarbeit der NATO-Mission mit der
EU-Operation sind beabsichtigt?

17. Welche Formen der Interaktion zwischen den an der Operation beteiligten
Kriegsschiffen sowie Schiffen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung, wie bewertet sie diese, und wel-
che Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

18. Wie viele Flüchtlinge wurden bislang im Verlauf von
a) deutschen Schiffen,
b) anderen an der Operation beteiligten Schiffen und
c) anderen Schiffe (der internationalen Handelsschifffahrt, von NGOs usw.)
aus Seenot gerettet (bitte nach Quartalen seit Beginn der Operation aufglie-
dern und jeweils soweit möglich nach Herkunftsländern, Alter und Ge-
schlecht differenzieren)?

19. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung vorgekommen, dass Flüchtlinge
an Bord von Schiffen der Operation genommen und von dort in einen nord-
afrikanischen Staat gebracht worden sind, und wenn ja
a) wann gab es solche Rückführungen,
b) wie viele Personen waren davon betroffen,
c) was war der Grund für die Rückführung,
d) inwiefern wurde den Flüchtlingen die Gelegenheit gegeben, einen Asyl-

wunsch zu stellen, und wie wurde damit verfahren,
e) von welchen Schiffen (entsendender Staat) erfolgten die Rückführungen,

und
f) wohin erfolgte die Rückführung?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/10768

20. Welche über die zitierte Meldung hinausgehenden Informationen kann die

Bundesregierung zum Inhalt des Berichts von Konteradmiral Enrico
Credendino übermitteln?
Hat sie nähere Informationen, wie sich die darin angegebene Summe von
275 bis 325 Mio. Euro, die lybische Küstenstädte angeblich aus der Flücht-
lingsmigration ziehen, berechnet?

21. Inwiefern bewertet die Bundesregierung die Operation von EUNAVFOR
MED und/oder die Aktivitäten von NGOs als pull-Faktor bei der Flüchtlings-
migration, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Berlin, den 21. Dezember 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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