BT-Drucksache 18/10359

Für eine Internationalisierungsstrategie von Wissenschaft und Forschung, die Pluralität und Freiheit schützt, Grenzen überwindet und Zusammenhalt stärkt

Vom 18. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10359
18. Wahlperiode 18.11.2016
Antrag
der Abgeordneten Kai Gehring, Dr. Frithjof Schmidt, Claudia Roth (Augsburg),
Özcan Mutlu, Beate Walter Rosenheimer, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner,
Maria Klein-Schmeink, Tabea Rößner, Elisabeth Scharfenberg, Ulle Schauws,
Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Doris Wagner, Dr. Tobias Lindner
und Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Internationalisierungsstrategie von Wissenschaft und Forschung,
die Pluralität und Freiheit schützt, Grenzen überwindet und Zusammenhalt
stärkt

Der Bundestag stellt fest:

I. Der Bundestag wolle beschließen:

Weltweit arbeiten Forscherinnen und Forscher in vielfältigen Projekten grenzüber-
schreitend zusammen auf der gemeinsamen Suche nach Erkenntnis. Die Wissen-
schaftsbeziehungen, die sie knüpfen, schlagen Brücken zwischen Gesellschaften. Sie
öffnen Gesellschaften nach außen und befördern Pluralismus. Dies alles ist gerade in
Zeiten von Krisen und Erschütterungen sehr wichtig.
Die Internationalisierung von Wissenschaft und Forschung gründet auf Mobilität,
Weltoffenheit, Vielfalt und Freiheit der Forschung. Wissenschaft lebt von Austausch,
Kooperation und Vielfalt. Wissenschaftskooperationen zu pflegen, wirkt auch frie-
denssichernd. Denn konstruktiver, wissenschaftlicher Dialog ist Teil aktiver Völker-
verständigung.
Doch in zahlreichen Ländern stehen diese Prinzipien unter Druck.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden entlassen, mit Arbeitsverbot belegt,
bedroht, unter Hausarrest gestellt, inhaftiert oder gar getötet. Beispiele dafür reichen
von der Türkei über China bis Ägypten, wie die Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, „Bedrohungs- und Gefährdungs-
lage von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ (Drs. 18/9609), zeigt. Besorg-
niserregend sind beispielsweise die Entwicklungen in der Türkei nach dem gescheiter-
ten Militärputsch. Kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden der
Unterstützung von Terrorgruppen bezichtigt und in der Folge verhaftet oder entlassen.
Vor bisweilen massiven staatlichen wie nichtstaatlichen Repressionen, Angriffen und
Übergriffen ist keine Profession sicher. Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler sind aber besonders exponiert, weil ihnen besonderes kritisches Po-
tenzial zugeschrieben und eine Antreiberfunktion für sozialen Wandel zugetraut wird.
In Europa schüren (rechts-)populistische Strömungen wissenschaftsfeindliche Stim-
mungen. Offenkundigen Ausdruck findet das in drastischen Anfeindungen gegen die

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Geschlechterforschung. Indem Populisten gegen Pluralismus jeglicher Art polemisie-
ren, geben sie den Kern dessen preis, was Forschung in einer freien Welt ausmacht:
Kritik, Ringen um Erkenntnis und Neugier auf Neues.
Die Europäische Union (EU) hat mit der Brexit-Entscheidung vom 23. Juni 2016 einen
schmerzlichen Schlag erlitten. Durch das Votum einer knappen Mehrheit der Abstim-
menden wird das Vereinigte Königreich die EU und damit auch den europäischen For-
schungsraum verlassen. Das stellt die bisher gepflegten Wissenschaftskooperationen
und den umfangreiche Austausch von Studierenden, Lehrenden und Forschenden in
Frage und auf eine harte Probe.
Wissenschaftsdiplomatie wie auch die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik sind
seit jeher wesentliche Bestandteile deutscher Außenpolitik. In der jetzigen Situation
kommt es darauf an, dass die Bundesregierung die internationale Stärkung der Freiheit
von Wissenschaft und Forschung zu einem zentralen Ziel ihrer Internationalisierungs-
strategie macht. Dabei kann Deutschland nicht allein agieren, sondern muss im Rah-
men der EU die Wissenschaftsfreiheit als gemeinsamen Wert festigen. Das betrifft vor
allem folgende Dimensionen:

Wissenschaftsfreiheit und Mobilität statt Ausgrenzung
Es fehlt an systematischem Wissen über den Grad von Wissenschaftsfreiheit in unter-
schiedlichen Ländern und den Stand der Gefährdung von Studierenden und Forschen-
den. Das hat gerade auch die Antwort auf die bereits genannte Kleine Anfrage der
Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gezeigt. Selbst für Wissenschafts-
und Mittlerorganisationen ist es oft ist schwer, die Lage einzuschätzen. Die Bundesre-
gierung sollte deshalb verstärkt systematisch Wissen in diesem Feld sammeln, bewer-
ten und zur Verfügung stellen.
Im Fall von Ländern, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedroht, po-
litisch unter Druck gesetzt oder in ihrer Freizügigkeit drastisch eingeschränkt werden,
muss die Bundesregierung jede Möglichkeit nutzen, um diesen Eingriffen in die Wis-
senschaftsfreiheit Einhalt zu gebieten. Das muss in bilateralen politischen Gesprächen
und im Rahmen der EU oder anderer multilateraler und internationaler Verhandlungen
geschehen.
Um exzellente und international anschlussfähige Forschung in Europa zu erhalten,
sollte außerdem alles dafür getan werden, dass mit dem Vereinigten Königreich auch
zukünftig tragfähige Forschungskooperationen, Mobilität und Austausch von For-
schenden und Studierenden sichergestellt bleiben.

Austausch statt Abwerbung
Hoch Qualifizierte sind international mobil. Ihre Anwerbung gewinnt in einer globali-
sierten Wissensgesellschaft immer mehr an Bedeutung. Um Brain Circulation im bes-
ten Sinne zu befördern, brauchen wir eine Willkommensinfrastruktur. Sie ist die Basis
dafür, dass internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschungsauf-
enthalte wahrnehmen und auch verlässliche Bleibeperspektiven entwickeln können.
Verantwortliche Außenwissenschaftspolitik sollte gleichzeitig Brain-Drain-Effekten
vorbeugen. Ein umfangreicher dauerhafter Fortzug Hochqualifizierter schmälert die
freien Entwicklungschancen insbesondere ärmerer Länder, wenn Forscherinnen und
Forscher, die zuvor unter erheblichem finanziellen Aufwand ausgebildet wurden, nicht
wieder in ihr Land zurückkehren, weil dort zum Beispiel geeignete Forschungsumge-
bungen fehlen. Von fairem Austausch profitieren hingegen alle Beteiligten.
Das heißt, Kapazitätsaufbau als wichtige Querschnittsaufgabe von Wissenschaftsko-
operationen mit Entwicklungsländern zu verankern: Kooperationsbeziehungen sollen
so gestaltet werden, dass sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Entwick-
lungsländern Karriereoptionen und Forschungsinfrastrukturen in den eigenen Ländern
bieten.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10359
Vorrang globaler Herausforderungen vor ökonomischer Verwertung
Ökonomisch vielversprechende Forschung findet maßgeblich in Unternehmen statt.
Ökonomische Verwertung steht hier im Vordergrund. Öffentliche Forschungsgelder
sollten hingegen andere Prioritäten setzen: zum einen die auskömmliche Finanzierung
der erkenntnis- und neugiergetriebenen Grundlagenforschung, zum anderen die Erfor-
schung der globalen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Eine solche For-
schungsförderung funktionalisiert freie Forschung nicht als Schrittmacher für bloße
Wachstumsimpulse. Die Erforschung globaler Herausforderungen bedeutet, europäi-
sche wie auch internationale Forschungskooperationen viel stärker auf solche Fragen
zu fokussieren wie: Was kann Forschung dazu beitragen, dass die weltweiten Ziele der
2015 beschlossenen „Sustainable Development Goals“ und des Pariser Klima-Abkom-
mens von Dezember 2015 erreicht werden? Wie können neue Herausforderungen wie
Migration und Flucht besser bewältigt werden?
Auch die außeruniversitären Forschungseinrichtungen stehen in der Verantwortung, in
ihren jeweiligen Internationalisierungsstrategien die Bewältigung globaler und gesell-
schaftlicher Herausforderungen stärker in den Vordergrund zu rücken.

Diversität statt Homogenität
Globale Herausforderungen lassen sich nur durch geistige und wissenschaftskulturelle
Vielfalt angehen. Forschung kann umso erfolgreicher sein, je unterschiedlicher und
damit in ihrer Gesamtheit umfassender die Perspektiven, Erfahrungen und Fragestel-
lungen der Forschenden sind. Voraussetzung aber, um vielfältiges Wissen zu teilen,
ist der Zugang zu Wissen. Für die Internationalisierung von Wissenschaft und For-
schung stecken enorme Potenziale in der Digitalisierung. Um diese Chancen nutzen
zu können, müssen die Hochschulen hierzulande darin unterstützt werden, digitale
Lehre und Forschung auf hohem Niveau zu betreiben. Dazu sollen Bund und Länder
ein neues zeitlich begrenztes Modernisierungsprogramm auf den Weg bringen. Bis
2020 sollen Bauten und Ausstattung wieder auf der Höhe der Zeit sein und dabei auch
die digitalen Infrastrukturen ertüchtigen.
Um den Wissensfluss zu erleichtern, muss sich die Bundesregierung auf nationaler wie
EU-Ebene darüber hinaus für ein bildungs- und wissenschaftsfreundliches Urheber-
recht einsetzen, so dass endlich die Voraussetzungen für eine allgemeine Bildungs-
und Wissenschaftsschranke geschaffen werden.
Die Bundesregierung ist aufgerufen, ihre Internationalisierungsstrategie auf diese Leit-
linien stärker auszurichten. Wenn sie sowohl in ihrer nationalen wie in ihrer internati-
onalen Wissenschaftspolitik diese Prinzipien umsetzt, werden sowohl Forschung und
Wissenschaft in Deutschland entsprechend gestärkt als auch ein Signal nach außen
gesendet, für welches Wissenschaftsverständnis Deutschland und im besten Falle auch
die EU und die UN stehen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ihre Internationalisierungsstrategie so zu überarbeiten, dass die Strategie
1) die Freiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland als

auch in den Staaten befördert, mit denen Deutschland kooperiert. Wissen über
den Status quo von Wissenschaftsfreiheit und die Bedrohungslage von Studieren-
den und Forschenden sollten systematisch gesammelt, bewertet und zur Verfü-
gung gestellt werden;

2) angesichts der weltweiten Konkurrenz um wissenschaftliches Personal auf Aus-
tausch statt auf Abwerbung setzt. Bei Forschungskooperationen mit weniger ent-
wickelten Staaten sollte Kapazitätsaufbau bei den Partnern als Querschnittsauf-

Drucksache 18/10359 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

gabe verankert werden. Nur so kann statt eines „Brain Drain“ auf Kosten der Her-
kunftsstaaten eine „Brain Circulation“ entstehen, die verlässliche Kooperationen
über nationale Grenzen hinweg schafft und der Völkerverständigung nützt;

3) mit Blick auf das laufende und zukünftige europäische Forschungsrahmenpro-
gramm und auf öffentlich geförderte internationale Forschungskooperationen
stärker auf die Erforschung der globalen und gesellschaftlichen Herausforderun-
gen fokussiert. Wissenschaftsfremde Indikatoren wie ökonomische Verwertbar-
keit dürfen nicht den Vorrang haben. Stattdessen sollen u. a. Forschungsbedarfe
stärker berücksichtigt werden, die sich aus den „Sustainable Development Goals“
und dem Pariser Klima-Abkommen ergeben, aber auch aus aktuellen Herausfor-
derungen wie Flucht, soziale Gerechtigkeit, Wahrung der Menschenrechte;

4) die Chancen der Digitalisierung nutzt, um den globalen Wissensaustausch zu in-
tensivieren;

5) das BAföG zu einem Instrument für Auslandsphasen während des Studiums für
alle Studierenden werden kann, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Mehr
soziale Gerechtigkeit bei der Auslandsförderung durch das BAföG kann nur ge-
schehen, wenn zum einen die Verwaltungspraxis für eine schnellere Bearbeitung
sorgt, so dass die Studierenden nicht in Vorleistung treten müssen, zum anderen
sollte die Bundesregierung prüfen, ob Studierenden mit Vollzuschuss ein erhöh-
ter Auslandszuschlag bzw. für EU-Mitgliedstaaten überhaupt ein Auslandszu-
schlag gewährt werden kann;

6) den Mittlerorganisationen wie der Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH), dem
Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und den Studienwerken ei-
nen flexiblen Fonds für Studierende und Promovierende aus Staaten mit gefähr-
deter Wissenschaftsfreiheit zur Verfügung stellt, um ihnen im Bedarfsfall einen
vorübergehenden Studien- oder Forschungsaufenthalt in Deutschland zu ermög-
lichen;

7) den Mittlerorganisationen wie der AvH, dem DAAD oder den politischen Stif-
tungen eine auskömmliche Finanzierung sicherstellt, damit sie ihrer Funktion als
wichtige Antreiber der Internationalisierung noch besser nachkommen können;

8) die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik weiter stärkt, ausbaut und im Dialog
mit Mittlerorganisationen und Zivilgesellschaften auf aktuelle und künftige Her-
ausforderungen ausrichtet.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung darüber hinaus auf, in Zusam-
menarbeit mit den Ländern die Weichen für die Internationalisierung von Wissen-
schaft und Forschung weiter zu verbessern, und zwar durch die Einführung einer all-
gemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung ferner auf, darauf hinzuwirken,
dass mit dem Vereinigten Königreich und der EU auch zukünftig tragfähige For-
schungskooperationen, Mobilität und Austausch von Forschenden und Studierenden
sichergestellt bleiben.

Berlin, den 18. Oktober 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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