BT-Drucksache 18/10302

Handreichung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zur Beobachtung "extremistischer" Bestrebungen von Flüchtlingen und Flüchtlingshelferinnen und -helfern

Vom 9. November 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/10302
18. Wahlperiode 09.11.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Sevim Dağdelen,
Annette Groth, Heike Hänsel, Dr. André Hahn, Inge Höger, Andrej Hunko,
Niema Movassat, Martina Renner, Kersten Steinke, Kathrin Vogler,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Handreichung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zur Beobachtung
„extremistischer“ Bestrebungen von Flüchtlingen und Flüchtlingshelferinnen
und -helfern

Anfang August 2016 versandte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eine
Publikation mit dem Titel „Wie erkenne ich extremistische und geheimdienstli-
che Aktivitäten? Eine Handreichung für Flüchtlingshelferinnen und -helfer“. Die
Publikation zielt nach Aussage des BfV darauf ab, Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter dabei Hilfestellung zu geben, „extremistische“ Bestrebungen bei Flüchtlin-
gen und Flüchtlingshelfern zu erkennen und zu unterbinden. In diesem Kontext
werden „islamistische“, „ausländerextremistische“, „rechtsextremistische“ und
„linksextremistische“ Bestrebungen benannt (vgl. Handreichung des BfV: „Wie
erkenne ich extremistische und geheimdienstliche Aktivitäten? Eine Handrei-
chung für Flüchtlingshelferinnen und -helfer“, S. 5 f.).
In der Publikation werden verschiedene Charakteristika von, nach Ansicht des
BfV, „extremistischen Gruppen“ definiert. Insbesondere die Charakterisierungen
kurdischer Organisationen und „linksextremistischer Hilfeleistung“ erscheint da-
bei nach Auffassung der Fragesteller problematisch. So charakterisiert das BfV
in der genannten Publikation beispielhaft eine Aktion, bei der sich Menschen
schützend vor eine Unterbringung für Flüchtlinge stellen, gegen die eine frem-
denfeindliche Demonstration stattfindet, als „linksextremistisch“. Nicht zuletzt
stellt sich in diesem Zusammenhang nach Ansicht der Fragesteller die Frage, in-
wiefern Bürgerproteste gegen asylfeindliche Aufmärsche ein Aktionsfeld ge-
heimdienstlicher Überwachung darstellen.
Auch die Charakterisierung von mit der internationalen Anti-IS-Koalition zusam-
men kämpfenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) als „terroristisch“, wirft
Fragen auf. Das BfV wirft ihnen nicht näher benannte „terroristische Aktionen
in Nordsyrien“ vor (vgl. ebd., S. 18 f.). Allerdings sind, wie die Bundesregierung
auf eine Schriftliche Frage der Abgeordneten Sevim Dağdelen zur Antwort gab,
„weder die Partei der Demokratischen Union (PYD), noch ihr bewaffneter
Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) (inkl. die Frauenverteidigungsein-
heit YPJ) vom VN-Sicherheitsrat als terroristische Vereinigungen gelistet“
(www.sevimdagdelen.de/7741-2/).
Soweit im Folgenden von Kenntnissen der Bundesregierung die Rede ist, gehen
die Fragesteller davon aus, dass sich die Bundesregierung durch entsprechende
Nachforschungen und Nachfragen in Bezug auf die ihr unterstellten Behörden

Drucksache 18/10302 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

und Bediensteten entsprechende Erkenntnisse verschafft, soweit diese nicht vor-
liegen sollten.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Aktivitäten von „extre-

mistischen“ Personen bzw. Zusammenschlüssen im Bereich der Flüchtlings-
hilfe (bitte nach den einzelnen Phänomenbereichen und quantitativ auf-
schlüsseln und möglichst den Umfang der jeweiligen Aktivitäten benennen)?

2. Welche genauen Maßnahmen unternimmt das BfV, um festzustellen, ob sich
unter freiwilligen Helferinnen und Helfern, Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern sowie Dolmetscherinnen und Dolmetschern in Unterkünften Personen
aus den in der Publikation als extremistisch klassifizierten Personenkreisen
befinden:
a) Werden vom BfV oder nach Kenntnis der Bundesregierung von den Lan-

desämtern für Verfassungsschutz (LfV) in Einzelfällen Anfragen über die
Zugehörigkeit ehrenamtlicher oder freiberuflicher Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern in Unterkünften zu den in der Handreichung definierten Phä-
nomenbereichen durchgeführt?
Wenn ja, wie viele in welchem Zeitraum (bitte thematisch aufschlüsseln)?

b) In welchem Umfang sind dem Bundesamt oder nach Kenntnis der Bun-
desregierung den LfV die Personen, welche eine ehrenamtliche oder frei-
berufliche Tätigkeit als Flüchtlingshelfer, Übersetzer oder dergleichen in
Unterkünften ausführen, bekannt?
Gibt es entsprechende Listen?

c) Wie oft wurden nach Kenntnis der Bundesregierung Arbeitgeber bzw.
Heimleitungen vom BfV angesprochen und darauf hingewiesen, dass be-
stimmte in Flüchtlingsunterkünften ehrenamtlich tätige Personen, Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter, Dolmetscherinnen und Dolmetscher links-
extremistisch, rechtsextremistisch, PKK-nah oder islamistisch seien (bitte
aufschlüsseln)?

d) Wurden oder werden nach Kenntnis der Bundesregierung Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter von Unterkünften vom Verfassungsschutz über die
Handreichung hinaus mündlich oder schriftlich angesprochen, um Infor-
mationen über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Ehrenamtliche oder
Übersetzerinnen und Übersetzer, die im Verdacht stehen, linksextremis-
tisch, rechtsextremistisch, PKK-nah oder islamistisch zu sein, zu melden?

3. Inwieweit bewegen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BfV und nach
Kenntnis der Bundesregierung, der LfV sowie des Bundesnachrichtendiens-
tes (BND) oder Militärischen Abschirmdienstes (MAD) offiziell oder inof-
fiziell auf dem Gelände von Unterkünften zum Zweck der Ansprache, Ob-
servation oder aus anderen Gründen (bitte benennen und nach Phänomenbe-
reich quantitativ aufschlüsseln)?
a) Nahmen oder nehmen nach Kenntnis der Bundesregierung Mitarbeiterin-

nen oder Mitarbeiter der genannten Nachrichtendienste an Mitarbeiter-
schulungen in Unterkünften offiziell oder inoffiziell teil, und wenn ja, mit
welcher Aufgabenstellung?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/10302
b) Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Fälle, in denen Hilfsleistun-
gen und Dolmetscherdienste aufgrund des Verdachts, den in der Handrei-
chung beschriebenen Phänomenbereichen anzugehören, durch behördli-
che Intervention gestoppt worden sind (wenn ja, bitte nach Bereich und
intervenierender Behörde aufschlüsseln)?

c) Gibt es Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des BfV, die unter einer Le-
gende in Notaufnahmen, Erstaufnahmen oder Gemeinschaftsunterkünften
Informationen sammeln?
Falls ja, wie viele?

d) Gibt es Versuche, ehrenamtlich Tätige und Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter von Flüchtlingsunterkünften oder Geflüchtete als Informanten des
BfV innerhalb wie auch außerhalb des Geländes von Unterkünften anzu-
werben, und falls ja, inwiefern spielten dabei finanzielle Anreize für die
Anzuwerbenden eine Rolle?

e) Wurde vom BfV, dem MAD oder dem BND sowie, nach Kenntnis der
Bundesregierung, von den LfV versucht, Bewohner von Erstaufnahme-
einrichtungen innerhalb oder außerhalb von Unterkünften mit aufenthalts-
rechtlichen oder finanziellen Mitteln für die Informationsgewinnung zu
gewinnen?
Falls ja, wie viele, und zur Informationsgewinnung in welchem Betäti-
gungsfeld des BfV oder BND?

4. Welche Quellen benutzt die Bundesregierung, um die Lage in Nordsyrien zu
bewerten?
Auf welche Quellen oder Erkenntnisse stützt sich der Verfassungsschutz bei
der Darstellung, die YPG würde von der PYD und nicht von der parlamen-
tarischen Selbstverwaltung der Region durch ihr Verteidigungsministerium
befehligt?
a) Inwiefern bezieht die Bundesregierung die Einschätzung des türkischen

Geheimdienstes bzw. der Kurdischen Autonomieregierung im Nordirak
(KRG) in die Bewertung der YPG mit ein?

b) Inwiefern bezieht die Bundesregierung angesichts der militärischen Un-
terstützung der USA für die YPG Einschätzungen von US-Nachrichten-
diensten bezüglich dieser Gruppierung in ihre Bewertung ein?

5. Wie begründet die Bundesregierung die in der Handreichung „Wie erkenne
ich extremistische und geheimdienstliche Aktivitäten?“ getätigte Behaup-
tung, die YPG setzten „terroristische Mittel“ in Nordsyrien ein (Handrei-
chung BfV, S. 19)?
a) Was genau versteht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang unter

„terroristischen Mitteln“?
b) Welche Aktionen der YPG im Einzelnen bewertet die Bundesregierung

als „terroristisch“ (bitte mit Quellenangabe aufzählen)?
c) Gegen welche Gruppierungen oder Einzelpersonen richten sich die vom

BfV der YPG unterstellten „terroristischen Mittel“ nach Kenntnis der
Bundesregierung konkret?

d) Auf welche Erkenntnisse und Quellen stützt sich die Bundesregierung bei
dieser Einschätzung?

Drucksache 18/10302 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
e) Erstreckt sich diese Einschätzung des Gebrauchs „terroristischer Mittel“
auch auf die die YPG als maßgebliche Komponente beinhaltenden und
von den USA militärisch im Kampf gegen den IS unterstützten „Demo-
kratischen Kräfte Syriens“ (SDF), und inwiefern beeinflusst eine solche
Einschätzung die Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der Anti-IS-
Koalition?

6. Ist der Bezug auf die Begriffe „Demokratische Autonomie“, „Demokrati-
scher Konföderalismus“ und/oder auf Abdullah Öcalan für die Bundesregie-
rung ausreichend, um eine Gruppe als Unterorganisation der PKK zu defi-
nieren?
Falls nein, welche Faktoren müssen hinzukommen?

7. Aus welchen Gründen werden in der Handreichung im Falle der PKK ledig-
lich „fiktive Fallbeispiele“ angeführt?
a) Sind der Bundesregierung vergleichbare reale Fälle bekannt?

Falls ja welche?
b) Inwieweit stellen nach Auffassung der Bundesregierung die Existenz von

Rojava-Komitees und die Werbung für eine humanitäre Unterstützung der
Region eine Form des „kurdischen Extremismus“ dar (bitte begründen)?

8. Wie begründet die Bundesregierung die in der BfV-Publikation getätigte Be-
hauptung einer „propagandistischen Instrumentalisierung ihrer Flüchtlings-
unterstützung“ durch sogenannte „Linksextremisten“ (Handreichung BfV
S. 28)?
a) Inwieweit und mit welcher Begründung stellt nach Auffassung der Bun-

desregierung die im Beispiel 1 angeführte Demonstration und der Schutz
eines Flüchtlingsheims vor Rechtsextremisten eine, wie das BfV es schil-
dert, „linksextremistische Aktivität“ dar?

b) Welche der in dem Beispiel genannten Parolen lassen nach Ansicht der
Bundesregierung die Aktion zum Schutz einer Flüchtlingseinrichtung vor
asylfeindlichen Protesten zu einer extremistischen Aktivität werden, und
wie ist diese Auffassung zu begründen?

c) Ist der Bundesregierung bekannt, dass am 7. November 2015 in Berlin ein
großes Bündnis unter Einschluss aller im Deutschen Bundestag vertrete-
nen Parteien gegen einen asylfeindlichen Aufmarsch protestiert hat, und
inwiefern wertet sie diesen Protest ebenfalls als ein Beispiel „extremisti-
scher“ Aktivitäten?

d) Welche der in Fallbeispiel 2 (S. 28) genannten Parolen lassen nach An-
sicht der Bundesregierung die Aktion zum Schutz einer Flüchtlingsein-
richtung vor asylfeindlichen Protesten zu einer extremistischen Aktivität
werden – und warum?

e) Ist der Bundesregierung bekannt, dass zahlreiche Menschenrechtsorgani-
sationen (www.proasyl.de/thema/ungarn/, www.zeit.de/politik/ausland/
2016-09/amnesty-international-ungarn-fluechtlinge-misshandlungen) der
Flüchtlingspolitik zahlreicher osteuropäischer Staaten schwere men-
schenrechtliche Defizite bescheinigen, und inwiefern wertet sie dies eben-
falls als „extremistisch“?

f) Inwieweit und unter welchen Umständen kann die Bundesregierung hin-
ter den in der BfV-Handreichung genannten Meinungsäußerungen zur
Flüchtlingsfrage eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Bundes-
republik Deutschland erkennen, die im konkreten Fall den Einsatz des
BfV rechtfertigt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/10302
9. Inwiefern sind der Bundesregierung grundsätzlich konkrete Aktivitäten aus-
ländischer Nachrichtendienste im Zusammenhang mit Geflüchteten bekannt
(Handreichung BfV, S. 29 ff.)?
a) Geheimdienste welcher Länder spielen dabei eine Rolle, und inwiefern ist

deren diesbezügliche Tätigkeit in Deutschland mit der Bundesregierung
abgestimmt?

b) Sind entsprechende Aktivitäten des syrischen, türkischen oder iranischen
Geheimdienstes bekannt (wenn ja, bitte beschreiben)?

c) Welche ausländischen Geheimdienste werden als Partner und welche als
Bedrohung eingeordnet?

10. Welche Maßnahmen trifft das BfV konkret, um das Ausspähen regimekriti-
scher Flüchtlinge durch Geheimdienste aus den Herkunftsländern zu unter-
binden (Handreichung BfV, S. 30 ff.)?
a) Erstreckt sich der Schutz der Geflüchteten dabei nur auf Geheimdienste

der Herkunftsländer oder auch auf andere fremde Geheimdienste (wenn
ja, bitte aufschlüsseln auf welche und auf welche explizit nicht)?

b) Inwieweit wird das Schutzinteresse regimekritischer Flüchtlinge gegen
das Interesse am Informationsaustausch mit anderen Geheimdiensten,
z. B. dem türkischen, abgewogen?

c) Inwieweit nutzen die Behörden in Deutschland die durch Ausspähung von
Geflüchteten in Deutschland durch fremde Geheimdienste gewonnene
Daten?
Wie vereint sich dies mit der in der Handreichung des BfV (S. 30) be-
nannten „Gewährleistung eines wirksamen Schutzes von Flüchtlingen ge-
gen Aktivitäten der Geheimdienste aus den jeweiligen Herkunftslän-
dern“?

Berlin, den 8. November 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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