BT-Drucksache 17/9744

Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans

Vom 23. Mai 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9744
17. Wahlperiode 23. 05. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, Dr. Rolf Mützenich,
Heinz-Joachim Barchmann, Edelgard Bulmahn, Petra Ernstberger, Dagmar
Freitag, Iris Gleicke, Günter Gloser, Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Hans-Ulrich
Klose, Ute Kumpf, Thomas Oppermann, Johannes Pflug, Michael Roth (Heringen),
Werner Schieder (Weiden), Dr. Martin Schwanholz, Peer Steinbrück, Franz
Thönnes, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der
Fraktion der SPD

Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen
Balkans

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu einer transparenten und glaubwürdi-
gen EU-Erweiterungspolitik. Dazu gehört insbesondere eine vonseiten der EU
weiterhin ernst gemeinte europäische Perspektive der Westbalkanstaaten und
eine glaubwürdige Unterstützung dieser Staaten auf ihrem Weg in die EU. Der
Deutsche Bundestag hält am Versprechen des Europäischen Rates von Thessa-
loniki 2003 fest.

Gerade die EU-Beitrittsperspektive hat in den Ländern des westlichen Balkans
eine positive Dynamik in Gang gesetzt, die nicht gebremst werden darf sondern
weiter verstärkt werden muss. Ohne die EU-Beitrittsperspektive wären viele Re-
formprozesse in Schlüsselbereichen wie Rechtsstaatlichkeit und Justiz oder
auch Prozesse der Aussöhnung zwischen den ehemals verfeindeten exjugosla-
wischen Ländern nur schwer vorangekommen. Gleichzeitig muss festgestellt
werden, dass die Länder des westlichen Balkans auf ihrem Weg der Annäherung
an die EU und deren Werte unterschiedlich weit fortgeschritten sind.

Kroatien wird nach der ausstehenden Ratifizierung des Beitrittsvertrages durch
alle EU-Mitgliedstaaten und der Erfüllung aller Bedingungen voraussichtlich im
Juli 2013 der EU beitreten können. Dies ist ein positives Signal für die gesamte
Region. Der Deutsche Bundestag widerspricht der Ansicht, dass es nach dem
Beitritt Kroatiens keine weiteren EU-Erweiterungen geben dürfe. Gerade das
Beispiel Kroatiens zeigt deutlich die positive Dynamik, die sich durch eine eu-
ropäische Perspektive und den Beitrittsprozess entfalten kann.
Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem Sinne ausdrücklich die Verleihung
des Beitrittskandidatenstatus an Serbien durch den Europäischen Rat vom
1./2. März 2012. Für die proeuropäischen Reformkräfte in Serbien war dieser
Schritt von großer Bedeutung. Grundlage dafür waren Serbiens Reform-
fortschritte, die Auslieferung von Kriegsverbrechern an das UN-Tribunal in Den
Haag und vor allem auch Fortschritte im Dialogprozess zwischen Serbien und

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dem Kosovo. Die mutige Politik von Präsident Boris Tadic´ und seiner Regierung
hat Serbien näher an die EU gebracht. Um ein Datum für die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen zu erhalten, sind weitere Fortschritte insbesondere im
Verhältnis zum Kosovo unabdingbar. Der Bundestag geht davon aus, dass die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit Serbien weitere dringend nö-
tige Reform- und Dialogprozesse in Gang setzen und positive Entwicklungen
verstärken wird.

Der Deutsche Bundestag spricht sich für die Eröffnung der Beitrittsverhandlun-
gen mit Montenegro aus. Montenegro muss jedoch weiterhin auf Fortschritte in
den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte mit einem Fokus auf die
Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität hinarbeiten. Die
Freiheit und Unabhängigkeit der Medien muss verbessert werden. Montenegro
darf in seinen Reformanstrengungen nicht nachlassen.

Der Deutsche Bundestag bedauert ausdrücklich, dass die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen zwischen der EU und Mazedonien aufgrund des ungelösten
Namensstreits mit Griechenland nach wie vor nicht möglich ist. Gleiches gilt für
den NATO-Beitritt. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung bereits
2004 aufgefordert, sich innerhalb der EU für die Anerkennung des verfassungs-
mäßigen Namens Republik Mazedonien einzusetzen. In seinem Urteil vom
5. Dezember 2011 hat der Internationale Gerichtshof festgestellt, dass Griechen-
land mit seiner Blockadehaltung im Namensstreit gegen vertragliche Verpflich-
tungen verstößt. Die Stagnation im Beitrittsverfahren blockiert die bislang
positive Entwicklung des Landes. Die in jüngster Zeit erkennbaren destabilisie-
renden Tendenzen müssen leider auch in diesem Kontext gesehen werden.
Gleichwohl darf der Namensstreit nicht dazu führen, dass Probleme wie auto-
kratische Tendenzen in der Regierung, Einschränkungen der Medienfreiheit und
die besorgniserregende Zunahme ethnischer Spannungen außer Acht bleiben.

Der Deutsche Bundestag sieht mit großer Sorge auf die Unfähigkeit einer Mehr-
heit der politischen Eliten in Bosnien und Herzegowina, ihre jeweiligen Ein-
zelinteressen dem Wohl des Landes unterzuordnen. Es müssen dringend Ver-
fassungsreformen umgesetzt werden, um die nun schon jahrelang währenden
politischen Selbstblockaden des Landes zu überwinden. Anstelle der dringend
notwendigen Reformpolitik stehen jedoch allzu oft nationalistische Partikular-
interessen im Vordergrund, was die Bemühungen, den Anforderungen zum
Inkrafttreten des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der EU
gerecht zu werden, deutlich erschwert. Bosnien und Herzegowina muss sich
darüber hinaus intensiv auf den EU-Beitritt Kroatiens vorbereiten, insbesondere
um die engen Handelsbeziehungen aufrechterhalten zu können.

Derzeit wird in der EU über eine Verkleinerung sowie Verlagerung des Büros
des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina (OHR) ins Ausland
debattiert. Der Deutsche Bundestag lehnt jede Schwächung der Arbeitsmöglich-
keiten des OHR ab. Solange die fünf Ziele und zwei Bedingungen (5+2) zur
Schließung des OHR nicht erfüllt bzw. erreicht sind, darf sich die internationale
Gemeinschaft und hier insbesondere die EU nicht aus der Verantwortung ziehen.
Die Bonn Powers des Hohen Repräsentanten sind nach wie vor unerlässlich für
die Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität von Bosnien und Herzegowina
und dürfen daher nicht ausgehöhlt werden. Der Sonderbeauftragte der EU be-
gleitet und unterstützt Bosnien und Herzegowina bei Reformprozessen und
nimmt eine wichtige Brückenfunktion zur Europäischen Union wahr. Solange er
jedoch keine dem OHR vergleichbaren Rechte besitzt und solange die fünf Ziele
und zwei Bedingungen nicht erfüllt sind, ist der EU-Sonderbeauftragte keine
ausreichende Alternative zum OHR.

In Albanien zeichnet sich nach dem politischen Stillstand der letzten Jahre Be-

wegung ab. Das Streben nach dem EU-Kandidatenstatus ist gesellschaftlicher
Konsens und gemeinsamer politischer Wille von Regierung und Opposition. Es

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ist ein Ansporn für ein ehrgeiziges Reformprogramm, das erste Früchte trägt,
etwa im Bereich der Bekämpfung von organisierter Kriminalität sowie im Be-
reich Medienfreiheit und -vielfalt. Die konstruktive Rolle Albaniens in seinen
Beziehungen mit den Nachbarstaaten hat einen wichtigen Beitrag zur Zusam-
menarbeit und Stabilität in der Region geleistet. Dennoch sind weitere substan-
zielle Reformen unabdingbar, für deren Realisierung der Anreiz von Fortschritten
im EU-Beitrittsprozess nach wie vor erforderlich ist. Handlungsbedarf besteht
vor allem im Bereich Rechtsstaatlichkeit und in der Entwicklung einer demokra-
tischen Kultur. Es gelingt dem Land außerdem nicht, den Menschenhandel über
– hier sind Fortschritte erkennbar – bzw. aus Albanien selbst zurückzudrängen.
Auch muss die albanische Regierung künftig „großalbanischen“ Bestrebungen
im eigenen Land und in der Region noch entschiedener entgegentreten.

Das Kosovo muss eine Vielzahl von Reformen durchführen, darunter auch Ver-
fassungs- und Wahlreformen. Rechtsstaatlichkeit und Justiz müssen gestärkt
werden. Die konstruktive Zusammenarbeit des Kosovo mit der Rechtsstaatlich-
keitsmission EULEX ist dafür von zentraler Bedeutung. Die ethnischen Span-
nungen zwischen albanischer und serbischer Bevölkerung vor allem im Nord-
kosovo, die auch in jüngerer Vergangenheit immer wieder in Gewaltakten gip-
felten, lähmen positive Entwicklungen in erheblichem Umfang.

Da nicht alle EU-Mitgliedstaaten das Kosovo anerkannt haben, kann die Euro-
päische Union weiterhin keine vertraglichen Beziehungen mit dem Land ein-
gehen. Umso wichtiger ist die Einbeziehung des Kosovos in regionale Koopera-
tionsstrukturen. Ein großer Fortschritt in den EU-Kosovo-Beziehungen ist der
Beginn des Visadialogs. Somit hat das Kosovo nun als letztes Land der Region
ebenfalls die Möglichkeit, an den Voraussetzungen für die Reisefreiheit seiner
Bürger zu arbeiten. Ein weiterer wichtiger Schritt bleibt die Mitgliedschaft des
Kosovo in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.

Der seit Juli 2011 wieder verschärfte Grenzkonflikt zwischen dem Kosovo und
Serbien zeigt deutlich, wie fortbestehende bilaterale Konflikte Instabilität in die
Region bringen. Auch nach den Fortschritten im Dialogprozess im Vorfeld des
Europäischen Rates vom 1./2. März 2012 hinsichtlich der gemeinsamen Grenz-
verwaltung und der Möglichkeit des Kosovo zum regionalen Auftreten bleiben
die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo und vor allem die Situation
im Norden des Kosovo angespannt. Die Konfliktparteien sowie die EU sind auf-
gerufen, am Dialogprozess festzuhalten und auf tragfähige Lösungen hinzu-
arbeiten.

Die gesamte Region des westlichen Balkans hat eine Reihe von Herausforderun-
gen zu bewältigen: Bilaterale und ethnische Konflikte, Nationalismus, Korrup-
tion und Kriminalität, große wirtschaftliche und soziale Probleme stellen Hin-
dernisse auf dem Weg der europäischen Integration dar.

Die Beilegung regionaler Konflikte und die Anerkennung bestehender Grenzen
müssen Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sein. Latenter und offener Hass
zwischen verschiedenen Ethnien und die Gefahr der Destabilisierung durch na-
tionalistische, antieuropäische Kräfte sind im westlichen Balkan noch keines-
wegs gebannt. Besonders problematisch ist, dass ethnisch motivierter Hass und
Nationalismus, die dem europäischen Gedanken zuwiderlaufen, immer aufs
Neue reproduziert werden.

Neben politischen Herausforderungen hat der westliche Balkan große wirt-
schaftliche und soziale Probleme zu bewältigen, die den Alltag der Menschen
vor Ort prägen. Die Region leidet besonders stark unter der seit Jahren andau-
ernden Finanz- und Wirtschaftskrise und bleibt in sozioökonomischer Hinsicht
weit hinter dem EU-Durchschnitt zurück. Um diesen Rückstand abzubauen und
zukünftig dem Druck europäischer und globaler Märkte standhalten zu können,

sind stabiles Wachstum und Investitionen dringend nötig. Neben akuter Hilfe

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sind vor allem stabile Rahmenbedingungen und eine klare Beitrittsperspektive
notwendig, um Reformen zu beschleunigen und internationalen Investoren klare
Perspektiven für ihr Engagement zu bieten. Die Verlängerung der Handelspräfe-
renzen für den westlichen Balkan bis 2015 durch die EU ist ein wichtiger Faktor
für die wirtschaftliche Situation der Region, reicht aber nicht aus. Soziale Fak-
toren dürfen in der Debatte um wirtschaftlichen Aufschwung für die Länder des
westlichen Balkans keinesfalls vernachlässigt werden. Die Region hat mit zum
Teil extrem hohen Arbeitslosenzahlen zu kämpfen, insbesondere die Jugend-
arbeitslosigkeit stellt ein großes Problem dar. Das hohe Armutsniveau und man-
gelnde soziale Sicherung auf dem westlichen Balkan können für Europa nicht
hinnehmbar sein. Soziale und ökonomische Perspektivlosigkeit gerade vieler
junger Menschen birgt die Gefahr gefährlicher Spannungen. Innergesellschaft-
liche Spannungen können sich wiederum rasch in innere oder auch grenzüber-
schreitende Konflikte auswachsen. Die soziale Frage muss deshalb entschiede-
ner angegangen werden.

Als positive Trends sind in der Region beispielsweise das verbesserte Verhältnis
zwischen Kroatien und Serbien oder die Auslieferung der Kriegsverbrecher
Radovan Karadz¬ic´, Ratko Mladic´ und Goran Hadz¬ic´ durch Serbien zu nennen.
Der Aussöhnungsprozess macht Fortschritte, muss aber weiter betrieben wer-
den. Die mutige Aussöhnungspolitik der Präsidenten von Kroatien und Serbien
Ivo Josipovic´ und Boris Tadic´ ist ein beispielgebendes und hoffnungsvolles
Signal. Die Region gewinnt auch durch wiedererstarkende wirtschaftliche Ko-
operationen wie beispielsweise den Zusammenschluss von Eisenbahnunterneh-
men und im Zusammenhang damit auch die enge Kooperation von Eisenbahn-
gewerkschaften mehrerer Länder.

Als Nachfolger des Stabilitätspaktes für Südosteuropa ist der Regionale Koope-
rationsrat (RKR) ein wichtiges Instrument der Förderung regionaler Koopera-
tion in Bereichen wie parlamentarische Zusammenarbeit, Wirtschaft, Infrastruk-
tur, Energie, Justiz, Sicherheit und Bildung. Es muss sichergestellt werden, dass
der RKR auf einer seinen Aufgaben angemessenen und stabilen finanziellen
Grundlage steht. Dazu muss auch Deutschland entsprechend beitragen.

Die bereits mehrfach gegebenen Zusagen der „europäischen Perspektive“ haben
in den Ländern des westlichen Balkans starke, insgesamt positive Veränderungen
ausgelöst. Die EU ist in den Westbalkanstaaten zu einem der wichtigsten innen-
politischen Faktoren geworden, denn fast alle politischen Kräfte definieren sich
über ihre Haltung zur EU-Integration. Die EU hat damit Mitverantwortung für
die demokratische Entwicklung und politische Stabilität in der Region übernom-
men. Ein Rückzug aus dieser Verantwortung wäre gerade für die proeuropäi-
schen politischen Kräfte in der Region fatal. Wenn die europäische Perspektive
an Glaubwürdigkeit verliert, bei den Menschen nicht mehr ankommt oder in un-
erreichbare Ferne rückt, kann dies gerade in Staaten, die auf dem Weg in die EU
weiter zurückliegen als andere, dazu beitragen, dass antimoderne, antieuropäi-
sche und nationalistische Kräfte erstarken, welche die bislang erreichten und
noch längst nicht abgesicherten Resultate der Demokratisierung und rechtsstaat-
lichen Entwicklung gefährden würden.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union setzt die strikte Erfüllung der
Kopenhagener Kriterien voraus. Dies gilt auch für die Länder des westlichen
Balkans. Die Beitrittskriterien dürfen nicht aufgeweicht werden. Die Erfüllung
klar definierter Kriterien und harte Verhandlungen sind selbstverständlich.
Gleichzeitig hat jedes beitrittswillige Land das Recht auf faire Verhandlungen.
Der Erfüllung von Anfang an klar definierten Bedingungen müssen im Sinne der
Glaubwürdigkeit der EU auch klar definierte Fortschritte im Beitrittsprozess
folgen. Dazu müssen zukünftige Beitrittsverfahren so gestaltet werden, dass

auch bei längerer Verhandlungsdauer durch das Erreichen von Meilensteinen
Erfolgserlebnisse möglich werden, um so einen fortwährenden Reformwillen zu

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9744

erhalten. Besonders hoher Wert muss in den Staaten des westlichen Balkans auf
die politisch-rechtlichen Kriterien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Un-
abhängigkeit der Justiz, Wahrung der Menschenrechte und Schutz von Minder-
heiten gelegt werden. Auch die Einhaltung der Pressefreiheit muss gewährleistet
werden. Die künftige Herangehensweise der EU-Kommission, in Beitrittsver-
handlungen die Verhandlungskapitel 23 und 24 zuerst zu eröffnen und zuletzt zu
schließen, ist deshalb eine wichtige Neuerung. Grundlagen für politische und
gesellschaftliche Reformen sollten möglichst frühzeitig geschaffen werden. Der
Deutsche Bundestag spricht sich daher dafür aus, dass bereits mit Staaten, die
einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt haben sowie mit Kandidatenlän-
dern ohne laufende Verhandlungen über das Kapitel 23 „Judikative und Grund-
rechte“ vorverhandelt wird. Gerade dieses Verhandlungskapitel eröffnet die
Chance auf grundlegende Reformen, spürbare Fortschritte für die Zivilgesell-
schaften und eine zügige und erfolgreiche Integration in die EU. Ein strenges
Monitoring der Implementierung von Reformen soll in Beitrittsverhandlungen
nicht als zusätzliche Hürde verstanden werden, sondern sicherstellen, dass ein
Land erst dann Mitglied wird, wenn es auch in der Praxis alle Kriterien für einen
EU-Beitritt nachvollziehbar erfüllt hat.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt

1. das Bekenntnis der dänischen EU-Ratspräsidentschaft zu einer glaubwürdi-
gen EU-Erweiterungspolitik;

2. das neue Verfahren der EU-Kommission, in zukünftigen Beitrittsverhandlun-
gen die Behandlung der Bereiche Justiz und Grundrechte sowie Justiz und
Inneres zu einem möglichst frühen Zeitpunkt aufzunehmen und die entspre-
chenden Kapitel zeitgleich auf der Grundlage von Aktionsplänen zu eröff-
nen;

3. den Zwischenbericht der EU-Kommission vom 24. April 2012 zum Beitritt
Kroatiens zur EU als eine Bestätigung der erfolgreichen Reformen, die in die-
sem Land durch den Beitrittsprozess auf den Weg gebracht werden konnten;

4. die Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 29. März 2012 zu
Serbien, Montenegro und dem Kosovo;

5. die Absicht der Europäischen Kommission, eine Machbarkeitsstudie für den
Abschluss eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit dem
Kosovo zu erstellen;

6. die Aufnahme des Visadialogs zwischen der EU und dem Kosovo.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Zusage des EU-Gipfels von Thessaloniki aus dem Jahr 2003, wonach alle
Länder des westlichen Balkans die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft ha-
ben, im Sinne einer glaubwürdigen EU-Erweiterungspolitik ausdrücklich zu
bekräftigen und einzuhalten;

2. die Staaten des westlichen Balkans dazu zu ermutigen und dabei zu unterstüt-
zen, im eigenen Interesse und im Interesse der EU im Bemühen um Reformen
und die Annäherung an die EU nicht nachzulassen;

3. sich dafür einzusetzen, dass die EU künftig über den Besitzstand des Kapi-
tels 23 „Judikative und Grundrechte“ bereits vor dem Beginn offizieller Bei-
trittsverhandlungen mit Kandidatenländern ohne laufende Verhandlungen
und Ländern, die einen Antrag auf Beitritt zur EU gestellt haben, zielgerich-
tete Vorverhandlungen führt, um so schon frühzeitig bessere Rahmenbedin-

gungen für Reformen und für einen erfolgreichen Beitrittsprozess zu schaf-
fen;

Drucksache 17/9744 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. die politische, wirtschaftliche und soziale Stabilisierung der Länder des
westlichen Balkans mit Nachdruck zu unterstützen und dafür ausreichende
Mittel zur Verfügung zu stellen;

5. den Auf- und Ausbau tragfähiger zivilgesellschaftlicher Strukturen in der
Region zu unterstützen;

6. sich für eine zügige Ratifizierung des EU-Beitrittsvertrags mit Kroatien in
allen EU-Mitgliedstaaten einzusetzen;

7. Serbien bei weiteren Reformbemühungen zu unterstützen, um die baldige
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu ermöglichen;

8. sich dafür einzusetzen, dass die Beitrittsverhandlungen mit Montenegro
umgehend eröffnet werden, wenn dort alle dazu notwendigen Vorbedingun-
gen nachprüfbar erfüllt sind;

9. die guten Beziehungen zu den EU-Mitgliedstaaten, die das Kosovo noch
nicht anerkannt haben, zu nutzen, um auf eine Anerkennung des Kosovo
durch alle EU-Mitgliedstaaten hinzuwirken;

10. sich in der EU für vertragliche Beziehungen mit dem Kosovo oder vertrags-
vorbereitende Maßnahmen und den strukturierten Dialog über Rechtsstaat-
lichkeit, Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption einzu-
setzen;

11. sich für die Mitgliedschaft des Kosovo in der Europäischen Bank für Wie-
deraufbau und Entwicklung einzusetzen;

12. im Zusammenhang mit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes vom
5. Dezember 2011 zu prüfen, inwieweit verbesserte Bedingungen für Maze-
doniens Integration in NATO und EU vorliegen sowie darauf hinzuwirken,
dass Griechenland seinen vertraglichen Verpflichtungen Mazedonien ge-
genüber entspricht und von den Mitgliedstaaten aufgefordert wird, seine
Vetohaltung in den Beitrittsverhandlungen aufzugeben;

13. die Arbeitsfähigkeit des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herze-
gowina bis zur Erfüllung der 5+2-Kriterien zu erhalten, seine Position zu
stärken und sein Büro in Bosnien und Herzegowina zu erhalten.

Berlin, den 23. Mai 2012

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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