BT-Drucksache 17/9455

Kooperationsverträge der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen und die Bindungswirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention bei Einsätzen und Kooperationen

Vom 26. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9455
17. Wahlperiode 26. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Heidrun Dittrich,
Andrej Hunko, Stefan Liebich, Niema Movassat, Frank Tempel,
Alexander Ulrich, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Kooperationsverträge der Europäischen Agentur für die operative
Zusammenarbeit an den Außengrenzen und die Bindungswirkung der
Europäischen Menschenrechtskonvention bei Einsätzen und Kooperationen

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengren-
zen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (FRONTEX) schließt vermehrt
Kooperationsabkommen mit Behörden von Staaten außerhalb der EU. Mit diesen
Kooperationsabkommen werden unterschiedliche Ziele verknüpft: Abschiebun-
gen, der Erfahrungsaustausch über Fragen der Migrations- und Grenzkontrolle
und der Zugang zu Informationen über mögliche Migrationsbewegungen aus den
Kooperationsstaaten sollen erleichtert werden.

Die Kooperationsabkommen sind ein wichtiger Baustein im so genannten
4- Säulen-Modell der Migrationskontrolle der EU: Nach diesem wesentlich von
FRONTEX entwickelten Modell bezieht sich die Arbeit der Grenzbehörden auf
den rückwärtigen Raum hinter den Grenzen innerhalb der EU, auf die Grenzen
selbst, auf den unmittelbaren Grenzvorraum und auf die Herkunfts- und Transit-
staaten irregulärer Migration. Da Migrantinnen und Migranten bei ihrer Ankunft
an den EU-Außengrenzen ein Recht auf Einreise zur Prüfung ihres Asylgesuchs
haben, wenn sie einen Antrag auf internationalen Schutz (Asyl) stellen, erscheint
es aus Sicht der Grenzbehörden und FRONTEX rational, Migrantinnen und
Migranten schon in den Hauptherkunfts- und Transitstaaten auszumachen und
sie dort oder im Grenzvorraum von einer Einreise in die Europäische Union ab-
zuhalten. Um diese Migrationsbewegung rechtzeitig erfassen und entsprechend
reagieren zu können, soll in diesem Jahr ein neues System zur Überwachung der
Außengrenzen der EU, das Europäische Grenzkontrollsystem EUROSUR, auf
den Weg gebracht werden. Auch hier wird Kooperation mit Nachbarstaaten der
EU gesucht, deren Erkenntnisse in die Erstellung der Lagebilder des Grenzvor-
raums einfließen sollen.

Die in den vergangenen Jahren vorgenommenen „push back“-Operationen im
Mittelmeer, in erster Linie durch Schiffe unter italienischer Hoheit, haben in
der Öffentlichkeit zu deutlicher Kritik geführt. In einer Entscheidung des Euro-

päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (Hirsi et al. vs. Italien) hat
dieser klargestellt, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (als Unter-
zeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK) bzw.
ihre Beamtinnen und Beamte oder von ihnen beauftragte Personen immer an
die Verpflichtungen der EMRK gebunden sind – ob sie auf eigenem Territo-
rium oder außerhalb davon handeln. Nicht ihr Aufenthaltsort ist ausschlag-
gebend, sondern die Frage, inwiefern sie durch ihr Handeln faktisch Kontrolle

Drucksache 17/9455 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

über eine Person ausüben. Im Falle der Flüchtlinge, die auf Hoher See von der
italienischen Marine abgefangen und nach Libyen zurückgeschickt worden
waren, übte die Marine faktisch Hoheitsgewalt aus, ohne sich auf eigenem Terri-
torium zu befinden. Menschenrechtsorganisationen gehen daher davon aus, dass
mit diesem Urteil jede Praxis der Zurückweisung von potentiell Schutzsuchen-
den durch Vertreter staatlicher Behörden der EU-Staaten nicht zulässig ist. Dies
wird Konsequenzen für die strategische Ausrichtung von FRONTEX haben,
deren Inhalt genau die Unterbindung von Einreisen in das EU-Territorium ist.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Reichweite und Auswirkungen hat das zitierte Urteil des EGMR
nach Ansicht der Bundesregierung für Operationen unter Leitung von
FRONTEX und des jeweiligen Einsatzstaates?

2. Welche Interpretation des Urteils Hirsi et. al. vs. Italien hat die Bundes-
regierung an FRONTEX übermittelt, wie dies von der FRONTEX-Vertrete-
rin bei der Tagung des Strategischen Ausschusses Einwanderung, Grenzen
und Asyl (SCIFA) am 16. April 2012 erbeten worden war?

3. Teilt die Bundesregierung die von der Europäischen Kommission bei der ge-
nannten SCIFA-Sitzung geäußerte Einschätzung, dass in Folge des Urteils
aufgegriffene Personen in jedem Fall darüber zu informieren sind, wohin sie
verbracht werden, und dass das Refoulement-Verbot in jedem Fall auch
außerhalb der EU beachtet werden muss?

4. Welche Rückschlüsse für die eigene Tätigkeit hat FRONTEX nach Kenntnis
der Bundesregierung mittlerweile selbst aus dem Hirsi-Urteil gezogen?

5. Welche Fortschritte hat FRONTEX bei der Erstellung und Umsetzung der in
Artikel 26a der FRONTEX-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 1168/2011)
vorgesehenen Grundrechtestrategie im Einzelnen erzielt, und welche Rolle
spielt insbesondere das non-refoulement-Gebot bei der Erstellung der Grund-
rechtestrategie und des Verhaltenskodex für Teilnehmende an FRONTEX-
Operationen?

6. Wie ist der Stand bei der Einsetzung eines Grundrechtebeauftragten bei
FRONTEX, und warum ist die Einsetzung ggf. bislang nicht erfolgt?

7. Ist der Bundesregierung bekannt, inwieweit in den Einsatzplänen für FRON-
TEX-Einsätze in Zukunft die in der Vorbemerkung genannte Rechtspre-
chung konkret Berücksichtigung findet, nachdem bislang insbesondere das
non-refoulement-Gebot nur sehr allgemein in der Einsatzrichtlinie erwähnt
wurde?

8. Wie wurde bislang in den jeweiligen Einsatzplänen von FRONTEX-Missio-
nen, auch solchen, an denen Bundesbedienstete beteiligt waren, eine Kon-
kretisierung der so genannten FRONTEX-Leitlinien zur Beachtung des
refoulement-Verbots vorgenommen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/847,
Antwort zu Frage 4)? Insbesondere zu den Punkten:

a) Werden Personen, die Gründe gegen eine Zurückweisung geltend
machen, automatisch zur genaueren Prüfung in die EU verbracht bzw.
unter welchen Bedingungen, und auf welcher Grundlage und nach wel-
chen Maßstäben wird ein solches Gesuch unter Umständen als „unbe-
achtlich“ gewertet?

b) Wie wird in diesem Zusammenhang mit dem Problem einer schwierigen
oder unmöglichen sprachlichen Verständigung umgegangen, d. h. wie be-
urteilen Einsatzkräfte, ob ein Schutzgesuch vorliegt, wenn eine sprachli-
che Verständigung mit den aufgegriffenen irregulären Migrantinnen und

Migranten nicht oder nur schwer möglich ist, insbesondere auf Hoher
See, wo eine Sprachmittlung noch schwieriger zu organisieren ist?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9455

9. Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem genannten Urteil des EGMR
nach Ansicht der Bundesregierung für den Einsatz von Bediensteten aus
Mitgliedstaaten der EU, die im Rahmen von bilateralen Abkommen auf
Schiffen afrikanischer Staaten in deren Küstengewässern mitverantwort-
lich dafür zeichnen, dass Boote mit irregulären Migrantinnen und Migran-
ten an der Abfahrt in Richtung EU-Hoheitsgewässer gehindert werden?

Werden diese in Zukunft zu prüfen haben, ob sich unter den Migrantinnen
und Migranten auch Schutzsuchende befinden?

10. Werden Bundespolizisten weiterhin an Einsätzen von FRONTEX teilneh-
men, solange die Verpflichtung auf effektiven Zugang zur Prüfung des in-
ternationalen Schutzbedarfs nicht für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer
dieser Einsätze klargestellt sind?

11. Welche Anweisungen und Vorgaben hat die Bundesregierung an Bundes-
beamtinnen und -beamte, die im Rahmen von FRONTEX eingesetzt wer-
den oder eingesetzt werden könnten, infolge des Hirsi-Urteils des EGMR
gemacht?

12. Was wird in den Schulungen der Bundesbeamtinnen und -beamten, die im
Rahmen von FRONTEX eingesetzt werden oder eingesetzt werden könn-
ten, zur Bedeutung und den Auswirkungen der Hirsi-Entscheidung des
EGMR gelehrt?

13. Mit welchen Staaten oder multilateralen Netzwerken oder sonstigen Akteu-
ren hat die Agentur FRONTEX mittlerweile Kooperationsabkommen ge-
schlossen, und

a) welche dieser Abkommen sehen den Austausch von Informationen (auf
einer gemeinsamen standardisierten Basis) vor,

b) welche dieser Abkommen sehen den Austausch von administrativem
und technischem Know-how und/oder Zugang zu Technologien aus der
EU für die Kooperationsstaaten vor,

c) welche dieser Abkommen sehen die Anwendung gemeinsamer Stan-
dards bei der Ausbildung und ggf. Ausbildungshilfe für Grenzschutzbe-
dienstete der Drittstaaten vor,

d) welche dieser Abkommen sehen den Austausch von Verbindungsbeam-
ten vor, und in welchen Drittstaaten befinden sich derzeit solche Verbin-
dungsbeamten von FRONTEX bzw. steht deren Einsatz in naher Zu-
kunft bevor,

e) welche dieser Abkommen sehen Maßnahmen zur effizienteren Durch-
führung von Rückführungsmaßnahmen (Abschiebungen) in die Dritt-
staaten vor,

f) welche dieser Abkommen sehen die Durchführung von Pilotprojekten
vor, und um welche Pilotprojekte handelt bzw. handelte es sich dabei,

g) welche dieser Abkommen sehen die Durchführung gemeinsamer Opera-
tionen vor, und welche dieser gemeinsamen Operationen haben bereits
stattgefunden bzw. sind bereits vereinbart,

h) und gibt es darüber hinaus Abkommen, die ohne genaue inhaltliche Be-
stimmung einem gemeinsamen Willen zur Kooperation Ausdruck ver-
leihen wollen?

14. Welche Drittstaaten waren bislang in FRONTEX-Operationen (joint opera-
tions) durch bilaterale Vereinbarungen mit einem der EU-Staaten einbezo-
gen, und um welche Operationen handelte es sich dabei?

Drucksache 17/9455 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
15. Welche Operationen sind nach Kenntnis der Bundesregierung in Planung,
bei denen vorgesehen ist, Drittstaaten über bestehende Kooperationen mit
einem EU-Mitgliedstaat einzubeziehen?

16. Welche Behörden von Drittstaaten haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung im Jahr 2011 an gemeinsamen Operationen von FRONTEX teilge-
nommen (bitte nach den Operationen auflisten)?

17. In welche Drittstaaten sind nach Kenntnis der Bundesregierung bereits
FRONTEX-Verbindungsbeamte auf Grundlage der neuen FRONTEX-Ver-
ordnung entsandt worden bzw. ist eine solche Entsendung geplant?

18. Für welche Drittstaaten ist nach Kenntnis der Bundesregierung geplant,
dass diese eigene Verbindungsbeamte zu FRONTEX entsenden?

19. Für welche Drittstaaten, EU-Agenturen und Einrichtungen oder internatio-
nalen Organisationen ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Teil-
nahme von Beobachtern an den Operationen der Europäischen Grenz-
schutzteams, der Risikoanalyse oder der Ausbildung bei FRONTEX avi-
siert oder wird bereits durchgeführt?

20. Ist der Bundesregierung mittlerweile bekannt, was das Erfordernis der Ein-
haltung von „Mindestmenschenrechtsstandards“ durch die Grenzbehörden
von Drittstaaten (Artikel 14 Absatz 3 der FRONTEX-Verordnung), mit
denen FRONTEX in Kooperation zu treten beabsichtigt, inhaltlich genau
bedeutet und was unter „Mindestmenschenrechtsstandards“ in Abgrenzung
zu „Menschenrechtsstandards“ genau zu verstehen ist, und was versteht sie
hierunter?

21. Für wie sinnvoll und verantwortbar hält die Bundesregierung angesichts
zehntausender Toter an den EU-Außengrenzen als „Preis der Abschottung“
den Versuch der EU, sich vor unerwünschter Migration abzuschotten –
hierfür steht symbolisch und institutionell FRONTEX –, wenn selbst der
für die operative Arbeit von FRONTEX zuständige Direktor K. R. im In-
terview mit der „taz“ vom 8. Juni 2011 einräumt, dass er „als Grenzschutz-
koordinator die Migration, die es in der Menschheitsgeschichte immer ge-
geben hat, nicht stoppen kann“, und welche Überlegungen gibt es in der
EU oder bei der Bundesregierung für ein grundlegende andere Politik?

Berlin, den 26. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.