BT-Drucksache 17/9297

Tatsächliche Ausgestaltung des ungarischen Asylsystems

Vom 5. April 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9297
17. Wahlperiode 05. 04. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Jan van Aken, Annette Groth,
Inge Höger, Andrej Hunko, Niema Movassat, Kathrin Vogler, Jörn Wunderlich und
der Fraktion DIE LINKE.

Tatsächliche Ausgestaltung des ungarischen Asylsystems

Der Fall von vier syrischen Asylsuchenden, die im Februar dieses Jahres im
Rahmen der Zuständigkeitsregelungen für das Asylverfahren nach der Dublin-
Verordnung von Deutschland nach Ungarn überstellt wurden, hat die Aufmerk-
samkeit der deutschen Öffentlichkeit für das ungarische Asylsystem geweckt.
Der Protest gegen die Überstellung der Asylsuchenden entzündete sich an In-
formationen, nach denen Ungarn Syrien als sicheren Herkunftsstaat ansehe.
Den vier Asylsuchenden hätte somit die Abschiebung nach Syrien gedroht.
Nach Angaben der Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage
der Fraktion DIE LINKE. hat die zuständige Behörde in Ungarn ihre Haltung
revidiert (Bundestagsdrucksache 17/8836, Frage 6). Die Bundesregierung stellt
in ihrer Antwort ausführlich die rechtliche Ausgestaltung des Asylsystems dar,
kann aber leider die Frage nicht beantworten, wie die rechtlichen Grundlagen
konkret umgesetzt werden.

Die Lage des ungarischen Asylsystems ist nicht mit der des griechischen Asyl-
systems zu vergleichen, wie schon die gänzlich unterschiedlichen Asyl-
zugangszahlen zeigen. Von einer Überlastung des Asylsystems in Ungarn kann
keine Rede sein. Dennoch zeigen Berichte von Menschenrechtsorganisationen,
dass es erhebliche Defizite gibt, die fraglich machen, ob es sich bei Ungarn um
einen EU-Mitgliedstaat handelt, in den ohne weitere Prüfung im Einzelfall
Überstellungen vorgenommen werden können. Der Recherchebericht „Ungarn:
Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit“, herausgegeben von border-
monitoring.eu e. V., zeigt zahlreiche Missstände des ungarischen Asylsystems.
Positiv festgehalten wird, dass die Anerkennungsquoten vergleichsweise hoch
sind; doch auch die sozialen Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge
seien äußerst schlecht (drohende Obdachlosigkeit und mangelnde Integrations-
möglichkeiten).

Besonders problematisch sei, dass eine Mehrheit der Asylsuchenden und nach
der Dublin-Verordnung Überstellten ihr Asylverfahren aus der Haft heraus be-
treiben müssen, weil sie zunächst wegen illegaler Einreise in Abschiebehaft ge-
nommen und trotz einer Asylantragstellung nicht entlassen werden. Dies be-

treffe auch besonders Schutzbedürftige, etwa psychisch kranke und traumati-
sierte Flüchtlinge, Schwangere, ältere und kranke Menschen. Inhaftierte berich-
teten davon, dass ihnen systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel
verabreicht wurden. Auch Minderjährige würden inhaftiert, weil Dokumente
zur Altersfeststellung häufig missachtet werde und ein Alter willkürlich fest-
gesetzt werde. Haftprüfungen durch Gerichte fänden nur rein formal statt; eine
inhaltliche Prüfung der Haftgründe bleibe faktisch jedoch aus, so dass Asyl-

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suchende nicht aus der Haft entlassen würden. Der Hohe Flüchtlingskommissar
der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtet davon, dass Misshandlungen und
Belästigungen durch Polizisten in den Hafteinrichtungen geradezu alltäglich
seien.

Die Lebensbedingungen von unbegleiteten Minderjährigen sind nach dem Be-
richt akzeptabel, soweit sie in einer speziellen Einrichtung in Fót untergebracht
werden; allerdings seien dessen Aufnahmekapazitäten begrenzt, so dass gerade
angesichts steigender Zahlen von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden
zu befürchten ist, dass nicht alle dort untergebracht werden können.

Asylbegehren von Dublin-Überstellten würden als Folgeanträge betrachtet, die
in der Regel keine aufschiebende Wirkung hätten, so dass ein Kernanliegen der
Dublin-Verordnung, eine Asylprüfung in zumindest einem EU-Mitgliedstaat zu
regeln, nicht sichergestellt sei.

Ein weiteres Problem bestehe in informellen Zurückweisungen an den Grenzen
zur Ukraine und zu Serbien. Der Bericht von bordermonitoring.eu verweist auf
übereinstimmende Berichte des UNHCR und von Human Rights Watch vom
November 2010, denen zufolge selbst unbegleitete Minderjährige ohne formale
Annahme, geschweige denn Prüfung ihres Asylantrags über die Grenze in die
Ukraine zurückgeschickt werden. Auf der serbischen Seite der Grenze zu Un-
garn gebe es in Subotica ein informelles Flüchtlingscamp, in dem nach unter-
schiedlichen Angaben hunderte oder sogar tausend Menschen aus unterschied-
lichen Krisenregionen ihr Dasein fristeten, die von ungarischen Grenzpolizisten
abgewiesen worden seien. Von Serbien aus drohe die Kettenabschiebung in
mögliche Verfolgerstaaten, da für Serbien wiederum die Türkei als sicherer
Drittstaat gelte. Der UNHCR beklagt in dem zitierten Bericht zudem die man-
gelnde Versorgung und Integration der anerkannten Flüchtlinge in Ungarn, die
unter anderem in ihrem Recht auf angemessene Unterkunft verletzt würden. Die
Regierung habe keine Strategie im Umgang mit diesen Problemen. Der Regio-
nalvertreter des UNHCR für Zentraleuropa mit Sitz in Budapest, Gottfried
Köfner, forderte in einem am 15. März 2012 ausgestrahlten TV-Beitrag des
Politmagazins „Panorama“ vor diesem Hintergrund einen Überstellungsstopp
nach Ungarn: „Ich bin der Meinung, Deutschland sollte die Rückführungen nach
Ungarn überlegen und vorerst stoppen, bis die Bedingungen hier besser sind“.
Auf Bundestagsdrucksache 17/8836 hatte sich die Bundesregierung zu Frage
13 noch darauf berufen, dass der UNHCR keinen generellen Überstellungsstopp
in Bezug auf Ungarn – im Gegensatz zu Griechenland – gefordert habe.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche aktuellen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum weiteren
Schicksal der am 1. bzw. 2. Februar 2012 von Bayern nach Ungarn über-
stellten syrischen Asylsuchenden, und wie bewertet sie diese Folgen der von
ihr entgegen breitem Protest durchgesetzten Überstellung?

2. Welche Erkenntnisse und Einschätzungen liegen der Bundesregierung zu
dem im Bericht von bordermonitoring.eu dargestellten Sachverhalt vor, dass
Asylsuchende, für die Ungarn nach der Dublin-Verordnung zuständig ist,
mehrfach in andere EU-Staaten weiterreisen, um dort Asyl zu beantragen,
und wie bewertet sie dies?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu dem im Bericht dargestell-
ten Phänomen, dass Asylsuchende aufgrund ihrer Erlebnisse in Ungarn und
auf der Weiterflucht in andere EU-Staaten Traumatisierungen erleiden und
trotz dieser Traumatisierungen immer wieder nach Ungarn rücküberstellt
werden, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

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4. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung mit Ziel und Zweck der EU-Richt-
linien zur Schaffung eines gemeinsamen Europäischen Asylsystems ver-
einbar, Asylsuchende trotz erlittener Traumatisierungen im Ersteinreise-
staat oder bei der Weiterflucht in andere EU-Staaten regelmäßig zurückzu-
überstellen (einschließlich damit einhergehender Ingewahrsamnahmen und
Inhaftierungen), und inwiefern berücksichtigt die Bundesregierung diesen
Punkt bei den Verhandlungen über die Neufassung der einschlägigen
Richtlinien im Rat bzw. im Trilog mit Kommission und Europaparlament?

5. Inwieweit werden bei Rücküberstellungsentscheidungen in andere Dublin-
Staaten, insbesondere Ungarn, die Lebensbedingungen auch für anerkannte
Flüchtlinge berücksichtigt, insbesondere in Bezug auf Familien und unbe-
gleitete Minderjährige (bitte begründen)?

6. Ist der Bundesregierung das Problem bekannt, dass in Ungarn anerkannte
Flüchtlinge aufgrund der dortigen Lebensbedingungen in andere EU-Staa-
ten weiterreisen, nach einer Rückschiebung nach Ungarn aber regelmäßig
obdachlos werden?

7. Inwieweit wird sich die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser Pro-
blematik auf EU-Ebene dafür einsetzen, dass Flüchtlinge mit anerkanntem
internationalem Schutzbedarf innerhalb der EU Freizügigkeit erhalten sol-
len, vergleichbar der Rechte von Unionsangehörigen oder auch von lang-
fristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (bitte begründen)?

8. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Einreise von in
Ungarn anerkannten Flüchtlingen in die Bundesrepublik Deutschland in
den Jahren 2009 bis 2011 vor?

9. Gehört die Verbesserung der Lebensbedingungen von anerkannten Flücht-
lingen zum Mandat des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen
(EASO)?

Wie wird von dort die soziale Integration von anerkannten Flüchtlingen in
Ungarn bewertet, und welche Maßnahmen kann das EASO in diesem Zu-
sammenhang ergreifen?

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu dem im Bericht von bor-
dermonitoring.eu dargestellten Problem, dass bei vielen unbegleiteten min-
derjährigen Asylsuchenden in Ungarn ein deutlich höheres Alter festge-
stellt wird als in den Staaten, in denen sie nach ihrer Weiterflucht innerhalb
der EU Asyl beantragten, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hier-
aus?

11. Welche Erkenntnisse hat sie darüber hinaus zu dem vorgetragenen Miss-
stand, dass selbst ursprünglich in Ungarn als Minderjährige eingestufte
Asylsuchende nach ihrer Rücküberstellung nach Ungarn nach einer erneu-
ten Altersfeststellung als Erwachsene eingestuft werden, und wie bewertet
sie dies?

12. Wird in der Bundesrepublik Deutschland bei rücküberstellten Asylsuchen-
den eine neuerliche Altersfeststellung vorgenommen, nachdem diese zuerst
in Deutschland und danach in einem anderen Dublin-Staat einen Asylantrag
gestellt hatten?

13. Welche Auswirkungen hat es in der Praxis, dass unbegleitete Minderjäh-
rige ohne Vormund nicht als verfahrensfähig gelten und somit keinen Asyl-
antrag stellen können (vgl. Bundestagsdrucksache 17/8836, Frage 4c)?

14. Wann, inwieweit, wie lange, in welchen Konstellationen und auf welcher
Rechtsgrundlage sind nach europäischem Recht und nach Rechtsauffassung

der Bundesregierung Inhaftierungen/Gewahrsamnahmen von Asylsuchen-
den bzw. Dublin-Überstellten (bitte differenzieren) vor einer rechtskräftigen

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Entscheidung über ihr Asylbegehren zulässig (bitte die einschlägigen EU-
Asylrichtlinien, die EU-Grundrechtecharta und die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) benennen und berücksichtigen)?

15. Inwieweit ist die regelmäßige Inhaftierung von Asylsuchenden bzw. Dub-
lin-Überstellten in Ungarn hiermit vereinbar?

16. Inwieweit entspricht die Asylpraxis in Ungarn den europäischen Vorgaben
zu einem besonderen Umgang mit besonders schutzbedürftigen Flüchtlin-
gen?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Kritik, wonach inhaftierte Asylsu-
chende in Ungarn regelmäßig misshandelt würden oder auch mit Medika-
menten ruhiggestellt würden, und welche Konsequenzen ergeben sich für
sie hieraus?

18. Ist die Bundesregierung bereit, aufgrund der dargestellten Defizite beim
Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen, Traumatisierten und anderen
verletzlichen Gruppen auf eine Rücküberstellung zumindest von besonders
schutzbedürftigen Personen nach Ungarn zu verzichten oder jedenfalls eine
intensive Prüfung im Sinne des M.S.S.-Urteils und der EuGH-Rechtspre-
chung vorzunehmen, ob im konkreten Einzelfall Rechtsverletzungen gegen
die Überstellten drohen (bitte begründen)?

19. Ist die Bundesregierung aufgrund der durch glaubhafte Berichte dargestell-
ten systemischen Defizite des ungarischen Asylsystems jedenfalls zu ei-
nem sorgfältigeren Verfahren bei Dublin-Überstellungen bereit, z. B. durch
schriftliche Vorabankündigungen beabsichtigter Überstellungen nach Un-
garn, verbunden mit der Möglichkeit, sich innerhalb einer bestimmten Frist
an die Verwaltungsgerichte zu wenden, um möglicherweise drohende Men-
schenrechtsverletzungen infolge der Rücküberstellung prüfen lassen zu
können (wenn nein, bitte begründen, auch in Auseinandersetzung mit der
einschlägigen Rechtsprechung des EGMR und des EuGH)?

20. Ist die Bundesregierung bereit zu einem generellen Überstellungsstopp in
Bezug auf Ungarn, bis sich die Bedingungen dort verbessert haben, wie
vom UNHCR gefordert (vgl. Vorbemerkung, wenn nein, bitte begründen),
und wie bewertet sie diese Forderung?

21. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Umstand, dass
der UNHCR nunmehr eine generelle Aussetzung von Überstellungen nach
Ungarn fordert (siehe Vorbemerkung), nachdem sie auf Bundestagsdruck-
sache 17/8836 zu Frage 13 ihre Haltung noch damit begründet hat, dass der
UNHCR eine solche Forderung nicht gestellt habe (bitte ausführlich be-
gründen)?

22. Wie genau wird nach Kenntnis der Bundesregierung in der Asylpraxis in
Ungarn gewährleistet, dass die Ablehnung eines Asylgesuchs von inhaftier-
ten Rücküberstellten vor einer Abschiebung gerichtlich überprüft wird,
wenn deren Gesuch als Folgeantrag ohne aufschiebende Wirkung gehand-
habt wird (Nachfrage zu Antwort 7 auf Bundestagsdrucksache 17/8836)?

23. Werden nach Kenntnis der Bundesregierung in der Asylpraxis in Ungarn
(nicht gesetzlich) bestimmte Länder als „sichere“ Dritt- oder Herkunfts-
staaten angesehen, und wenn ja, welche?

24. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der ihr bekannten
Kritik in den Berichten von bordermonitoring.eu, Helsinki-Komitee und
UNHCR zur Haft- und Entscheidungspraxis im ungarischen Asylsystem
– jenseits einer Weiterleitung der Berichte an die Europäische Kommission

(vgl. „Abschließende Bemerkung“ zu Frage 4 auf Bundestagsdrucksache
17/8836) – vor dem Hintergrund, dass nach der einschlägigen Rechtspre-

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chung des EGMR und des EuGH die überstellenden Mitgliedstaaten dazu
verpflichtet sind, bei vorliegenden, ernst zu nehmenden Hinweisen auf
infolge einer Überstellung etwaig drohende Menschenrechtsverletzungen
(in Bezug auf Asylverfahren, Unterbringungs- und Inhaftierungsbedingun-
gen, Rechtsschutz usw.) eine Prüfung dieser Gefahren vorzunehmen, und
zwar einschließlich einer effektiven gerichtlichen Prüfung (bitte ausführ-
lich begründen)?

25. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung daraus, dass der EGMR
in Bezug auf eine Überstellung nach Ungarn den Vollzug der Maßnahme
vorübergehend untersagt hat, weil dies zeigt, dass der EGMR offenkundig
einen ernsthaften Prüfungsbedarf sieht, und welche näheren Kenntnisse hat
die Bundesregierung zu den konkreten Umständen dieses Einzelfalles?

26. Mit welcher Begründung hält die Bundesregierung einen reellen Zugang zu
Gerichten und eine gerichtliche Überprüfung von Überstellungsentschei-
dungen im Dublin-Verfahren in jedem Fall für gesichert, wenn

a) in allgemeinen Hinweisen an Asylsuchende nur von einer „möglichen“
Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat die Rede ist,

b) bei weitem nicht alle Asylsuchenden anwaltlich vertreten sind,

c) selbst die anwaltlich vertretenen Asylsuchenden nur dann rechtzeitig
von einer konkret beabsichtigten Überstellung erfahren, wenn eine an-
waltliche Akteneinsicht – zufälligerweise – genau rechtzeitig erfolgt?

(Nachfrage zur Antwort zu Frage 14 auf Bundestagsdrucksache 17/8836 mit
der Bitte um nochmalige und ernsthafte Beantwortung der dort gestellten
Frage.)

27. Wieso setzt sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür ein, dass im
Zuge der Überarbeitung der Dublin-Verordnung kein Hinweis auf die
Rechtsprechung des EGMR in die Verordnung aufgenommen werden soll?

28. Wie ist diese Position damit vereinbar, dass die Bundesregierung in dem
EuGH-Verfahren C-4/11 mit Schreiben vom 7. April 2011 (Bevollmäch-
tigte der Bundesregierung T. Henze und N. Graf Vitzthum) derart Stellung
genommen hat (Rn. 59): „Bei der Durchführung des Unionsrechts hat der
Mitgliedstaat daher, um eine Verletzung von Art. 4 und 19 Abs. 2 der
Grundrechtecharta zu vermeiden, die Vorgaben des Art. 3 EMRK und die
hierzu ergangene Rechtsprechung des EGMR (Fußnote: etwa EGMR, Ur-
teil vom 21. Januar 2011, M.S.S., 30696/09) zu beachten“?

29. Ist es nach Rechtsauffassung der Bundesregierung zutreffend, dass die
Große Kammer des EuGH im Verfahren N. S. (C-411/10) u. a. mit Urteil
vom 21. Dezember 2011 festgestellt hat, dass die Prüfung, ob ein Mitglied-
staat vom Selbsteintrittsrecht nach der Dublin-Verordnung Gebrauch macht
oder nicht, dem Unionsrecht unterfällt (vgl. 1. Leitsatz des Urteils)?

Wenn nein, warum nicht (bitte ausführlich begründen)?

Wenn ja, gilt dann nicht zwingend, dass die behördliche Entscheidung über
einen Selbsteintritt bzw. über eine Überstellung im Dublinverfahren mit ei-
nem wirksamen Rechtsbehelf angegriffen und richterlich überprüft werden
können muss (bitte begründen), und wie ist hiermit der Ausschluss der auf-
schiebenden Wirkung in diesen Fällen nach dem Asylverfahrensgesetz
(AsylVerfG) vereinbar (bitte begründen)?

30. Wie ist der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nach § 34a Absatz 2
AsylVerfG damit vereinbar, dass die Bundesregierung in dem EuGH-Ver-
fahren C-4/11 mit Schreiben vom 7. April 2011 zu Rn. 70 f. ausgeführt hat,

dass Artikel 47 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta weitergehend ist als Ar-
tikel 13 EMRK und insbesondere „einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem

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Gericht“ vorsieht und diese Vorgabe insbesondere bei der Anwendung von
Unionsrecht gilt, etwa bei der Prüfung eines Selbsteintritts nach der Dublin-
Verordnung zur Abwendung einer ansonsten möglicherweise drohenden
menschenrechtswidrigen Behandlung infolge einer Überstellung in einen
anderen Mitgliedstaat (bitte ausführlich begründen und gegebenenfalls dar-
legen, warum die genannte Stellungnahme der Bundesregierung vom 7. April
2011 gegenüber dem EuGH keine Geltung mehr haben soll)?

31. Inwieweit hat das Bundesministerium der Justiz insbesondere zu den letz-
ten sechs grundsätzlichen Fragen zur Gewährleistung eines effektiven
Rechtsschutzes im Dublin-Verfahren eine andere Rechtsauffassung als das
Bundesministerium des Innern, und welches Bundesministerium ist für die
Entscheidung dieser Frage und die Verhandlungsführung über betreffende
EU-Rechtsetzungsakte (Verordnungen, Richtlinien) letztlich zuständig?

32. Hat die Bundesregierung, wie auf Bundestagsdrucksache 17/8836 zu Frage 4
(„Abschließende Bemerkung“) angekündigt, die Zustände im ungarischen
Asylsystem und den Umgang mit Dublin-Überstellten in bilateralen Gesprä-
chen angesprochen, und was waren die Ergebnisse?

33. Hat die Europäische Kommission nach Kenntnis der Bundesregierung eine
Prüfung der Umsetzung der einschlägigen EU-Richtlinien in Ungarn, insbe-
sondere zu den Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende, vorgenommen,
und mit welchen Ergebnissen?

Berlin, den 5. April 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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