BT-Drucksache 17/9221

Handwerksnovelle evaluieren, hohes Qualifikationsniveau sicherstellen

Vom 29. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9221
17. Wahlperiode 29. 03. 2012

Antrag
der Abgeordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
Dr. Diether Dehm, Jutta Krellmann, Ralph Lenkert, Sabine Stüber und der
Fraktion DIE LINKE.

Handwerksnovelle evaluieren, hohes Qualifikationsniveau sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der Handwerksnovelle 2004 wurden die umfangreichsten Änderungen seit
Bestehen der Handwerksordnung (HwO) vorgenommen. Kern der Gesetzesände-
rungen war, die Meisterpflicht (großer Befähigungsnachweis) als Voraussetzung
zur selbstständigen Berufsausübung in 53 Gewerken aufzuheben. Die damalige
rot-grüne Bundesregierung wollte mit der Reform „den großen Befähigungs-
nachweis und die wirtschaftliche Entwicklung des Handwerks stärken, Existenz-
gründungen erleichtern, Arbeitsplätze sichern sowie Impulse für neue Arbeits-
plätze und Ausbildungsplätze geben“ (Bundestagsdrucksache 15/1481, S. 1). Die
Inländerdiskriminierung sollte abgebaut, strukturelle Hemmnisse beseitigt wer-
den. Seitdem müssen Handwerkerinnen und Handwerker der zulassungsfrei ge-
wordenen B1-Gewerke (Anlage B Abschnitt 1 der Handwerksordnung) nicht
einmal eine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen, um sich selbstständig
machen zu dürfen. Die Gewerkschaften kritisierten diese Regelung stark und
führen ein geringeres Qualifikationsniveau und eine drastisch gesunkene Aus-
bildungsquote darauf zurück.

Es sollte sich von selbst verstehen, die Auswirkungen einer solch umfassenden
Reform grundlegend zu evaluieren – zumal das Handwerk als wichtiger Teil
der Wirtschaft gilt. „Im Handwerk arbeiten in 988 000 Betrieben ca. 4,73 Mil-
lionen Menschen und fast 440 000 Lehrlinge. Somit sind 11,7 Prozent der Er-
werbstätigen und 29,3 Prozent aller Auszubildenden in Deutschland im Hand-
werk tätig. Sie erwirtschafteten 2010 einen Umsatz von rund 492 Mrd. Euro“
(Bundestagsdrucksache 17/6457, S. 2). Bisher hat die Bundesregierung die
Handwerksnovelle jedoch nicht evaluiert – „mit Blick auf die wenigen Jahre
seit der Novellierung und auch wegen der bestehenden Datenlage“ (Bundes-
tagsdrucksache 17/3373, S. 23). Offenbar fehlt der schwarz-gelben Koalition
der politische Wille, die Geschicke des Handwerks positiv mitzugestalten.

Die Erfassung der notwendigen Daten zu veranlassen und zur Verfügung zu
stellen, liegt in der Verantwortung der Bundesregierung. Es ist angezeigt, die

daraus hervorgehenden Entwicklungen politisch einzuordnen und Position zu
beziehen. Die Antworten auf parlamentarische Anfragen können eine umfas-
sende Evaluierung nicht ersetzen – auch weil die Bundesregierung bei vielen
Fragen einräumen muss, dass keine konkreten Zahlen oder keine Erkenntnisse
vorliegen. So liegen der Bundesregierung beispielsweise keine Erkenntnisse
„zur Auswirkung der teilweisen Abschaffung der Meisterpflicht auf die Quali-
tät der Handwerksleistungen“, „zur Qualität der Ausbildung im Handwerksbe-

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reich“ und „zur Auswirkung der Aussetzung der AEVO für die zulassungs-
freien Handwerke“ vor (vgl. Bundestagsdrucksache 17/7313, S. 5 und 6). Auch
eine amtliche Statistik darüber, wie viele Handwerksbetriebe seit 2004 Insol-
venz anmelden mussten, und konkrete Zahlen zu Handwerksbetrieben mit In-
haberinnen und Inhabern aus anderen EU-Ländern liegen der Bundesregierung
nicht vor (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3373, S. 20 und Bundestagsdruck-
sache 17/7313, S. 8). Eine verantwortungsvolle Handwerkspolitik setzt diffe-
renziertes Zahlenmaterial jedoch voraus.

Deshalb muss für eine Evaluierung nach Branchen und den Gewerken der An-
lage A (zulassungspflichtige Handwerke), Anlage B Abschnitt 1 (zulassungs-
freie Handwerke) und Abschnitt 2 (handwerksähnliche Gewerke) zur HwO
unterschieden werden. Ausbildungsleistung, Teilnahmen an der Ausbildungs-
eignungsprüfung, Umsatz, Löhne, Beschäftigtenzahlen, Betriebsgründungen,
Insolvenzen sowie Qualität der erbrachten Leistungen müssen untersucht wer-
den. Außerdem ist zu prüfen, wie sich die Qualifikation der Selbstständigen in
Gewerken der Anlage B Abschnitt 1 und Abschnitt 2 aufteilt und wie sich die
Tarifbindung der Beschäftigten in diesen Gewerken entwickelt hat. Auch die
Anzahl der erteilten, abgelehnten und zurückgezogenen Anträge auf eine Aus-
übungsberechtigung für zulassungspflichtige Handwerke nach § 7b HwO (Alt-
gesellenregelung) und Ausnahmebewilligungen nach § 8 HwO sowie nach § 9
HwO für Handwerkerinnen und Handwerker aus dem europäischen Ausland ist
festzustellen. Denn der Meistertitel soll als Qualifikationsnachweis dienen, darf
aber nicht zur Marktabschottung missbraucht werden. Bei vorhandener Quali-
fikation müssen die genannten Zugangswege offen stehen. Auch das Bundes-
verfassungsgericht mahnte bereits, aufgrund des Eingriffs in die Freiheit der
Berufswahl die Ausnahmeregelung großzügig anzuwenden (1 BvR 1730/02,
Rn. 25). Zu prüfen ist deshalb ferner, ob die 2004 geschaffte Möglichkeit zu-
rückgenommen werden sollte, nach § 124b Satz 1 HwO die Zuständigkeiten
hinsichtlich der Verfahren nach den §§ 7a, 7b, 8 und 9 HwO auf die Handwerks-
kammern zu übertragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die für eine Evaluation der novellierten HwO erforderlichen Daten zu er-
heben;

2. die HwO von 2004 unter Einbeziehung der Betroffenen, unterschieden nach
Branchen und nach Gewerken der Anlagen A, B, Abschnitt 1 und 2, insbe-
sondere im Hinblick auf Ausbildungsleistung, Teilnahmen an der Ausbil-
dungseignungsprüfung, Umsatz, Löhne, Tarifbindung, Beschäftigtenzahlen,
Betriebsgründungen, Insolvenzen sowie Qualität der erbrachten Leistungen
umfassend qualitativ und quantitativ zu evaluieren;

3. sicherzustellen, dass im Bereich des meisterpflichtigen Handwerks alterna-
tive Zugangsmöglichkeiten der HwO bei gleichwertiger Qualifikation groß-
zügig anerkannt werden;

4. eine qualifizierte Ausbildung für alle Handwerksberufe sicherzustellen;

5. das Gefälle zwischen Gewerken der Anlage A und der Anlage B Abschnitt 1
abzubauen, indem der Gesellenbrief als Mindestqualifikation vorgeschrie-
ben wird, um sich in einem Handwerk der Anlage B selbstständig machen
zu können.

Berlin, den 29. März 2012
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9221

Begründung

Mit der Handwerksnovelle 2004 fiel der Regelungszweck für die Meisterpflicht
weg, „einen Beitrag zur Sicherung des Leistungsstands und der Leistungsfähig-
keit des Handwerks und des Nachwuchses für die gesamte gewerbliche Wirt-
schaft [zu] leisten“. Weiterhin meisterpflichtig sind nur die gefahrengeneigten
Gewerke und solche mit einer hohen Ausbildungsleistung (s. Anlage A HwO).
Für B1-Gewerke fungiert der Meistertitel nur noch als freiwilliger Qualifika-
tionsnachweis. Darüber hinaus wurde der Meistervorbehalt für Anlage-A-Hand-
werke weiter eingeschränkt. So wurde das Inhaberprinzip aufgehoben: Besitze-
rinnen und Besitzer eines Betriebes für ein zulassungspflichtiges Handwerk
müssen nicht mehr selbst Meister sein, sondern können eine Meisterin oder
einen Meister als Betriebsleiter einstellen. Auch die Altgesellenregelung (§ 7b
HwO) wurde eingeführt: Mit Ausnahme der Gewerke Schornsteinfeger, Augen-
optiker, Hörgeräteakustiker, Orthopädietechniker, Orthopädieschuhmacher und
Zahntechniker können sich erfahrene Geselleninnen und Gesellen in Zukunft
auch in den zulassungspflichtigen Handwerken selbstständig machen. Voraus-
setzung ist, dass sie sechs Jahre praktische Tätigkeit in dem Handwerk vor-
weisen können, davon vier Jahre in leitender Position.

Die Handwerksreform war und ist sehr umstritten. Im Fliesenlegerhandwerk
beispielsweise fiel die Notwendigkeit einer Mindestqualifikation weg. Darauf-
hin ist die Zahl der eingetragenen Betriebe besonders stark gewachsen: von
25 545 in 2005 auf 59 352 in 2009. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten sank im gleichen Zeitraum jedoch laut dem Institut für Arbeits-
markt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) von 24 220
auf 22 797. Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt sieht darin ein
starkes Indiz für Scheinselbstständigkeit. Gleichzeitig wirken sich sinkende Be-
schäftigtengrößen und geringere Qualifikationen auch auf die Ausbildungs-
fähigkeit der Handwerke der Anlage B Abschnitt 1 aus: Der Anteil der Hand-
werksbetriebe, die sich an der Ausbildung beteiligen, ist seit Inkrafttreten der
Handwerksnovelle rückläufig (vgl. Bundestagsdrucksache 17/3373, S. 20).

Zur Gesamtbeurteilung der Gesetzesnovelle ist jedoch eine differenzierte Unter-
suchung notwendig. Auch die Fraktion der CDU/CSU forderte 2003 in einem
Antrag (Bundestagsdrucksache 15/1107) die Einführung einer Revisionsklau-
sel: „Die Reform der Handwerksordnung trifft einen ebenso sensiblen wie wich-
tigen Wirtschafsbereich unseres Landes. Es ist daher ein Gebot der Vernunft,
dass jeweils nach sieben Jahren eine Überprüfung der neuen Regelungen statt-
findet. Dabei muss festgestellt werden, welche Auswirkungen die Neuordnung
der Handwerksnovelle für die Betriebe nach sich gezogen hat, und müssen ggf.
Anpassungen bei der Zuordnung in die Anlagen A und B vorgenommen wer-
den.“ Trotz Ankündigung im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD
2005 steht eine Evaluierung der HwO immer noch aus.

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