BT-Drucksache 17/9038

Veröffentlichung und Bewertung der Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland"

Vom 14. März 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/9038
17. Wahlperiode 14. 03. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Nicole Gohlke, Annette Groth, Ulla Jelpke,
Sahra Wagenknecht, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Veröffentlichung und Bewertung der Studie
„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“

Eine Woche nach der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nazi-Terrors in
Deutschland und einen Tag vor der offiziellen Vorstellung durch das Bundes-
ministerium des Innern (BMI) am 1. März 2012 berichtete „Bild.de“ exklusiv
über die Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“. Diese 764 Sei-
ten umfassende Studie wurde 2009 vom BMI in Auftrag gegeben, die Kosten
sollen sich auf 400 000 Euro belaufen haben.

Unter der Überschrift „Junge Muslime verweigern Integration“ (später: „Innen-
minister warnt radikale Muslime“) berichtete „Bild.de“ am 29. Februar 2012
über die so genannte Schock-Studie. Von „BILD“ wurden einige vermeintliche
Ergebnisse der Studie dergestalt zusammengefasst, dass sie ein negatives Zerr-
bild der Realität konstruierten. Entsprechend kritische Reaktionen auf diese Be-
richterstattung kamen aus der Politik, von Verbänden und aus der Wissenschaft.
Die Kritik betraf sowohl methodische Schwächen der Studie (geringe Zahl der
Befragten, soziodemografische Faktoren und das zentrale Thema Bildung wer-
den weitgehend ausgeblendet, einseitiger bzw. eindimensionaler „Integrations-
begriff“ usw.) als auch der Umstand der exklusiven Vorabberichterstattung
durch die „BILD Zeitung“, die nicht durch differenzierte Berichterstattung, son-
dern mit dem Verbreiten und Schüren rechtspopulistischer Vorurteile auffällt.
Wie auch bei anderen Themen verwandte die „BILD Zeitung“ bei der Studie
„Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ gezielt „einzelne Informatio-
nen, um zu dramatisieren und zu emotionalisieren“ und verfuhr nach dem Prin-
zip „Befreiung der Inhalte von Kontexten, Differenzierung, Interessenunter-
schieden und Perspektiven“ (Studie der Otto-Brenner-Stiftung „Drucksache
‚BILD‘“, S. 5 u. 9; www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/kompakt/
dokumente/bild_studie/2011_04_05_Bildstudie_Zusammenfassung.pdf).

„Die Zeitung teilt sich die Rolle eines deutschen Leitmediums zu, tatsächlich
übernimmt sie immer wieder die Rolle einer rechtspopulistischen Partei, die im
deutschen Politikbetrieb fehlt“ (www.spiegel.de/spiegel/print/d-77222662.html).
Dass ausgerechnet der „BILD Zeitung“ die Studie „Lebenswelten junger Mus-
lime in Deutschland“ vorab zugespielt wurde, lässt den Eindruck entstehen, dass
durch eine reißerische Aufmachung, grobe Vereinfachung und tendenziöse

Berichterstattung auf diskriminierende Art und Weise Vorurteile gegen Migran-
tinnen und Migranten allgemein und Muslima und Muslime im Besonderen
befördert werden sollten.

Einzelne Autoren der Studie äußerten sich entsprechend empört, entsetzt und
verzweifelt über die vereinfachende, verfälschende und negativ zugespitzte Prä-
sentation der Studie. Der Psychologe Prof. Dr. Wolfgang Frindte wies noch am

Drucksache 17/9038 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

29. Februar 2012 gegenüber der „dpa“ darauf hin, dass es ähnlich hohe Anteile
fremdenfeindlicher oder anti-islamischer Einstellungen auch unter Deutschen
gebe. Zudem sinke der Anteil radikaler Einstellungen. Der Soziologe Dr. phil.
Klaus Boehnke kritisierte gegenüber der Tageszeitung „Neues Deutschland“
vom 6. März 2012, dass der Tenor der Studie „ins genaue Gegenteil“ verkehrt
worden sei, was „sehr, sehr weh getan“ habe. Der Autor Peter Holtz kam auf
„SPIEGEL ONLINE“ vom 5. März 2012 zu dem erschütternden Ergebnis, dass
er den muslimischen Teilnehmenden der Studie offenbar „falsche Hoffnungen“
gemacht habe, weil es „niemanden zu interessieren“ scheine, was er geschrieben
habe. „Zumindest nicht in den Boulevardmedien. Sobald man sich als Wissen-
schaftler auf dieses Spiel einlässt, über „die Muslime“ zu reden und damit selbst
diese ganzen 4.000.000 Menschen auf ein einziges Merkmal reduziert – und sei
es mit guten Absichten – hat man wohl schon verloren. Und am Ende heißt es
doch wieder‚ „so und so viele sind radikal und wollen sich nicht integrieren“.
Wäre es dann nicht besser gewesen, gar nichts zu tun und gar nichts zu sagen?
Vielleicht. Wenigstens hätte einem Thilo Sarrazin dann nicht Beifall ge-
klatscht!“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie lautete die genaue Ausschreibung bzw. der Untersuchungsauftrag für die
genannte Studie, und warum hielt das BMI – trotz bereits vorliegender
Studien zu Musliminnen und Muslimen in Deutschland – gerade eine solche
Studie mit dem entsprechenden Untersuchungsauftrag für erforderlich?

2. Inwieweit unterschied sich der Untersuchungsauftrag von dem für die Studie
„Muslime in Deutschland“ (Juli 2007), die bereits festgestellt hatte, dass
starke Religiosität und Gläubigkeit nicht der entscheidende Faktor für das
Entstehen autoritärer, demokratiefeindlicher Einstellungen sind und vielmehr
Maßnahmen, die einen solchen Zusammenhang zwischen Religiosität und
antidemokratischer Einstellung unterstellen, kollektive Marginalisierungs-
wahrnehmungen fördern, die ihrerseits antidemokratische Reflexe auslösen
können?

3. Wer bzw. welche wissenschaftlichen Einrichtungen hatten sich mit welchen
Konzepten für diesen Auftrag bzw. für die Studie beworben?

4. Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl und die letztliche Vergabe des
Auftrags, und inwieweit ist die Bundesregierung im Rückblick mit der Ver-
gabe und den Ergebnissen der Studie zufrieden (bitte begründen), und wenn
nicht, welche Konsequenzen zieht sie hieraus?

5. Wie ist die übliche Form der Präsentation und Verbreitung von Studien, die
vom BMI in Auftrag gegeben wurden, und warum wurde hiervon im konkre-
ten Fall gegebenenfalls abgewichen?

6. Ist es üblich, dass ohne Veranlassung und ohne Wissen des BMI eine von ihr
in Auftrag gegebene Studie bzw. deren Kerninhalte vorab in den Medien be-
kannt gegeben bzw. exklusiv darüber berichtet wird, im konkreten Fall genau
an dem Tag vor der geplanten offiziellen Veröffentlichung, und wie erklärt
sich das BMI diese Exklusiv-Vorabveröffentlichung der „BILD Zeitung“ im
konkreten Fall?

7. Ist es in der Vergangenheit schon vorgekommen, dass ohne Veranlassung und
ohne Wissen des BMI eine von ihr in Auftrag gegebene Studie bzw. deren
Kerninhalte vorab in den Medien bekannt gegeben bzw. exklusiv darüber be-
richtet wurde, und wenn ja, welche Studien betraf es, und in welchen konkre-
ten Presseorganen fand die Vorabberichterstattung statt (bitte entsprechende
Fälle für diese Wahlperiode konkret auflisten)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/9038

8. Inwieweit, und in welchem Umfang kommt es vor, dass das BMI eine Stu-
die oder Ergebnisse einer Studie gezielt an einzelne Medien (Presse, TV
usw.) vor der offiziellen Vorstellung zur Kenntnis gibt, z. B. um gegebenen-
falls eine größere Aufmerksamkeit für ein Thema zu erlangen oder um die
Interpretation und Wahrnehmung einer Studie im eigenen Sinne zu beein-
flussen (z. B. durch entsprechende Vermerke und Kommentierungen zu den
Studien), und inwieweit wird dabei gegebenenfalls eine Gleichbehandlung
der Medien sichergestellt (bitte entsprechende Studien aus der 17. Wahlpe-
riode einschließlich der Presseorgane, an die die Studien exklusiv vorab ver-
geben wurden, auflisten)?

9. Inwieweit ist die Darstellung des an der Studie beteiligten Wissenschaftlers
Dr. phil. Klaus Boehnke (vgl. Neues Deutschland vom 6. März 2012: „Diese
Zahlen waren erwartbar“) zutreffend, wonach zunächst eine Pressekonfe-
renz mit den Autoren der Studie geplant war, dies dann aber aufgegeben
wurde, was waren die Gründe hierfür, warum ist dann eine Veröffentlichung
für den 1. März 2012 terminiert worden, und inwieweit spielte hierbei der
Jahrestag des Anschlags vom 2. März 2011 am Frankfurter Flughafen eine
Rolle, auf den das BMI bei seiner Presseerklärung zur Studie auf der Home-
page am 1. März 2012 Bezug nimmt?

10. Inwieweit ist das BMI (zumindest im Nachhinein) der Auffassung, dass eine
Präsentation der Studie zusammen mit beteiligten Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern sinnvoll bzw. erforderlich gewesen wäre, um verkürzte
oder falsche Schlussfolgerungen aus der Studie zu vermeiden, und welche
praktischen Lehren zieht es hieraus gegebenenfalls für die Zukunft?

11. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass der Vorab-
bericht auf „Bild.de“ offenbar ausschließlich oder maßgeblich auf einer
Kurzzusammenfassung der Studie beruhte, weil die berichteten konkreten
Prozentangaben und ausgewählten Inhalte identisch sind mit den Angaben
und Inhalten der Kurzzusammenfassung von Prof. Dr. Wolfgang Frindte
vom Juli 2011, die danach auch vom BMI am 1. März 2012 auf seiner Web-
seite zur Verfügung gestellt wurde und die offenbar auch die Grundlage für
die Pressemitteilung des BMI war?

Wenn sie diese Einschätzung teilt, was besagt dies über die Qualität des
Journalismus der „BILD“-Redaktion aus, die behauptete, die Studie läge ihr
exklusiv vor und die offenkundig nicht einmal im Ansatz versucht hat, zu
einer eigenständigen Wahrnehmung und Bewertung der Studie zu kommen?

12. In welchem Zusammenhang, und für welchen Zweck ist die Kurzzusam-
menfassung der Studie von Prof. Dr. Wolfgang Frindte vom Juli 2011 ent-
standen?

13. Ist die Studie und/oder eine Kurzzusammenfassung der Studie oder ähn-
liches Material im Wissen oder im Auftrag des BMI an die „BILD“ bzw.
einen Journalisten bzw. eine Journalistin gegeben worden?

Wenn ja, durch wen, auf wessen Veranlassung, mit welchen Überlegungen,
und mit wessen Kenntnis?

Wenn nein, inwieweit hat das BMI im Nachhinein von einer solchen Über-
mittlung von Ergebnissen der Studie durch einen einzelnen Mitarbeiter bzw.
eine einzelne Mitarbeiterin des BMI an die „BILD“ Kenntnis erlangt, und
inwieweit, und mit welchem Ergebnis wurde intern ermittelt, ob bzw. wer
im BMI entsprechende Informationen übermittelt hat bzw. haben könnte?

14. Falls es keine solche Ermittlungen im BMI gab, warum nicht, und hält das
BMI eine von ihr nicht gewollte Vorabveröffentlichung, zumal in einem

Medium, das nicht unbedingt für eine ausgewogene und differenzierte Be-
richterstattung bekannt ist, nicht für einen schwerwiegenden Vorgang, ins-

Drucksache 17/9038 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

besondere angesichts der breiten Kritik an dieser Vorabberichterstattung
und weil es auch nach Auskunft des Parlamentarischen Staatssekretärs beim
Bundesminister des Innern Dr. Christoph Bergner „immer der Wunsch der
Bundesregierung“ ist, „gewissermaßen selbst Herr über die in Auftrag ge-
gebenen Studien und ihre Ergebnisse zu sein“ (Plenarprotokoll 17/164,
S. 19462)?

15. Inwieweit ist eine genaue Aufklärung des Vorgangs der gezielten Vorab-
übermittlung von Informationen an die „BILD“ nicht schon deshalb erfor-
derlich, weil in den Medien, in der Politik, aber auch bei Autoren der Ein-
druck entstanden ist, dass „ganz offensichtlich aus dem Innenministerium
die Studie der „BILD Zeitung“ vorab zugespielt wurde“ (so der Mitautor der
Studie Klaus Boehnke im Neuen Deutschland vom 6. März 2012), und die-
ser Eindruck einer damit von der Bundesegierung bewusst angestrebten
bzw. in Kauf genommenen populistischen Berichterstattung nicht stehen ge-
lassen werden sollte?

16. Gibt es Kenntnisse oder Recherchen des BMI dazu, inwieweit, und mit
welchen Motiven einzelne Politiker bzw. Politikerinnen der Koalitionsfrak-
tionen, insbesondere von der Fraktion der CDU/CSU, die Studie bzw.
Kernergebnisse der Studie bzw. die Kurzzusammenfassung der „BILD“
oder einzelnen Journalistinnen oder Journalisten übermittelt haben könnten,
und inwieweit waren Politiker bzw. Politikerinnen der Koalitionsfraktionen
im Vorfeld informiert über die Ergebnisse der Studie, welche Politiker bzw.
Politikerinnen hatten insbesondere Zugang zu der genannten Kurzzusam-
menfassung der Studie, die offenbar gezielt weitergegeben wurde?

17. Inwieweit informiert das BMI generell Politiker bzw. Politikerinnen der
Koalitionsfraktionen bzw. der Fraktion der CDU/CSU vorab über bevor-
stehende Veröffentlichungen, Aktionen und Gesetzgebungsverfahren, wie
war es im konkreten Fall, und wie wird gegebenenfalls eine solche bevor-
zugte Informationspolitik gegenüber Abgeordneten bestimmter Fraktionen
gerechtfertigt?

18. Wie begründet die Bundesregierung die vom Bundesminister des Innern in
der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 7. März
2012 bzw. auch vom Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
in der Fragestunde vom selben Tag (Plenarprotokoll 17/164, S. 19462) ge-
machte Andeutung, aus dem Kreise der beteiligten Institute hätte die Studie
oder ausgewählte Ergebnisse an die „BILD“ weitergegeben werden können,
obwohl die Vorstellung abwegig erscheint, dass Wissenschaftler bzw. Wis-
senschaftlerinnen die Ergebnisse jahrelanger Forschung ausgerechnet an die
„BILD Zeitung“ geben könnten, von der bekannt ist, dass sie nicht für eine
differenzierte, sondern vielmehr für eine vereinfachte und zugespitzte Be-
richterstattung steht, die auch inhaltlich nicht dem Anliegen und dem An-
spruch der Wissenschaftler bzw. Wissenschaftlerinnen entsprechen dürfte?

19. Wie bewertet die Bundesregierung im Nachhinein die Art und Weise der
Vorabveröffentlichung durch „Bild.de“, deren Charakter und politische
Zielrichtung sich bereits in den Überschriften klar niederschlägt („Schock-
Studie belegt: Junge Muslime verweigern Integration“ und „Schock-Studie
zur Integration: Ein Teil der jungen Muslime in Deutschland wird immer
radikaler!“)?

20. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung vor diesem Hinter-
grund in Hinblick auf eine künftige Zusammenarbeit mit der „BILD“ im Be-
sonderen bzw. mit den Medien im Allgemeinen, zumal der Bundesminister
des Innern erklärte, es liege in der Verantwortung der Medien, „nicht den
Fokus auf eine kleine Minderheit, die Probleme macht“, zu legen (dapd,

1. März 2012)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/9038

21. Wie bewertet die Bundesregierung die Folgen der Vorabberichterstattung
durch „BILD“ bzw. der ersten Kommentierung durch den Bundesminister
des Innern Dr. Hans-Peter Friedrich, die dazu geführt haben, dass z. B. der
Vorsitzende des Landesintegrationsbeirates Nordrhein-Westfalen, Tayfun
Keltek, sich am 7. März 2012 öffentlich fragte, ob es noch Sinn mache, dass
sich islamische Organisationen am Islamgipfel beteiligen, weil der Minister
„mit pauschalisierenden Urteilen selbst Unfrieden stiftet“ (www.migazin.de/
2012/03/08/macht-es-noch-sinn-dass-islamische-organisationen-am-islam-
gipfel-teilnehmen/), und dazu, dass die Konferenz Islamischer Landesver-
bände (KILV) in einer Erklärung vom 10. März 2012 befand, dass die Art
und Weise der Veröffentlichung gezeigt habe, dass Dr. Hans-Peter Friedrich
„als Innenminister eine Fehlbesetzung ist“ (www.migazin.de/2012/03/12/
bundesinnenminister- friedrich-ist-fehl-am-platz/)?

22. Was entgegnet das BMI insbesondere der Kritik der KILV, wonach die erste
Stellungnahme des Bundesministers des Innern zeige, dass er „den eigent-
lichen Inhalt der Studie gar nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte“
und es so scheine, alle habe er die Studie – ungeachtet ihrer Inhalte – für
billigen Populismus und Stimmungsmache gegen den Islam und die Mus-
lime instrumentalisieren wollen?

23. Inwieweit sieht die Bundesregierung durch die Art und Weise der Vorab-
darstellung der Studie durch die „BILD“ und durch entsprechende Kom-
mentare des Bundesministers des Innern insgesamt die Aufgabe einer
Zusammenarbeit und Verständigung mit muslimischen Verbänden beein-
trächtigt?

24. Inwieweit entspricht die vom Mitautor Dr. phil. Klaus Boehnke beklagte
Verkehrung des Tenors der Studie durch die Vorabveröffentlichung in der
„BILD“ einem Interesse des BMI, weil die Empfehlungen der Studie vom
Bundesminister des Innern Dr. Hans-Peter Friedrich zum Großteil nicht ge-
teilt werden, wie er in der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages vom 7. März 2012 erklärte?

25. Inwieweit entspricht eine einseitige Interpretation bzw. Verkürzung der Stu-
die auf konflikt- und sicherheitsrelevante Aspekte der politischen Schwer-
punktsetzung der Bundesregierung in der Integrationspolitik insbesondere
bezogen auf Muslima und Muslime, wie sie auch von der KILV beklagt
wird?

26. Wie ist es zu interpretieren, dass der Bundesminister des Innern einen Groß-
teil der Handlungsempfehlungen der Studie ablehnt und als offenbar einzi-
gen sich aus der Studie (angeblich) ergebenden „Handlungsbedarf“ die
„Radikalisierung einer Minderheit von Muslimen“ „erkannt“ hat, so der Par-
lamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner (Plenarprotokoll 17/164,
S. 19 463; auch in der Presseerklärung des BMI vom 1. März 2012 wird auf
die „Initiative Sicherheitspartnerschaft – Gemeinsam mit Muslimen für
Sicherheit“ und den Anschlag am Frankfurter Flughafen vom 2. März 2011
hingewiesen)?

27. Wieso richten sich die vom BMI angedachten Maßnahmen gegen befürch-
tete Radikalisierungstendenzen bei Muslimen ausschließlich oder vorwie-
gend an Muslime bzw. islamische Verbände, obwohl diese laut Studie we-
sentlich Ergebnis der Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen in
dieser Gesellschaft sind?

28. Warum hat der Bundesminister des Innern auf die verzerrende, vereinfa-
chende und manipulative Darstellung der Studie durch die „BILD“ nicht mit
Kritik an der „BILD“ reagiert, sondern im Gegenteil ein Zitat beigesteuert,

das den Tenor und die Tendenz der Berichterstattung noch stärkte, oder hält

Drucksache 17/9038 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

das BMI die Art und Weise der Darstellung der Studie durch die „BILD“ im
Großen und Ganzen für zutreffend und angemessen (bitte begründen)?

29. Muss sich das BMI vor diesem Hintergrund die Art und Weise der Vorab-
berichterstattung durch die „BILD“ nicht zurechnen lassen, weil der ein-
seitigen und zugespitzten Präsentation und Interpretation der Studie nicht
widersprochen wurde, obwohl diese gegen die Empfehlungen und Inhalte
der Studie verstieß (bitte begründen)?

30. Wusste der Bundesminister des Innern von der Art und Weise der Bericht-
erstattung auf „Bild.de“, und hat er in Kenntnis dessen das genannte Zitat
unverändert freigegeben, und auf welche Weise und auf wessen Veranlas-
sung wurde das Zitat der „BILD“ zur Verfügung gestellt?

31. Warum haben der Bundesminister des Innern oder das BMI gegenüber der
„BILD“ nicht darauf hingewiesen, dass die Autoren selbst ausdrücklich und
in herausgehobener Weise betonten, dass die Prozentangaben der Studie
„keinesfalls weder auf alle in Deutschland lebenden Muslime im Allgemei-
nen noch auf alle in Deutschland lebenden jungen Muslime … hochgerech-
net werden können und dürfen“ (S. 277) – wie es die „BILD“ gemacht
hatte?

32. Warum hat der Bundesminister des Innern in seiner ersten Kommentierung
nicht positive Aspekte der Studie hervorgehoben, wie zum Teil in späteren
Stellungnahmen geschehen, obwohl diese in der Studie eindeutig überwie-
gen, sondern vielmehr die einseitige Wahrnehmung der Studie und eine
mögliche Verunsicherung der Bevölkerung noch befördert, indem er er-
klärte: „Deutschland achtet die Herkunft und kulturelle Identität seiner Zu-
wanderer. Aber wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokrati-
scher und religiös-fanatischer Ansichten. Wer Freiheit und Demokratie
bekämpft, wird hier keine Zukunft haben – dies klarzumachen, ist die Auf-
gabe eines jeden“?

33. Weshalb zeigte sich der Bundesminister des Innern Dr. Hans-Peter Friedrich
in der Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom
7. März 2012 „überrascht“ über den (hohen) Anteil von jungen Muslimen
mit „Integrationshemmung“, während die Autoren der Studie betonen, dass
die Zahlen angesichts anderer Studien durchaus erwartbar waren und bei
deutschen Jugendlichen ähnliche Werte zu Radikalisierung/Demokratie-
distanz messbar sind?

34. Wie beurteilt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung die Art und
Weise der Präsentation der Studie sowie die Kommentierung und Präsenta-
tion durch den Bundesminister des Innern?

35. Inwieweit kann die Bundesregierung bestätigen, dass das Internetportal
“MIGAZIN“ am Tag vor der Veröffentlichung der Studie telefonisch ver-
geblich um Übermittlung der Studie gebeten hat – also zu einem Zeitpunkt,
als die Studie der „BILD“ bereits vorlag –, und warum wurde dieses Ersu-
chen abgelehnt?

36. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, wonach „Integrationsverweige-
rung“ den Nährboden für religiösen Fanatismus und Terrorismus darstellen
könne, und wenn ja, wie ist dies damit vereinbar, dass nach der Studie eine
angenommene oder unterstellte „Integrationsverweigerung“ fast keinen Ef-
fekt auf Radikalisierungstendenzen habe – im Gegensatz aber zum Beispiel
zur diskriminierend geführten „Sarrazin“-Debatte über eine vermeintliche
„Integrationsverweigerung“ insbesondere bei Muslimen?

37. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass man es bei jungen Gewalt-
tätern vorwiegend mit sozialen Fragen zu tun hat und nicht bzw. nicht vor-
dergründig mit religiösen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/9038

38. Inwieweit ist die Erklärung des Parlamentarischen Staatssekretärs
Dr. Christoph Bergner (Plenarprotokoll 17/164, S. 19464), die Bundes-
regierung wolle auch angesichts der Erkenntnisse der Studie „Rücksicht auf
Herkunftsidentitäten nehmen und damit bikulturelle Identifikationen als
Beitrag der Integration in die deutsche Gesellschaft betrachten“ (in der Stu-
die heißt es noch deutlicher, dass positive Bindungen an die Herkunftskultur
und -region zuzulassen seien, z. B. S. 643), vereinbar mit der grundsätz-
lichen Ablehnung der doppelten Staatsangehörigkeit durch die Bundes-
regierung?

39. Inwieweit ist mit den Ergebnissen der Studie (vgl. zur doppelten Staatsbür-
gerschaft S. 656) und der oben zitierten Aussage des Parlamentarischen
Staatssekretärs Dr. Christoph Bergner vereinbar, wenn er an anderer Stelle
erklärt (Plenarprotokoll 17/164, S. 19463), dass ein „Einbürgerungsbewer-
ber“ durch Aufgabe der früheren Staatsangehörigkeit zum Ausdruck brin-
gen müsse, „dass er sich ohne Vorbehalte zu seinem neuen Staat bekennt“,
und inwieweit wird hierdurch nicht Misstrauen gegenüber Nichtdeutschen
zum Ausdruck gebracht und gefördert, dass angesichts millionenfach geleb-
ter Mehrfachstaatszugehörigkeit in Deutschland und der jetzt schon mehr-
heitlich akzeptierten Mehrstaatigkeit in der Einbürgerungspraxis offenkun-
dig keinerlei empirische Grundlage hat (bitte begründen)?

40. Inwieweit lässt sich nach Auffassung der Bundesregierung aus der Studie
die Forderung ableiten und begründen, dass es keine automatische doppelte
Staatsangehörigkeit geben darf?

41. Inwieweit lässt sich nach Auffassung der Bundesregierung aus der Studie
die Forderung ableiten und begründen, an Sprachnachweisen z. B. beim
Ehegattennachzug müsse festgehalten werden?

42. Inwieweit teilt die Bundesregierung das in der Studie verwandte Verständ-
nis von „Integration“, wonach dieses das gleichzeitige Bewahren der Kul-
tur(en) der Herkunftsländer wie auch die Akzeptanz und Übernahme der
deutschen Kultur (und Sprache) bedeutet (in Absetzung zum Begriff der
„Assimilation“)?

43. Bleibt der Bundesminister des Innern trotz der explizit anderen Auffassung
seiner beiden Vorgänger (vgl. Studie, S. 15) und auch angesichts der Emp-
fehlung der Studie (vgl. S. 654), Statements wie „der Islam gehört nicht zu
Deutschland“ zu unterlassen, wegen der Gefahr einer (weiteren) Ausgren-
zung von Muslimen und der Stärkung antimuslimischer Ressentiments, bei
seiner diesbezüglichen Auffassung, und wenn ja, mit welcher Begründung?

44. Wer nimmt für das BMI die Auswertung der Studie, insbesondere in Hin-
blick auf notwendige Handlungsmaßnahmen, vor?

Welchen Handlungsbedarf sieht das BMI infolge der Ergebnisse der Studie,
und falls sie keinen oder nur geringen Handlungsbedarf sieht, liegt dies da-
ran, dass sie sich durch die Studie in ihrer Politik bestätigt fühlt oder hält sie
die Ergebnisse und/oder Schlussfolgerungen der Studie für falsch (bitte aus-
führlich begründen)?

45. Inwieweit wird die Bundesregierung die Empfehlungen der Studie, populis-
tische Verkürzungen zu vermeiden und keine ausgrenzenden Debatten zu
führen, weil dies zur Diskriminierung der Muslime beiträgt und deren Radi-
kalisierung und Segregation fördern könnte, berücksichtigen?

Wie beurteilt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund frühere Initiati-
ven gegen vermeintliche „Integrationsverweigerer“?

46. Inwieweit hat der Bundesminister des Innern auf die Kritik der Leiterin der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, reagiert, die for-

derte, populistische Verkürzungen zu vermeiden und sagte: „Das hätte ich
mir auch von den ersten Deutungsversuchen der Studie gewünscht – auch

Drucksache 17/9038 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
von Seiten des Innenministers“ (www.augsburger-allgemeine.de/politik/
Kritik-an-Studie-zu-jungen-Muslimen-nicht-pauschalisieren-
id19029896.html)?

47. Inwieweit konterkariert die Art und Weise der Präsentation der Studie die
Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der Gedenkfeier für die
Opfer der NSU-Morde: „Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs
erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch
diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen.
Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann
Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsam-
keit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des
Geistes. Aus Worten können Taten werden.“ (www.bundesregierung.de/
Content/DE/Rede/2012/02/2012-02-23-bkin-gedenkveranstaltung.html)?

48. Inwieweit teilt die Bundesregierung die wissenschaftliche Kritik an der
Studie, wie sie etwa von der Forschergruppe HEYMAT (Hybride Europä-
isch-muslimische Identitäts-Modelle) an der Humboldt-Universität zu Berlin
vorgetragen wird (www.migazin.de/wp-content/uploads/2012/03/Stellung-
nahme-zur-Studie-Lebenswelten-junger-Muslime-in-Deutschland-Forou-
tan-HU.pdf)?

49. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Frage nach Zustimmung bzw.
Ablehnung der Aussage „Solange die westliche Welt andere Völker ausbeu-
tet oder unterdrückt, wird es keinen Frieden auf der Welt geben“ eine Sug-
gestivfrage, da diese Formulierung den Befragten bereits die Annahme
nahelegt, dass der Westen andere Völker unterdrückt und damit eine Zu-
stimmung zum zweiten Teil der Aussage faktisch unumgänglich macht?

50. Inwieweit hält es die Bundesregierung überhaupt (noch) für sinnvoll, Stu-
dien ausschließlich zu „Muslimen“ in Auftrag zu geben (vgl. die insofern
verneinende Antwort des Mitautors der Studie, Peter Holtz, SPIEGEL
ONLINE, 3. März 2012), auch vor dem Hintergrund der vorläufigen Ergeb-
nisse der Islamwissenschaftlerin Dr. Riem Spielhaus (vgl. DER TAGES-
SPIEGEL vom 11. März 2012: „Fragen sagen mehr als Antworten“), die
feststellt, dass Studien zur Gesamtbevölkerung zum Merkmal der Religion
eher Durchschnittliches zu Tage fördern, während es bei (insbesondere
staatlichen) „Muslim-Studien“ vor allem um Sicherheitsfragen geht und da-
bei gestellte Fragen vor allem verbreitete Stereotype zum Islam bzw. zu
Muslimen wiedergeben?

51. Geht die Bundesregierung grundsätzlich davon aus, dass „Muslime“ signi-
fikant andere Einstellungen zur Demokratie haben als andere Menschen
bzw. inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass z. B. sozioökono-
mische und Bildungsfaktoren diesbezüglich eine weit stärkere Erklärungs-
kraft haben als die Religiosität (in der Studie heißt es, dass es keinen Zusam-
menhang zwischen der in eine kulturelle Identität eingebetteten Religiosität
und einer Radikalisierung gibt, S. 646)?

52. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus alldem für die künf-
tige Forschungsarbeit zu den Themen Rassismus, Integration, Ausgren-
zung, Einbindung usw.?

Berlin, den 13. März 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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