BT-Drucksache 17/8610

Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen

Vom 8. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8610
17. Wahlperiode 08. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein,
Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Europarecht beim Ehegattennachzug umsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Deutsche Bundestag nimmt besorgt zur Kenntnis, dass die seit 2007 gel-
tende Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug nicht nur
zu einem kurzfristigen Einbruch beim Ehegattennachzug führte, sondern
auch anhaltend zu einem merklichen Rückgang beigetragen hat. Die Zahl der
erteilten Visa zum Ehegattennachzug lag mit 31 649 im Jahr 2010 um etwa
ein Fünftel unterhalb des Wertes der beiden Jahre vor der Gesetzesänderung
(jeweils etwa 40 000 Visa in den Jahren 2005 und 2006). In Ländern wie
Kasachstan, Kirgistan, Kuba, Mazedonien und Serbien betrug der Rückgang
gegenüber dem Jahr 2006 sogar deutlich über 50 Prozent. Die geforderten
Sprachkenntnisse können in vielen Fällen nicht – wie von der Bundesregie-
rung zur Rechtfertigung der Gesetzesverschärfung behauptet – in etwa drei
Monaten erworben werden, wie zuletzt zahlreiche Einzelfälle erzwungener
Trennungen von Ehegatten belegen. Mehr als drei Viertel aller Betroffenen
weltweit haben keinen Zugang zu einem Sprachkurs der Goethe-Institute,
überwiegend weil kein Kurs vor Ort erreichbar ist oder mangels finanzieller
Mittel. Etwa ein Drittel dieser Personen besteht den Sprachtest (zunächst)
nicht.

2. Der Deutsche Bundestag weist vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der
Sachverständigenanhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages
vom 6. Juni 2011 darauf hin, dass es bis heute keinerlei konkrete, nachvoll-
ziehbare Belege für die Annahme gibt, die Neuregelung könne tatsächlich zur
Erreichung ihrer angeblichen Ziele der Bekämpfung von Zwangsverheiratun-
gen bzw. einer verbesserten Integration beitragen (vgl. Stellungnahmen auf
den Ausschussdrucksachen 17(4)266 A bis F und Anhörungsprotokoll 17/43).
Das eigentliche Motiv und die objektive Funktion der Sprachanforderungen
beim Ehegattennachzug sind vielmehr eine Einwanderungsbeschränkung
nach Nützlichkeitskriterien. Insbesondere sozial schwache, ältere und so ge-
nannte bildungsferne Menschen sind von den gesetzlichen Beschränkungen
betroffen. Dabei stellen nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Europä-

ische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Grundrechtecharta der
Europäischen Union (EU) Ehe und Familie unter einen besonderen Schutz.
Die EU-Familienzusammenführungsrichtlinie vermittelt darüber hinaus
einen subjektiven Rechtsanspruch auf Einreise unter den dort genannten Be-
dingungen, wobei nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
(EuGH) Auslegungsspielräume der Richtlinie nicht so ausgelegt werden dür-
fen, dass sie dem Ziel einer Förderung des Familiennachzugs entgegenwirken.

Drucksache 17/8610 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Der Deutsche Bundestag erinnert daran, dass bereits im Gesetzgebungsver-
fahren im Jahr 2007 neben verfassungsrechtlichen Bedenken vor allem Zwei-
fel an der Vereinbarkeit der Nachzugsregelung mit Europarecht vorgebracht
wurden (vgl. die Stellungnahmen zur Sachverständigenanhörung des Innen-
ausschusses des Deutschen Bundestages am 21. Mai 2007 auf den Aus-
schussdrucksachen 16(4)209 B, D, H, J und K sowie das Anhörungsprotokoll
16/40). Diese Einwände wurden im Rahmen der erneuten Sachverständigen-
anhörung vom 6. Juni 2011 noch einmal bekräftigt. Kritisiert wurde dabei auch
die Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom
30. März 2010 (1 C 8.09), in der europarechtliche Fragen nur unzureichend
behandelt wurden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) setzte sich in
seinem insgesamt sehr knappen Beschluss vom 25. März 2011 (2 BvR 1413/
10) mit Europarecht überhaupt nicht auseinander. Die Bundesregierung kann
sich mithin auch nicht durch bloßen Verweis auf diese beiden Gerichtsent-
scheidungen aus der Verantwortung ziehen, wenn es um die Prüfung, Be-
achtung und Umsetzung europäischen Rechts geht.

4. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass sich das BVerwG mit Beschluss vom
28. Oktober 2011 (1 C 9.10) vor dem Hintergrund einer Stellungnahme der
EU-Kommission an den EuGH vom 4. Mai 2011 selbst korrigiert hat. Ob die
deutsche Regelung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug mit der
EU-Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist, muss nunmehr auch
nach Auffassung des BVerwG durch den EuGH geklärt werden, weil diesbe-
züglich entsprechende Zweifel bestehen. Der Deutsche Bundestag kritisiert
zugleich, dass die Bundesregierung diese Korrektur des BVerwG nicht zum
Anlass nimmt, ihre bisherige Rechtsauffassung zu hinterfragen, und sich auf
parlamentarische Anfragen jeglicher argumentativen Auseinandersetzung
entzieht (vgl. Bundestagsdrucksache 17/8318). Eine Grundsatzentscheidung
des EuGH ist im Jahr 2011 vor allem deshalb ausgeblieben, weil noch vor
dem erwarteten Urteil im konkreten Fall „Imran“ eine Einreiseerlaubnis ohne
Sprachnachweise erteilt wurde. Angesichts der bisherigen Rechtsprechung
des EuGH war jedoch allgemein erwartet worden, dass der Gerichtshof eine
Regelung, die den Ehegattennachzug vom Nachweis bestimmter Sprach-
kenntnisse abhängig macht, als europarechtswidrig beurteilen würde.

5. In Bezug auf türkische Staatsangehörige ist die Verschärfung des Ehegatten-
nachzugs europarechtlich schon deshalb nicht aufrechtzuerhalten, weil sie
einen klaren Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot des EWG-Türkei-
Assoziationsrechts (EWG = Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) darstellt.
Dies geht aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH sowie aus einer
Stellungnahme der EU-Kommission vom 29. Juli 2011 in der Rechtssache
C-256/11 hervor. Von türkischen Staatsangehörigen – der Hauptzielgruppe
der Gesetzesverschärfung (vgl. Plenarprotokolle 16/90, S. 9065 D und 16/103,
S. 10594 B) – dürfen danach keine Integrations- oder Sprachnachweise im
Aufenthaltsrecht verlangt werden. Die Niederlande setzen ein entsprechen-
des Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Centrale Raad van Beroep vom
16. August 2011 bereits um.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Beschränkung des Ehegattennachzugs durch die Anforderung von im Aus-
land nachzuweisenden Deutsch-Sprachkenntnissen unverzüglich rückgängig zu
machen. Angebote zum Deutsch-Spracherwerb im Ausland müssen freiwillig
ausgestaltet werden.

Berlin, den 8. Februar 2012
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8610

Begründung

Seit August 2007 ist der Nachzug von Ehegatten und Lebenspartnerinnen und
- partnern aus dem Ausland – neben anderen Bedingungen – grundsätzlich vom
Nachweis schriftlicher und mündlicher deutscher Sprachkenntnisse des Niveaus
A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER) abhängig. Be-
stimmte Personengruppen (z. B. EU-Angehörige, anerkannte Flüchtlinge, Selb-
ständige, Hochqualifizierte, Forschende) sowie Staatsangehörige bestimmter
privilegierter Länder (Australien, Israel, Japan, Kanada, Republik Korea,
Neuseeland, USA) sind von der Gesetzesverschärfung ausgenommen. Eine
allgemeine Härtefallregelung, etwa für Analphabetinnen und Analphabeten,
Schwangere und ältere Menschen oder auch Personen, die keinen Zugang zu
einem Sprachkurs haben, gibt es nicht.

Die Fraktion DIE LINKE. hat bereits mit ihrem Antrag „Ehegattennachzug ohne
Sprachhürden ermöglichen“ auf Bundestagsdrucksache 17/1577 die Rück-
nahme dieser Gesetzesverschärfung gefordert und umfassend begründet. Grund-
lage waren unter anderem Erkenntnisse aus mehr als einem Dutzend Kleiner
Anfragen zum Thema. Seither ist immer deutlicher geworden, dass die Neure-
gelung insbesondere gegen europäisches Recht verstößt. In der Familienzusam-
menführungsrichtlinie der EU 2003/86/EG ist als Möglichkeit vorgesehen, dass
„Integrationsmaßnahmen“ vor der Einreise verlangt werden können – nicht aber
der Nachweis eines bestimmten Integrations- bzw. Sprachniveaus. Die meisten
EU-Mitgliedstaaten machen von dieser Ausnahmeregelung ohnehin keinen Ge-
brauch, für drei Mitgliedstaaten gelten Sprach- oder Integrationstests jedoch als
Einreisebedingung (vgl. Grünbuch zur Richtlinie vom 15. November 2011,
S. 5). Die Bundesrepublik Deutschland stellt dabei mit mündlichen und schrift-
lichen Sprachkenntnissen des Niveaus A1 GER die höchsten Anforderungen.
Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 4. März 2010 in der
Rechtssache Chakroun – C-578/08) dürfen durch die Richtlinie eröffnete Hand-
lungsspielräume durch die Mitgliedstaaten aber nicht so genutzt werden, dass
das Richtlinienziel einer Begünstigung der Familienzusammenführung beein-
trächtigt wird. Ergriffene Maßnahmen müssen vielmehr in Übereinstimmung
mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und Achtung des Familienlebens
stehen (Artikel 8 EMRK und Artikel 7 der Charta der Grundrechte). Genau so
argumentiert auch die EU-Kommission in ihrer Stellungnahme vom 4. Mai 2011
gegenüber dem EuGH in dem Verfahren Imran: Demnach ist es verboten, dass
ein Mitgliedstaat einem Familienmitglied ausschließlich aus dem Grund die
Einreise und den Aufenthalt verweigert, weil eine vorgeschriebene Eingliede-
rungsprüfung im Ausland nicht bestanden wurde. Geforderte Integrationsmaß-
nahmen dürften nicht als „Ausschlusskriterium“ oder „Einreisebedingung“ fun-
gieren und nicht zur Ablehnung des Familiennachzugs führen. Mit diesen
europarechtlichen Vorgaben ist die restriktive deutsche Regelung unvereinbar.

Auch das BVerwG nahm die Stellungnahme der EU-Kommission zum Anlass,
seine bisherige Auffassung zu korrigieren, die deutsche Regelung sei angeblich
ohne jeden Zweifel mit EU-Recht vereinbar (Beschluss vom 28. Oktober 2011,
1 C 9.10). „Die Frage, ob das Erfordernis einfacher deutscher Sprachkenntnisse
in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG [Aufenthaltsgesetz] mit Art. 7 Abs. 2 der
Richtlinie vereinbar ist“, müsse vielmehr durch den EuGH geklärt werden.
Allerdings hat die EU-Kommission, anders als das BVerwG in seinem Be-
schluss behauptet, ihre Auffassung gar nicht geändert: Bereits im Bericht zur
Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie vom 8. Oktober 2008
hatte die Kommission ausgeführt – hierauf ist das BVerwG in seinem Urteil vom
30. März 2010 jedoch nicht eingegangen –, dass Integrationsmaßnahmen im
Ausland nur dann zulässig seien, wenn sie „dem Grundsatz der Verhältnismä-
ßigkeit Rechnung tragen“, was z. B. davon abhängig sei, „inwieweit der Zugang

zu solchen Kursen oder Tests gewährleistet ist, wie sie konzipiert und/oder
organisiert sind (Kursunterlagen, Gebühren, Veranstaltungsort usw.)“; auch

Drucksache 17/8610 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
dürfe es nicht zu einem „Ausschluss von Familien mit geringem Einkommen
aufgrund hoher Gebühren“ kommen (Ratsdokument 14189/08, S. 9).

Die Einschränkung des Ehegattennachzugs durch Sprachanforderungen verstößt
bei türkischen Staatsangehörigen nach Auffassung des Niederländischen Ver-
waltungsgerichtshofs Centrale Raad van Beroep derart eindeutig gegen das Ver-
schlechterungsverbot des EWG-Türkei-Assoziationsrechts, dass er diese Frage
nicht einmal dem EuGH zur Klärung vorlegte (vgl. Urteil vom 16. August 2011,
10/5248 INBURG u. a.). Auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bun-
destages kam in einer Ausarbeitung vom 21. Juni 2011 zu einem entsprechenden
Ergebnis (WD 3 – 3000 – 188/11). Dessen ungeachtet weigert sich die Bundes-
regierung geradezu stur und uneinsichtig, aus der bereits vorliegenden Recht-
sprechung des EuGH die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, weil sie
ihr offenbar politisch nicht ins Konzept passen (vgl. zuletzt Bundestagsdruck-
sache 17/8318, Antworten zu den Fragen 15 bis 18). Dies verdeutlichte der Par-
lamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Ole Schröder,
als er in Beantwortung mündlicher Nachfragen am 30. November 2011 im Ple-
num des Deutschen Bundestages erklärte: „Letztlich ist das auch eine politische
Frage. Solange es rechtlich möglich ist, einen solchen Sprachnachweis zu
verlangen, werden wir das auch tun …“ (Plenarprotokoll 17/145 vom 30. No-
vember 2011, S. 17265 D). Serkan Tören, integrationspolitischer Sprecher der
Fraktion der FDP, bekundete hingegen „starke rechtliche Bedenken“ an der
„Rechtmäßigkeit des Sprachnachweiserfordernisses beim Ehegattennachzug“
(Plenarprotokoll 17/139, S. 16653 A).

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