BT-Drucksache 17/8440

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2011

Vom 23. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8440
17. Wahlperiode 23. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Agnes Alpers, Sevim Dag˘delen,
Petra Pau, Jens Petermann, Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das Jahr 2011

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Informa-
tionen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

So gab es im Jahr 2010 nicht nur 41 332 Asylverfahren und etwa 10 000 Flücht-
lingsanerkennungen. Es wurden zudem über 11 000 Verfahren eingeleitet, mit
denen der Flüchtlingsstatus bereits anerkannter Flüchtlinge noch einmal über-
prüft wurde; in über 2 500 Fällen führte dies zum Widerruf der Anerkennung,
zumeist wegen geänderter Bedingungen im Herkunftsland. Die Widerrufsquote
betrug 2010 zwar nur 16,4 Prozent und behördliche Widerrufe wurden bei einer
gerichtlichen Überprüfung auch nur zu knapp 25 Prozent bestätigt. Diese Ver-
fahren sind für die Betroffenen – politisch verfolgte und häufig traumatisierte
Flüchtlinge – dessen ungeachtet extrem belastend und für Behörden und Ge-
richte sehr arbeitsaufwändig. Die deutsche Widerrufspraxis ist in der Europä-
ischen Union einmalig restriktiv, denn kein anderer Mitgliedstaat kennt obliga-
torische Widerrufsprüfungen nach einer bestimmten Zeitdauer. Viele Länder
verzeichnen überhaupt keine oder nur vereinzelte Widerrufe; in Deutschland
hingegen gab es im Zeitraum von 2005 bis 2010 über 100 000 Widerrufsverfah-
ren und mit 38 500 war die Zahl der Asylwiderrufe fast so groß wie die Zahl der
Asylanerkennungen (41 000).

Auch viele durch das BAMF zunächst abgelehnte Asylsuchende sind verfolgt
oder gefährdet: Im Jahr 2010 wurden über 23 000 Klagen gegen ablehnende
Asylentscheidungen erhoben und nur 36 Prozent dieser Klagen wurden von den
Gerichten zurückgewiesen; bei afghanischen Asylsuchenden waren es sogar nur
13,9 Prozent.

Bei 22,8 Prozent aller Asylgesuche im Jahr 2010 war das BAMF der Auffas-
sung, dass ein anderes Land der EU für die Asylprüfung zuständig sei. Das
Land, das dabei mit Abstand am häufigsten ersucht wurde, Asylsuchende aus
Deutschland zu übernehmen (knapp 2 500 Ersuchen), war ausgerechnet das völ-

lig überforderte Griechenland. Besonders brisant: Während nach EUROSTAT-
Angaben (EUROSTAT = Statistisches Amt der Europäischen Union) Asyl-
suchende im Jahr 2009 in Deutschland zu 36,5 Prozent als schutzbedürftig aner-
kannt wurden, lag diese Quote in Griechenland bei nur 0,1 Prozent.

Drucksache 17/8440 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Ein behördliches Asylverfahren in Deutschland dauert im Durchschnitt etwa ein
halbes Jahr, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung inklusive Gerichtsverfah-
ren vergeht gut ein Jahr. Bei bestimmten Herkunftsländern mit geringen Aner-
kennungsquoten sind die entsprechenden Verfahrensdauern jedoch nur halb so
lang oder noch kürzer. Dies widerlegt eine verbreitete Vorstellung, wonach sich
ein Aufenthalt in Deutschland angeblich bereits durch eine Asylantragstellung
und lange Verfahren quasi „erzwingen“ ließe.

37,4 Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2010 waren minder-
jährige Kinder, fünf Prozent waren unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach Artikel 16a des
Grundgesetzes (GG), nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
(in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) und von Abschie-
bungshindernissen nach § 60 Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entschei-
dungspraxis des BAMF im vierten Quartal 2011 bzw. im Gesamtjahr 2011,
und wie lautet der Vergleichswert des Vorjahres (bitte in absoluten Zahlen
und in Prozent angeben, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftslän-
dern und der Art der Anerkennung differenzieren: Asylberechtigung (staat-
liche/nichtstaatliche Verfolgung); Flüchtlingsschutz (staatliche/nichtstaatliche
Verfolgung); subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 2 und 5 AufenthG (un-
menschliche Behandlung), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 3 AufenthG
(Todesstrafe), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG (be-
waffnete Konflikte), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG
(sonstige existenzielle Gefahren)?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im vierten Quartal 2011 bzw. im Ge-
samtjahr 2011 eingeleitet, und wie lautet der Vergleichswert des Vorjahres
(bitte Gesamtzahlen angeben und nach den verschiedenen Formen der Aner-
kennung und den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten Her-
kunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten be-
nennen)?

4. Wie lange war die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2011 (soweit
bekannt) bis zu einer behördlichen, wie lange war sie bis zu einer rechtskräf-
tigen Entscheidung (d. h. inklusive eines Gerichtsverfahrens, bitte auch nach
den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren und den jeweiligen
Vergleichswert für 2010 angeben)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im vierten
Quartal 2011 bzw. im Gesamtjahr 2011 eingeleitet, und wie lautet der Ver-
gleichswert des Vorjahres (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen die
Relation zu allen Asylerstanträgen sowie die Quote der auf EURODAC-Tref-
fern (EURODAC = europäische Datenbank zur Speicherung von Fingerab-
drücken) basierenden Verfahren und die Quote der Verfahren nach illegalem
Grenzübertritt ohne Asylgesuch angeben)?

a) Welche waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten betrof-
fenen Herkunftsländer und welche die zehn am stärksten angefragten EU-
Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen angeben
sowie in jedem Fall die Zahlen zu Griechenland und Malta nennen)?

b) Wie viele so genannte Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zu-

ständigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaats bzw. der Bundesrepublik
Deutschland, Selbsteintritt nach Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-II-Verord-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8440

nung, humanitäre Fälle nach Artikel 15 der Dublin-II-Verordnung) gab es
in den benannten Zeiträumen, und inwieweit trifft oder traf es zu, dass die
Bearbeitungssoftware des BAMF die Zahl der Selbsteintritte im Prinzip
zwar erfassen sollte oder könnte, diese Zahl jedoch unbrauchbar ist, weil
das entsprechende Eingabefeld von den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern in der Praxis häufig dazu benutzt wird, um eine Seite weiterzu-
kommen?

c) Wie viele Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung wurden in den
benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Werten und in Pro-
zentzahlen angeben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern
und EU-Mitgliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland und Malta –
differenzieren), und wie viele dieser Personen wurden unter Einschaltung
des BAMF, aber ohne Durchführung eines Asylverfahrens überstellt?

d) Wie hoch war der Anteil der in der Zuständigkeit der Bundespolizei durch-
geführten Dublin-Verfahren bzw. Überstellungen?

e) Wie viele Asylanträge wurden in den genannten Zeiträumen mit der Be-
gründung einer Nichtzuständigkeit nach der Dublin-II-Verordnung ab-
gelehnt oder eingestellt oder als unbeachtlich betrachtet, ohne dass ein
Asylverfahren mit inhaltlicher Prüfung durchgeführt wurde (bitte in abso-
luten und relativen Zahlen angeben)?

6. Wie viele Asylanträge wurden im vierten Quartal 2011 bzw. im Gesamtjahr
2011 (bitte auch die Vergleichswerte des Vorjahres nennen) nach § 14a
Absatz 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) von Amts wegen für hier
geborene (oder eingereiste) Kinder von Asylsuchenden gestellt, wie viele
Asylanträge wurden in den genannten Zeiträumen von Kindern bzw. für
Kinder unter 16 Jahren bzw. von Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren
bzw. von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in
absoluten Zahlen und in Prozentzahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asyl-
anträge sowie die Gesamtzahl der Anträge unter 18-Jähriger und sich über-
schneidende Teilmengen angeben), und wie hoch war die Gesamtschutzquote
bei unbegleiteten Minderjährigen bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie viele Asylanträge wurden im Jahr 2011 (bitte auch die Vergleichswerte
des Vorjahres nennen) mit der Begründung des Nichtbetreibens oder weil
eine Mitteilung des BAMF nicht zugestellt werden konnte (bitte differenzie-
ren) eingestellt oder abgelehnt oder als zurückgenommen bewertet, wie viele
Asylanträge wurden in den genannten Zeiträumen als „offensichtlich unbe-
gründet“ (bitte so genau wie möglich nach den einzelnen Absätzen und auch
Nummern des § 30 AsylVfG differenzieren) und wie viele jeweils mit Ver-
weis auf § 26a bzw. § 29a AsylVfG abgelehnt (bitte jeweils in absoluten und
relativen Zahlen angeben und bei den Ablehnungen als offensichtlich un-
begründet zudem genauere Angaben differenziert nach den zehn wichtigsten
Herkunftsländern machen)?

8. Wie viele so genannte Flughafenverfahren wurden in den Jahren 2009, 2010
und 2011 (bitte differenzieren) an welchen Flughafenstandorten mit welchem
Ergebnis durchgeführt (bitte wie in der Antwort zu Frage 2 auf Bundestags-
drucksache 16/12742 darstellen und soweit wie möglich Angaben zu minder-
jährigen unbegleiteten Flüchtlingen oder anderen besonders schutzbedürf-
tigen Gruppen machen, zusätzlich bitte noch Angaben zu den zehn
wichtigsten Herkunftsländern der Betroffenen machen)?

9. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im Be-
reich Asyl für das Jahr 2011 (bitte wie in der Antwort zu Frage 7 auf Bundes-
tagsdrucksache 17/4627 darstellen, soweit Daten vorliegen), und welche An-

gaben zur Dauer des gerichtlichen Verfahrens können gemacht werden?

Drucksache 17/8440 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Was verbirgt sich erfahrungsgemäß hinter den prozentual am häufigsten
vorkommenden „sonstigen Verfahrenserledigungen“ (bitte nach Erst- und
Folgeanträgen und Widerrufsverfahren getrennt beantworten und ungefähre
Einschätzungen dazu machen, wie häufig z. B. Rücknahmen damit verbun-
den sind, dass den klagenden Asylsuchenden ein Schutzstatus oder anderer
Aufenthaltstitel gewährt wird)?

10. Wie viele Anhörungen mittels Bild- und Tonübertragung wurden in den
Jahren 2011 bzw. 2010 unter Beteiligung welcher Außenstellen anberaumt
(bitte nach Quartalen und Staatsangehörigkeiten der Betroffenen differen-
ziert angeben)?

a) Wie viele Anhörungen gab es 2011 bzw. 2010 insgesamt, wie viele An-
hörerinnen und Anhörer wurden dabei eingesetzt (bitte geschlechtsspe-
zifisch differenzieren), bei wie vielen Anhörungen waren besonders
Schutzbedürftige (z. B. unbegleitete Minderjährige, Traumatisierte, ge-
schlechtsspezifisch Verfolgte) betroffen, bzw. wie oft wurde eine solche
besondere Schutzbedürftigkeit vor einer Anhörung vorgetragen bzw. bei
einer Anhörung festgestellt, und wie viele Sonderbeauftragte (welchen
Geschlechts) im BAMF gab es in den genannten Zeiträumen für welche
besonderen Gruppen?

b) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Ausarbeitung
des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „Verein-
barkeit von Asylanhörungen mittels Videokonferenztechnik mit den Be-
stimmungen des Asylverfahrensgesetzes“ (WD 3 – 3000 – 349/11), in
der Asylanhörungen mit Hilfe von Videokonferenztechnik ohne beson-
dere gesetzliche Grundlage in Anbetracht des Wortlauts, des Sinn und
Zwecks der Regelung, der Rechtssystematik und der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts als rechtswidrig eingeschätzt werden
(vgl. insbesondere die Seiten 8 bis 10 der Ausarbeitung), und welche
Argumente setzt die Bundesregierung dieser Ausarbeitung, die ihrer auf
Bundestagsdrucksache 17/6735 zu Frage 7 geäußerten Auffassung
widerspricht, gegebenenfalls entgegen (bitte detailliert ausführen)?

c) Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Beschluss
des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main vom 31. August 2006
(3 Ws 811/06) in Bezug auf die Praxis und die Frage der rechtlichen Zu-
lässigkeit von Asylanhörungen per Videokonferenztechnik, in dem fest-
gestellt wird, dass eine Anhörung mit Videokonferenztechnik „nicht in
gleicher Weise den für die Prognose wichtigen, auch durch Erschei-
nungsbild, Verhalten, Auftreten, Mimik und Körpersprache pp während
der Unterredung vermittelten unmittelbaren Eindruck von der Persön-
lichkeit zu geben vermag wie eine Anhörung ‚face to face‘“ und diese
Technik zudem geeignet sei, den Betroffenen „in seinen Ausdrucks-
möglichkeiten einzuengen sowie Ängste, Hemmungen und Nervosität
hervorzurufen und ihn damit in der Wahrnehmung seiner verfassungs-
rechtlich gewährleisteten Rechte einzuschränken“, wofür jedoch gege-
benenfalls ein „übergeordnetes Interesse erkennbar“ sein müsste, wozu
„ausschließlich arbeitsökonomische […] und fiskalische […] Gründe
[…]“ oder Gründe der „Bequemlichkeit“ allerdings ausdrücklich nicht
zählten (bitte begründet darlegen)?

d) Falls die Bundesregierung den genannten Beschluss des OLG Frankfurt
am Main für auf Asylanhörungen per Videokonferenztechnik nicht über-
tragbar hält, weil es dort um die Anhörung im Rahmen der Aussetzung
einer Restfreiheitsstrafe ging, warum nicht, und müssten die vom Ge-
richt genannten Grundsätze bei Anhörungen von Asylsuchenden nicht

umso mehr gelten, weil es hier einerseits um besonders sensible, grund-
rechtlich geschützte Güter geht (drohende politische Verfolgung und

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/8440

Bedrohung von Leib und Leben) und andererseits von vielen Asyl-
suchenden aus wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern bzw.
Kriegsgebieten ein noch viel weniger unbefangener Umgang mit der
Videokonferenztechnik erwartet werden kann als von deutschen Staats-
angehörigen (bitte detailliert begründen)?

11. Wie waren die Schutzquoten und Zahlen der Schutzgesuche bei Asyl-
suchenden aus Tunesien, Ägypten, Marokko, Syrien, Jemen, Katar, Saudi
Arabien und Libyen im vierten Quartal 2011 bzw. im gesamten Jahr 2011
(bitte auch die Vergleichswerte des Vorjahres nennen)?

12. Welche Entscheidungsvorgaben zu welchen asylsuchenden Personengrup-
pen aus Syrien gibt es derzeit im BAMF?

13. Wie ist der aktuelle Beratungsstand innerhalb der Bundesregierung (bitte
nach Innen- und Justizministerium differenziert beantworten) zu der Frage,
ob der gesetzliche Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechtsmit-
teln gegen Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung mit höherrangi-
gem Recht vereinbar ist (z. B. Europäische Menschenrechtskonvention,
Grundrechtecharta der EU), nachdem der Europäische Gerichtshof mit Ur-
teil vom 21. Dezember 2011 in den verbundenen Rechtssachen C-411/10
und C-493/10 klargestellt hat, dass eine Regelung, nach der bestimmte
Drittstaaten oder auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union unwider-
leglich als „sichere Staaten“ angesehen werden, grund- und europarechts-
widrig ist und nationale Behörden wie Gerichte bei entsprechend vorgetra-
genen ernsthaften und durch Tatsachen belegten Gefahren einer unmensch-
lichen oder erniedrigenden Behandlung oder bei systemischen Mängeln in
Bezug auf das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in dem be-
treffenden Staat diese Gefahren prüfen müssen und der letzte Aufnahme-
staat gegebenenfalls selbst in die Asylprüfung eintreten muss, wobei diese
Prüfung nach der Feststellung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine
Durchführung von Unionsrecht darstellt und mithin auch die Vorgaben der
EU-Grundrechtecharta, etwa zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf,
beachtet werden müssen (Nachfrage zu Frage 13 auf Bundestagsdrucksache
17/7395)?

14. Inwieweit plant die Bundesregierung nach der Entscheidung des EuGH
vom 21. Dezember 2011 insbesondere eine Änderung von Artikel 16a GG
oder von Bestimmungen im Asylverfahrensgesetz oder anderen Gesetzen
und Verordnungen, die Überstellungen bzw. Abschiebungen Asylsuchender
in bestimmte Drittstaaten bzw. in Mitgliedstaaten der Europäischen Union
ohne weitere inhaltliche Prüfung bzw. unter Umständen auch ohne die
Möglichkeit eines Rechtsschutzgesuchs mit aufschiebender Wirkung er-
möglichen, und welche konkreten Schlussfolgerungen und Konsequenzen
zieht die Bundesregierung im Übrigen aus diesem Urteil (bitte begründen)?

15. Inwieweit wird die Bundesregierung vor dem Hintergrund des Urteils des
EuGH vom 21. Dezember 2011 ihren bisherigen Prüfvorbehalt gegen einen
Vorschlag der EU-Kommission zur europarechtlichen Verankerung effek-
tiven Rechtsschutzes mit aufschiebender Wirkung im Asyl- bzw. Dublin-
verfahren und ihre ablehnende Haltung gegenüber einem Aussetzungs-
mechanismus im Dublinsystem zurücknehmen (bitte begründen)?

16. Inwieweit ist die bisherige Position der Bundesregierung, Griechenland
müsse zunächst seinen europarechtlichen vertraglichen Verpflichtungen in
Bezug auf die Gewährleistung von Mindestbedingungen im Asylverfahren
in der Praxis nachkommen, bevor an andere Verteilungsregelungen oder
Anhebungen der Standards im EU-Recht gedacht werden könne, noch halt-
bar, nachdem der EuGH in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 festge-

stellt hat, dass die auf Griechenland infolge des Flüchtlingszustroms lie-

Drucksache 17/8440 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gende „Last außer Verhältnis zu der Belastung der anderen Mitgliedstaaten
steht und es den griechischen Behörden tatsächlich unmöglich ist, diesen
Zustrom zu bewältigen“ (S. 21 im Urteil), d. h. dass der EuGH die objektive
Notwendigkeit von Änderungen an der derzeitigen ungleichen Verantwor-
tungsteilung im EU-Asylsystem klar benennt und in diesem Zusammen-
hang z. B. auch auf den, von der Bundesregierung bis heute bekämpften
Vorschlag der EU-Kommission eines Aussetzungsmechanismus bei Über-
forderungen einzelner Mitgliedstaaten Bezug nimmt (bitte ausführen)?

Berlin, den 23. Januar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.