BT-Drucksache 17/8302

Die fatalen Fehleinschätzungen zum Rechtsterrorismus durch das Bundesamt für Verfassungsschutz

Vom 4. Januar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8302
17. Wahlperiode 04. 01. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Petra Pau, Sevim Dag˘delen, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein,
Ulla Jelpke, Jens Petermann, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Die fatalen Fehleinschätzungen zum Rechtsterrorismus durch das Bundesamt
für Verfassungsschutz

Das „Handelsblatt“ berichtete über die Sitzung des Innenausschusses des Deut-
schen Bundestages vom 21. November 2011 und fasste das wesentliche Ergeb-
nis wie folgt zusammen: „Der Präsident des Bundesverfassungsschutzes (BfV),
Heinz Fromm, hat in der Sondersitzung des Innenausschusses des Deutschen
Bundestages eingeräumt, die Mordserie von Neonazis sei eine Niederlage für
die Sicherheitsbehörden‘.“ (Handelsblatt, 22. November 2011). Der Vorsitzende
des Innenausschusses, Wolfgang Bosbach fügte dem hinzu: Er habe „eine solche
Fülle von Fehleinschätzungen und unterbliebenen Handlungen noch nicht er-
lebt“ (Handelsblatt, 22. November 2011).

In einer Rede vor dem Jugendkongress des Zentralrats der Juden in Deutschland
am 27. November 2011 in Weimar führte der Präsident des BfV zu den Fehlein-
schätzungen seiner Behörde weiter aus: „Wir haben die jetzt bekannt gewor-
denen Täter nicht wirklich verstanden. Wir haben die Dimension ihres Hasses
ebenso unterschätzt wie ihren Willen zur Tat. Die Ermordung von Menschen aus
dem einzigen Grund, weil sie als ,fremdländisch‘ empfunden werden, passt in
die Gedankenwelt der rassistischen Täter. Das wussten wir. Und wir konnten uns
das als Bombenanschlag oder als Brandstiftung vorstellen, aber nicht als eine
kaltblütige Exekution. Dabei hätten man es durchaus besser wissen können:
Schließlich kennen wir die historischen Vorbilder dieser Leute“ (Rede von
Heinz Fromm am 27. November 2011).

14 Jahre lang konnte der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU) – offenbar
unentdeckt von den bundesdeutschen Sicherheitsbehörden – mindestens zehn
Menschen ermorden, zwei Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und
Schwerverletzten verüben und 14 Banküberfälle begehen.

Der NSU verfügte über ein breites Unterstützernetz. Die Täter und Helfershelfer
des NSU kamen aus einem Organisationsgeflecht und waren mit diesem bis zum
4. November 2011 eng verbunden. Organisationen wie der „Thüringische Hei-
matschutz“, „Fränkische Aktionsfront“, „Weiße Bruderschaft Erzgebirge“,
„Brigade Ost“ waren die neonazistischen Organisationen, die den alltäglichen
Terror auf die Straße trugen.

Und zu der gleichen Zeit töteten rechtsextremistische Schläger 138 Menschen
wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft, wegen ihrer politischen Auffassungen und
weil sie Obdachlose waren; die Bundesregierung erkennt von diesen Todesop-
fern nur 48 als Opfer rechtsextrem motivierter Gewalt an.

Drucksache 17/8302 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Rechtsextreme Organisationen entwickelten über Jahre eine bundesweite Strate-
gie der „National befreiten Zonen“ und übten in zahlreichen Gebieten ihren all-
täglichen Schrecken aus. Rechtsterroristische Gruppierungen horteten Waffen
und Sprengstoff und ihre Existenz wurde in den jährlichen Berichten des BfV
nicht als Gefahr dargestellt. Parteien wie die NPD konnten in diesem Klima in
mehrere Landtage einziehen. Rechtsextremisten entwickelten eine gewalttätige
„Musikkultur“ und Jugendbewegung. Rechtsextreme Hooligans tobten sich vor
und in den Fußballstadien aus.

Und ausgerechnet in dieser Situation und in diesem Klima fuhren die Bundes-
regierung und das BfV ihr Instrumentarium zur Bekämpfung des Rechtsextre-
mismus und Rechtsterrorismus dramatisch herunter: es wurde gleich die ganze
„Abteilung Rechtsextremismus“ im BfV im Jahr 2006 auf Anordnung des Bun-
desministeriums des Innern (BMI) aufgelöst.

In der Tat hätte es das gesamte Personal des BfV und auch seine Leitungsebene
„besser wissen können“. Hilfreich wäre es gewesen, wenn man die Hinweise der
parlamentarischen Opposition über die Aktivitäten und Menschenverachtung
des rechtsextremen Organisationsgeflechts zur Kenntnis genommen hätte und
wenn man die Fülle der Materialien der demokratischen Zivilgesellschaft zum
gleichen Thema ernst genommen hätte. Politisch wurde aber ein anderer Weg
eingeschlagen: Die Organisationen der Zivilgesellschaft wurden infolge ihres
antifaschistischen Engagements automatisch mit Linksextremismus-Beschlüs-
sen traktiert und ihnen wurden die Gelder zur Aufklärung über die Gefahren des
Rechtsextremismus gekürzt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Gründe haben das Bundesministerium des Innern (BMI) im Jahr
2006 dazu veranlasst, die Abteilung Rechtsextremismus im BfV aufzulösen?

2. Welche konkreten Auswirkungen hatte dies fachlich und personell für die
Ausforschung und Beobachtung des bundesdeutschen und internationalen
Rechtsextremismus?

3. Welche konkreten Auswirkungen hatte dies auf die einzelnen Organisations-
bereiche des BfV, die bis zum Jahr 2006 für die Bekämpfung des Rechts-
extremismus zuständig waren (bitte einzeln auflisten)?

4. Welche konkreten Auswirkungen hatte dies auf die wissenschaftliche Erfor-
schung aktueller politischer und ideologischer Strömungen des Rechtsextre-
mismus?

5. Welche konkreten Auswirkungen hatte dies auf die interne Ausbildung und
Qualifizierung des Personals des BfV, das weiterhin für die Bekämpfung des
Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus zuständig war?

6. Welche konkreten Auswirkungen hatte die Auflösung der „Abteilung Rechts-
extremismus“ auf die Bund-Länder-Zusammenarbeit der Verfassungsschutz-
behörden und auch auf die Arbeit der IGR?

7. Welche weiteren negativen Auswirkungen bei der Bekämpfung des Rechts-
extremismus hat die Auflösung der „Abteilung Rechtsextremismus“ des BfV
nach Einschätzung der Behördenleitung gehabt?

8. Welche weiteren negativen Auswirkungen bei der Bekämpfung des Rechts-
extremismus hat die Auflösung der „Abteilung Rechtsextremismus“ des BfV
nach Einschätzung des BMI gehabt?

9. Hat es offene Auseinandersetzungen zwischen der Behördenleitung des BfV
und dem BMI wegen der Auflösung der „Abteilung Rechtsextremismus“ ge-
geben?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8302

10. Welche Überlegungen und Gründe sprachen nach Ansicht des BMI dafür,
eine „Abteilung Rechtsextremismus“ nach dem 4. November 2011 wieder
aufzubauen?

11. Wie bewertet das BMI seine Entscheidung aus dem Jahr 2006 aus heutiger
Sicht, die „Abteilung Rechtsextremismus“ aufzulösen?

12. Wie wurde die Gefahr des Rechtsterrorismus innerhalb des BfV seit 1998
eingeschätzt, und wie hat sich die (fast) durchgängige Einschätzung, dass es
keine reale rechtsterroristische Gefährdung gibt, personell und organisa-
torisch auf die Arbeit der zuständigen Abteilungen ausgewirkt?

a) Welche Arbeitsgruppen wurden deswegen seit 1998 aufgelöst?

b) Welche Arbeitsprojekte wurden deswegen eingestellt?

c) Welche Dateien zur Bekämpfung des Rechtsterrorismus wurden ein-
gestellt?

13. Wie erklärt sich die Bundesregierung vor dem Hintergrund der vielen
Waffen-, Sprengstoff- und Bombenfunde bei Rechtsextremisten seit 1998
die fast völlige und falsche Entwarnung vor den Gefahren des Rechtster-
rorismus?

14. Wie hat sich nach dem 11. September 2001 die veränderte Schwerpunkt-
setzung, die laut dem Präsidenten des BfV, Heinz Fromm, „politisch, medial
und sicherheitsbehördlich“ (siehe seine Rede vom 27. November 2011 in
Weimar) zwingend war, auf die Arbeit des BfV im Bereich Rechtsextremis-
mus organisatorisch und personell ausgewirkt?

15. Trifft nach Kenntnis der Bundesregierung die Einschätzung des Präsidenten
des BfV, Heinz Fromm, zu, dass man es in Bezug auf die Gefährlichkeit des
Rechtsextremismus im BfV „durchaus besser wissen“ hätte können, und
waren große Teile der gesamten Behörde politisch und inhaltlich völlig
falsch auf ihre Aufgaben vorbereitet?

a) Wenn ja, wie erklärt die Bundesregierung dies?

b) Wenn nein, warum nicht?

16. Bei wie vielen Straftaten von Rechtsextremisten seit 1998 gab es Bekenner-
schreiben, und bei wie vielen Straftaten seit 1998 gab es keine Bekenner-
schreiben (bitte nach Jahren auflisten)?

17. Wird im BfV über Qualifizierungsmaßnahmen für das gesamte Personal
– einschließlich des leitenden Personals – nachgedacht, wie Angestellten und
Beamten der Behörde beigebracht werden soll, dass man Taten von Rechts-
extremisten auch ohne Bekennerschreiben als solche erkennen kann und dass
man die menschenverachtende Programmatik des Rechtsextremismus ernst
nehmen muss, und wenn ja, wie soll diese Qualifizierung exakt aussehen?

18. Würde die Bundesregierung und namentlich die Leitung des BMI auch auf
sich die Erkenntnis des Präsidenten des BfV, Heinz Fromm, „Man hätte es
durchaus besser wissen können“, anwenden, und wenn nein, warum nicht?

19. Welche internen Konsequenzen sind seit dem 4. November 2011 im BfV
aus den gravierenden Fehleinschätzungen, bezogen auf die Nichterkennung
des Abtauchens des NSU und seine terroristischen Taten gezogen worden,
und wie wirkt sich dies auf die Organisationsstruktur und die Schulung des
Personals und der Behördenleitung aus?

Berlin, den 3. Januar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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