BT-Drucksache 17/7981

V-Leute in der Naziszene abschalten und Unabhängige Beratungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus einrichten

Vom 30. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7981
17. Wahlperiode 30. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Herbert Behrens, Dr. Rosemarie Hein,
Dr. Lukrezia Jochimsen, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel,
Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

V-Leute in der Naziszene abschalten und Unabhängige Beobachtungsstelle
Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus einrichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Mordserie der unter dem Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“
(NSU) firmierenden Neonazigruppe hat sich zu einem der größten Skandale
der deutschen Sicherheitsbehörden entwickelt. Der Verdacht steht im Raum,
dass Verfassungsschutzbehörden, trotz Durchsetzung des engen Umfeldes
der späteren Täter mit V-Leuten, die Gruppe auf fahrlässige Weise aus dem
Blick verloren haben und nicht in der Lage waren, eine über zehn Jahre an-
dauernde Mord- und Verbrechensserie zu stoppen. Kontakte des in die
Illegalität abgetauchten Trios und Hinweise auf ihren zwischenzeitlichen
Aufenthaltsort wurden trotz der zahlreichen V-Leute nicht bekannt bzw.
ignoriert. Aus Sicht des Deutschen Bundestages stellt sich damit die Frage
nach der Sinnhaftigkeit nicht nur des Verfassungsschutzes, sondern auch des
Einsatzes von V-Leuten in der Naziszene, wenn diese ganz offensichtlich
keinerlei Beitrag zur Verhinderung schwerster Verbrechen liefern konnten.
Die Aussage des CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder bringt die
Frage des V-Leute-Einsatzes auf den Punkt: „Ein Instrument, das uns nichts
bringt, nützt uns auch nichts.“ (tagesschau.de, 15. November 2011).

2. Der Fall der neonazistisch motivierten Mordserie zeigt darüber hinaus nicht
nur die Nutzlosigkeit des Instruments der V-Leute, sondern ist ein weiterer
Beleg, dass die V-Leute im Gegenteil zu einer Stärkung der Szene führen
können. Die Vermutung, dass das spätere Mordtrio 1998 sich dem Zugriff
der Behörden durch Hinweise von V-Leuten entziehen konnte, ist bis heute
nicht ausgeräumt. Mit der Bezahlung von V-Leuten trägt der Staat zur finan-
ziellen Unterstützung von Nazistrukturen bei, denen auch die Täter der
Mordserie entstammten. So soll der mit dem Mordtrio verbundene Anführer
des „Thüringer Heimatschutzes“ und spätere NPD-Kader Tino Brandt ca.
200 000 DM vom Staat erhalten haben, mit denen er nach eigener Aussage
die eigenen Organisationen unterstützte. Ob mit diesem Geld auch das ab-

getauchte Trio unterstützt wurde, ist zumindest nicht auszuschließen.

3. Bis heute stellt die Anwesenheit von V-Leuten in der NPD das wichtigste
Hindernis für ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD dar. Die Durch-
setzung der Partei mit staatlich bezahlten Spitzeln ist damit zur verlässlichsten
Sicherung der NPD vor einem Verbot durch das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) geworden. Schon das erste und aus genau diesem Grund einzige
Verbotsverfahren gegen die NPD ist an diesem Hindernis gescheitert.

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4. Die Begründung des BVerfG zur Einstellung des Verfahrens im Jahr 2003
war hier ganz deutlich, die Handlungshinweise an die politisch Verantwort-
lichen unmissverständlich: „Das Gericht kann seine Aufgabe der Gewähr-
leistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens nur dann wahrnehmen, wenn
auch die zur Antragstellung berechtigten Verfassungsorgane die ihnen zu-
gewiesene Verfahrensverantwortung erkennen und wahrnehmen. Es ist
zunächst die Pflicht der Antragsteller, durch sorgfältige Vorbereitung ihrer
Anträge die notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung eines
Verbotsverfahrens zu schaffen. Deshalb müssen die staatlichen Stellen
rechtzeitig vor dem Eingang des Verbotsantrags beim Bundesverfassungs-
gericht – spätestens mit der öffentlichen Bekanntmachung der Absicht, einen
Antrag zu stellen – ihre Quellen in den Vorständen einer politischen Partei
„abgeschaltet“ haben; sie dürfen nach diesem Zeitpunkt keine die „Abschal-
tung“ umgehende „Nachsorge“ betreiben, die mit weiterer Informations-
gewinnung verbunden sein kann, und müssen eingeschleuste V-Leute zu-
rückgezogen haben.“ (www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/
bs20030318_2bvb000101.html).

5. Die in regelmäßigen Abständen wiederkehrende Diskussion um ein NPD-
Verbot bleibt nach Überzeugung des Deutschen Bundestages solange un-
glaubwürdig, wie nicht den klar formulierten Vorgaben des BVerfG nach-
gekommen wird. Wenn die politischen Verantwortungsträger mehrheitlich zu
der Einschätzung kommen, dass die NPD eine wichtige ideologische und
organisatorische Stütze der neofaschistischen Szene ist und sich in aggressiv-
kämpferischer Weise gegen die Grundwerte der Verfassung wendet, dann ist
es nach Überzeugung des Bundestages ihre Pflicht, alle Hindernisse für einen
erfolgreichen Verbotsantrag aus dem Weg zu räumen.

6. Die Durchsetzung der NPD und anderer Strukturen der extremen Rechten mit
V-Leuten des Verfassungsschutzes ist nicht zielführend im Sinne einer nach-
haltigen Schwächung und Zurückdrängung der Partei und der Naziszene. Die
vorliegenden Erfahrungen und Erkenntnisse über das Wirken von V-Leuten
in der NPD und der neofaschistischen Szene zeigen eher das Gegenteil. So
trugen vom Staat bezahlte Spitzel zur ideologischen und organisatorischen
Verfestigung der Szene bei. Im Hinblick auf den Schutz der realen und
potenziellen Opfer rechtsextremer Gewalt und auch im Hinblick auf den
Schutz der Demokratie gegen ihre Feinde hat der Einsatz von V-Leuten nicht
nur keinen Gewinn gebracht, sondern, u. a. durch das Scheitern des ersten
NPD-Verbotsverfahrens, zu einer Stärkung der extremen Rechten beigetra-
gen. Die für die Auseinandersetzung mit der extremen Rechten nötigen Infor-
mationen und Analysen sollten und können auf besseren und verlässlicheren
Wegen erlangt werden, als über den Einsatz von V-Leuten.

7. Vor dem Hintergrund der Mord- und Gewaltserie von Neonazis des soge-
nannten Nationalsozialistischen Untergrunds und des ganz offensichtlichen
Versagens der Verfassungsschutzbehörden sieht es der Bundestag als drin-
gend erforderlich an, die Beobachtung der rechtsextremen Szene auf eine
neue Grundlage zu stellen. Es darf nicht länger den fragwürdigen Arbeits-
methoden des Verfassungsschutzes vorbehalten sein, die Öffentlichkeit über
die Strukturen und Gefahren der extremen Rechten zu informieren. Es gibt
in der Bundesrepublik Deutschland keine zentrale Stelle, die die verstreuten
Erkenntnisse zur Entwicklung der extremen Rechten unter gesellschafts-
politischen Gesichtspunkten zusammenfasst und einschätzt. Dies meint eine
Gesamtbetrachtung jenseits der eingeschränkten Aufgaben des Verfassungs-
schutzes. Aufgrund der besorgniserregenden Entwicklung der extremen
Rechten aber auch eines weit verbreiteten Rassismus und der zunehmenden
Ausgrenzung minoritärer Gruppen ist eine solche Unabhängige Beobach-

tungsstelle, die dem Deutschen Bundestag regelmäßig Bericht erstattet,
nötig und überfällig. Während der Sicherheitsdiskurs zum Thema islamisti-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7981

scher Terrorismus allgegenwärtig ist und zu zahlreichen Verschärfungen der
Sicherheitsmaßnahmen führte, werden die ganz realen und alltäglichen Be-
drohungen für zahlreiche Menschen in diesem Land nur aus Anlass spekta-
kulärer Übergriffe erwähnt. Von 1990 bis heute sind nach Recherchen unab-
hängiger Projekte und Journalisten über 140 Menschen von rechtsextremen
Gewalttätern getötet worden. Diese alltägliche Gewalt der extremen Rech-
ten unabhängig zu dokumentieren, ein realistisches Bild der Lage im Be-
reich Rechtsextremismus zu zeichnen, Vorschläge zur Prävention und für die
Entwicklung zivilgesellschaftlicher Handlungsstrategien sowie der Erarbei-
tung pädagogischer Konzepte zu machen, sollen Aufgaben der Unabhängi-
gen Beobachtungsstelle sein.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Bundesamt für Verfassungsschutz anzuweisen, die V-Leute in der NPD
und der neofaschistischen Szene unverzüglich abzuschalten,

2. sich im Rahmen der Innenministerkonferenz gegenüber den Ländern für
einen ebensolchen Schritt auf Landesebene einzusetzen,

3. den Deutschen Bundestag über das Ergebnis der Gespräche mit den Ländern
zu informieren,

4. eine Unabhängige Beobachtungsstelle Rechtsextremismus, Rassismus, Anti-
semitismus einzurichten und dem Deutschen Bundestag hierfür bis zum
31. März 2012 ein inhaltliches, organisatorisches und finanzielles Konzept
vorzulegen.

Berlin, den 30. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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