BT-Drucksache 17/7625

Zu den gezielten Sanktionen und Menschenrechtsverletzungen in Côte d'Ivoire

Vom 7. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7625
17. Wahlperiode 07. 11. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike
Hänsel, Inge Höger, Andrej Hunko, Niema Movassat, Kathrin Vogler und
der Fraktion DIE LINKE.

Zu den gezielten Sanktionen und Menschenrechtsverletzungen in Côte d’Ivoire

Bei den Stichwahlen in der Côte d’Ivoire um das Präsidentenamt vom 28. No-
vember 2010 kam es zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Aus-
einandersetzungen. Daraufhin erklärte die „Unabhängige Wahlkommission“
Alassane Ouattara, der „Nationale Verfassungsrat“ hingegen den Amtsinhaber
Laurent Gbagbo zum Sieger und neuen Präsidenten. Der Leiter der vor Ort
präsenten UN-Mission UNOCI (Operation der Vereinten Nationen an der Elfen-
beinküste), Choi Young-jin, versicherte anschließend dem UN-Sicherheitsrat,
die Wahlen hätten in einem „demokratischen Klima“ stattgefunden und Alassane
Ouattara als eindeutigen Sieger hervorgebracht. Vertreter/Vertreterinnen der UN,
der USA, der Europäische Union (EU) und Deutschlands gratulierten daraufhin
Alassane Ouattara zum Sieg, erkannten ihn als Präsidenten an und forderten
Laurent Gbagbo zur Aufgabe seines Amtes auf.

Die EU erließ daraufhin zahlreiche Sanktionen gegen Personen, die (mutmaß-
lich) Laurent Gbagbo als Präsidenten unterstützten. Mit dem Beschluss des Ra-
tes 2010/801/GASP vom 22. Dezember 2010 wurde das bestehende Sanktions-
regime gegen die Côte d’Ivoire erweitert sowie Konteneinfrierungen und Reise-
beschränkungen gegen Laurent Gbagbo, dessen Frau, große Teile der Regierung
und des Sicherheitsapparates und Medienvertretern erlassen. Mit dem Beschluss
des Rates 2011/17/GASP vom 11. Januar 2011 wurden diese Sanktionen auf
weitere Regierungsmitglieder, Medienvertreter, sowie Leiter der Steuer- und
Zollbehörden und Industrielle unter dem Vorwurf erweitert, diese würden zu
„Hass und Gewalt“ aufrufen oder zur Finanzierung der Regierung Gbagbo bei-
tragen. Zugleich wurden auch fünf Mitglieder des ivorischen Verfassungsrates
wegen Beteiligung an der „Validierung falscher Wahlergebnisse“ sanktioniert.
Mit dem folgenden Beschluss des Rates 2011/18/GASP wurde die Sanktions-
liste um elf Organisationen und Unternehmen sowie 26 Personen erweitert,
u. a. mit der Begründung, dass diese sich „weigert[en], sich der Autorität des
demokratisch gewählten Präsidenten zu unterstellen“. Mit dem Beschluss des
Rates 2011/221/GASP vom 6. April 2011 wurden die Sanktionen erneut aus-
geweitet.

Insbesondere die Sanktionen gegen Banken, Häfen, Öl- und Kakao-Gesellschaf-

ten hatten sich als ausgesprochen „wirkungsvoll“ erwiesen. Nach einem Bericht
des humanitären Landesteams der UN in Côte d’Ivoire brachten sie das wirt-
schaftliche Leben im Land fast vollkommen zum Erliegen, die Preise für
Lebensmittel stiegen rasant und das Gesundheitssystem kollabierte u. a. auf-
grund eines fehlenden Nachschubs an Medikamenten (www.irinnews.org/pdf/
Impact_situation_de_crise_CI_final_9mars2011.pdf).

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Nach Angaben des Rates richteten sich die Sanktionen gegen Personen und
Organisationen „die den Prozess des Friedens und der nationalen Aussöhnung
blockieren“, „für schwere Verletzungen der Menschenrechte und des humani-
tären Völkerrechts in Côte d’Ivoire verantwortlich“ seien oder gegen das
Waffenembargo nach Resolution 1572 (2004) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen verstoßen hätten. Tatsächlich jedoch betrafen sie augenscheinlich
ausschließlich Anhänger/Anhängerinnen und Unterstützerinnen des Gbagbo-
Regimes.

Zahlreiche Berichte von Menschenrechtsorganisationen sowie Wahlbeobachter/
Wahlbeobachterinnen hingegen legen davon Zeugnis ab, dass es jedoch bereits
im Vorfeld der Wahlen auch zu schweren Menschenrechtsverletzungen durch die
Anhänger/Anhängerinnen Alassane Ouattaras gekommen sei (www.ivoireleaks
.de/Wahlbeobachtung.html). In einem sehr ausführlichen Bericht von Human
Rights Watch (www.hrw.org/sites/default/files/reports/cdi1011WebUpload.pdf)
wird dies bestätigt und deutlich, dass v. a. ab dem 24. Februar 2011, als die
Offensive der Pro-Ouattara-Kräfte begann, eine Mehrzahl der Menschenrechts-
verletzungen von diesen ausging. Insbesondere beim Vormarsch der „Republi-
kanischen Kräfte“ (FRCI) von Toulepleu nach Guiglo kam es zu zahlreichen
Massenhinrichtungen (von Männern und männlichen Jugendlichen), Massen-
vergewaltigungen (oft über Tage hinweg) und systematischen Plünderungen in
den eingenommenen Dörfern. Besonders grausam sind demnach auch die „Un-
sichtbaren Kommandos“ vorgegangen, die den Vormarsch der FRCI insbeson-
dere in Abidjan unterstützten. Deren Vormarsch wurde von der UNOCI-Mission
nicht behindert und zumindest in Abidjan aktiv unterstützt. Zuvor hatte es die
UNOCI entgegen zahlreicher Friedensabkommen und UN-Resolutionen unter-
lassen, die in die FRCI aufgegangenen „Forces Nouvelles“ zu entwaffnen. Auch
die Elitesoldaten der französischen Operation Licorne griffen aktiv auf Seiten
der FRCI und der „Unsichtbaren Kommandos“ in die Gefechte ein und ermög-
lichten die Festnahme Gbagbos am 11. April 2011. Bereits zuvor wurden am
8. April 2011 mit dem Beschluss des Rates 2011/230/GASP die Sanktionen ge-
gen die Häfen von Abidjan und San Pedro (sowie gegen die Ivorische Raffine-
riegesellschaft und das Verwaltungskomitee der Kaffee- und Kakaogesellschaft)
aufgehoben, nachdem diese von der FRCI eingenommen wurden.

Am 4. Mai 2011 besuchte der EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs die
neue Regierung Ouattara, sicherte ihr langfristige Unterstützung bei der „Ver-
söhnung und dem Neustart der Entwicklung des Landes“ und Hilfsprogramme
in Höhe von 180 Mio. Euro zu. Nachdem der Nationale Verfassungsrat Alassane
Ouattara als Sieger anerkannt hatte, wurden am 22. September 2011 mit dem Be-
schluss des Rates 2011/627/GASP auch die Sanktionen gegen dessen Mitglieder
sowie gegen Industrielle aufgehoben. Ebenfalls aufgehoben wurden die Sank-
tionen gegen Hilaire Babri Gohourou, die zuvor mit von ihm zu verantwortende
Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht begründet worden waren.

Von Versöhnung kann hingegen bis heute keine Rede sein. Die FRCI (mittler-
weile umbenannt in FANCI) waren alleine zwischen Mitte Juli und Mitte August
2011 an mindestens 26 extralegalen Tötungen beteiligt und haben sich aus eini-
gen Regionen und Stadtteilen wieder zurückgezogen, da sie ständigen An-
feindungen und Angriffen ausgesetzt waren (www.irinnews.org/report.aspx?
ReportId=93886). Regionen, die zuvor überwiegend von Gbagbo-Anhänger/
-Anhängerinnen bewohnt waren, werden bis heute von Milizen terrorisiert
(www.irinnews.org/report.aspx?ReportID=93962), etwa eine halbe Million
Menschen sind nach wie vor auf der Flucht, weil ihre Dörfer zerstört sind
oder sie Angriffe durch die Anhänger/Anhängerinnen Ouattaras befürchte
(www. oxfam.org/en/policy/towards-durable-solutions-displaced-ivoirians). Gegen
58 Angehörige der offiziellen und für Laurent Gbagbo kämpfenden Sicherheits-

kräfte wurden mittlerweile Verfahren wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7625

eröffnet, jedoch gegen keinen einzigen Angehörigen der FRCI/FANCI oder der
mit ihr verbündeten Milizen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Zwecke verfolgen die von der EU verhängten „gezielten Sanktio-
nen“ gegen Mitglieder und Anhänger/Anhängerinnen des Gbagbo-Regimes
bzw. die betroffenen Journalistinnen und Journalisten sowie Unternehmer/
Unternehmerinnen?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die Wirkung dieser Sanktionen?

3. Welche Auswirkungen der Sanktionen auf die wirtschaftliche, soziale, ge-
sundheitspolitische und humanitäre Lage in Côte d’Ivoire sind der Bundes-
regierung bekannt?

4. Gegen welche Personen, die als Anhänger/Anhängerinnen Alassane
Ouattaras galten, für diesen kämpften oder ihn finanziell unterstützten, wur-
den Sanktionen durch die EU verhängt?

5. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass lediglich die Anhänger/An-
hängerinnen Laurent Gbagbos den „Prozess des Friedens und der nationalen
Aussöhnung blockier[t]en“?

6. Welche Menschenrechtsverletzungen durch Angehörige und Anhänger/An-
hängerinnen der Forces Nouvelles/FRCI/FANCI sind der Bundesregierung
vor der Stichwahl am 28. November 2010, zwischen der Stichwahl und der
Festnahme Laurent Gbagbos und nach dessen Festnahme bekannt?

7. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Wahlen in einem „demo-
kratischen Klima“ stattgefunden hätten und ihre Ergebnisse eindeutig gewe-
sen seien?

8. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass sich auch die „Unabhängige
Wahlkommission“ und der Leiter der UN-Mission UNOCI, Choi Young-jin,
der „Validierung falscher Wahlergebnisse“ schuldig gemacht haben?

9. Welche Gründe sind der Bundesregierung für die Aufstockung der UNOCI-
Truppen und den Transfer von Kampfhubschraubern aus Liberia und die
Auswahl ihrer Stationierungsorte im Vorfeld der Wahlen bekannt?

10. Wie viele Waffen befanden sich nach Schätzungen der Bundesregierung
zum Zeitpunkt der Wahlen im Besitz der Forces Nouvelles, und wie viele
waren zu diesem Zeitpunkt entsprechend dem Mandat der UNOCI einge-
sammelt und vernichtet worden?

11. Welche Maßnahmen hat die UNOCI nach Kenntnis der Bundesregierung
unternommen, um den Vormarsch der Forces Nouvelles/FRCI entsprechend
ihrem Mandat zu stoppen?

12. Welche Maßnahmen hat die UNOCI nach Kenntnis der Bundesregierung
unternommen, um die schweren Menschenrechtsverletzungen beim Vor-
marsch der Forces Nouvelles/FRCI von Toulepleu nach Guiglo entspre-
chend ihrem Mandat zu stoppen?

13. Wann und aus welchen Anlässen haben die UNOCI-Kräfte nach Kenntnis
der Bundesregierung in Gefechte zwischen den Truppen/Anhängern/An-
hängerinnen Laurent Gbagbos und Alassane Ouattaras (einschl. der „Un-
sichtbaren Kommandos“) eingegriffen?

14. Wann und aus welchen Anlässen haben die Kräfte der französischen Mission
Licorne nach Kenntnis der Bundesregierung in Gefechte zwischen den Trup-
pen/Anhängern/Anhängerinnen Laurent Gbagbos und Alassane Ouattaras

(einschl. der „Unsichtbaren Kommandos“) eingegriffen?

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15. Sind der Bundesregierung Berichte bekannt, nach denen 317 Soldaten der
Operation Licorne bei den Gefechten 2011 getötet wurden (www.french-
revolution.fr/2011/06/24/frenchrevolution-317-soldats-morts-pour-la-france-
en-cote-divoire-en-2011/), wie schätzt sie diese Berichte ein, und über
welche Informationen verfügt sie über französische Verluste während der
Auseinandersetzungen um das Präsidentenamt 2010/2011 in Côte d’Ivoire?

16. Sind der Bundesregierung Hinweise bekannt, dass die Forces Nouvelles/
FRCI bei ihrem Vormarsch über Waffen verfügten, die nach 2004 bzw. im
unmittelbaren Vorfeld ins Land kamen, und wurden hierfür verantwortliche
Personen von der EU sanktioniert?

17. Welche der von der EU auf Grundlage des Beschlusses des Rates 2010/656/
GASP mit Sanktionen belegten Personen haben hiergegen rechtliche
Schritte unternommen, insbesondere Klagen und Widersprüche vor dem
Europäischen Gerichtshof (EUGH), und welche Beschlüsse und Urteile er-
gingen in diesen Fällen (bitte nach Person, Datum, Aktenzeichen, Urteil,
Rechtsmittel auflisten)?

Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus den Urteilen in diesen Fäl-
len?

18. Aus welchen Gründen wurde Hilaire Babri Gohourou mit Sanktionen belegt,
und aus welchen Gründen wurden diese mittlerweile aufgehoben, obwohl
ihm weiterhin Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht vorgeworfen
werden?

19. Aus welchen Gründen wurde Kadio Morokro Mathieu, Präsident der einzi-
gen privaten ivoirischen Ölgesellschaft, mit Sanktionen belegt, und aus wel-
chen Gründen wurden diese mittlerweile aufgehoben?

20. Welche detaillierten Gründe sind der Bundesregierung dafür bekannt, dass
die Tätigkeit Zakaria Fellahs für die UNOCI beendet wurde?

21. Welche detaillierten Gründe sind der Bundesregierung dafür bekannt, dass
Zakaria Fellah von der EU mit Sanktionen belegt wurde?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die Kritik Zakaria Fellahs an der UNOCI
und seine Behauptung, Laurent Gbagbo sei durch französische Soldaten
festgenommen worden, und welche eigenen Informationen hat sie über die
Umstände der Festnahme Laurent Gbagbos (www.wsws.org/articles/2011/
apr2011/ivor-a12.shtml)?

23. Welche Mittel aus welchen Haushaltsposten und welche anderen Formen
der Unterstützung hat die Bundesregierung seit der Stichwahl am 28. No-
vember 2011 der Regierung Ouattara bereitgestellt (bitte nach Datum auf-
listen)?

24. Welche Mittel aus welchen Finanzinstrumenten und welche anderen For-
men der Unterstützung hat die EU seit der Stichwahl am 28. November 2011
der Regierung Ouattara bereitgestellt (bitte nach Datum auflisten)?

25. Befinden sich gegenwärtig Sicherheitsexpertinnen und Sicherheitsexperten
oder -berater/- beraterinnen im Auftrag der Bundesregierung oder der EU in
Côte d’Ivoire?

Wenn ja, was sind deren Aufgaben, und wem sind diese unterstellt?

26. Wie bewertet die Bundesregierung den Versöhnungsprozess und die Aufar-
beitung der Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Auseinandersetzun-
gen um das Präsidentenamt 2010/2011, und welche entsprechenden Maß-
nahmen durch die Regierung Ouattara sind ihr bekannt (bitte auch den

konkreten Inhalt dieser Maßnahmen angeben)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7625

27. Was ist der Bundesregierung bekannt über Verfahren wegen Menschen-
rechtsverbrechen und Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht gegen
Anhänger/Anhängerinnen Laurent Gbagbos oder diesen unterstehenden
Sicherheitskräften, und wie bewertet sie diese?

28. Was ist der Bundesregierung bekannt über Verfahren wegen Menschen-
rechtsverbrechen und Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht gegen
Anhänger/Anhängerinnen Ouattaras oder diesen unterstehenden „Sicher-
heitskräften“, und wie bewertet sie diese?

29. Wie schätzt die Bundesregierung die Legitimität der Regierung Ouattara so-
wohl auf internationaler Ebene, als auch innerhalb der Bevölkerung der
Côte d’Ivoire ein?

Berlin, den 7. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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