BT-Drucksache 17/7459

Für eine neue Bleiberechtsregelung

Vom 25. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7459
17. Wahlperiode 25. 10. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Petra Pau,
Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der
Fraktion DIE LINKE.

Für eine neue Bleiberechtsregelung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag nimmt mit Besorgnis zur Kenntnis, dass ungeachtet mehrerer
Altfall- und Bleiberechtsregelungen immer noch knapp 90 000 Menschen
lediglich geduldet in der Bundesrepublik Deutschland leben, über 50 000 von
ihnen bereits länger als sechs Jahre. Das von allen Seiten beklagte Problem
der Kettenduldungen wurde bislang nicht wirksam gelöst. Statt weiterer
Flickschusterei bedarf es endlich einer umfassenden und großzügigen gesetz-
lichen Bleiberechtsregelung.

2. Ein besonderer Handlungsbedarf ergibt sich aus der zum Jahreswechsel
2011/2012 auslaufenden Regelung einer Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“.
Voraussichtlich fallen dadurch Tausende Menschen wieder in den Duldungs-
status zurück. Sie müssen ihre Abschiebung fürchten, obwohl sie dann be-
reits seit mehr als zehneinhalb (Einzelpersonen) bzw. zwölfeinhalb Jahren
(Familien) in Deutschland leben. Das ist den hier faktisch längst integrierten
Menschen nicht zuzumuten und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unverein-
bar.

3. Die bisherigen Bleiberechtsregelungen waren ungeeignet, weil sie als ein-
malige Stichtagsregelungen und aufgrund zahlreicher Ausschlussgründe zu
restriktiv ausgestaltet waren. Insbesondere die Anforderungen an die Lebens-
unterhaltssicherung stellen vor dem Hintergrund der jahrelangen systema-
tischen Desintegration der Betroffenen vom Arbeitsmarkt und in Bezug auf
besonders schutzbedürftige Gruppen (z. B. behinderte, alte und kranke Men-
schen) zu hohe Hürden dar.

4. Der Bundestag fordert, dass humanitäre und grundrechtliche Erwägungen
bei der konkreten Ausgestaltung von Bleiberechtsregelungen den Vorzug
vor Nützlichkeitskriterien und Kostenkalkülen erhalten. Die Parole von der
„Verhinderung einer Zuwanderung in die Sozialsysteme“ diffamiert die Be-
troffenen und steht in der unglückseligen Tradition der „Das-Boot-ist-voll“-

Rhetorik, mit der rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien seit den
80er-Jahren auf Stimmenfang gehen.

Drucksache 17/7459 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine großzügige und
humanitäre Bleiberechtsregelung vorsieht, die Menschen nach spätestens
fünfjähriger Aufenthaltsdauer ohne wesentliche zusätzliche Bedingungen
ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt, bei Familien mit Kindern nach drei
Jahren und bei besonders schutzbedürftigen Personen auch früher;

2. gesetzliche Änderungsvorschläge vorzulegen, die bereits im Ansatz verhin-
dern, dass Kettenduldungen über Jahre hinweg entstehen, vor allem in Fäl-
len, in denen Abschiebungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
ohnehin unmöglich sind;

3. sich angesichts des drängenden Handlungsbedarfs zugleich im Rahmen der
Innenministerkonferenz für eine sofortige Übergangsregelung einzusetzen,
mit der zum Jahreswechsel ein Rückfall von Personen mit einer Aufenthalts-
erlaubnis „auf Probe“ in die Duldung bzw. deren Abschiebung verhindert
wird.

Berlin, den 25. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Zum Stichtag 30. Juni 2011 lebten 87 312 lediglich geduldete Personen in
Deutschland. Etwa 60 Prozent von ihnen, 51 224 Menschen, lebten bereits seit
mehr als sechs Jahren hier. Hauptherkunftsländer der Betroffenen sind der Irak,
Serbien, die Türkei, das Kosovo, Syrien und der Libanon. Hinzu kommen noch
4 464 Asylsuchende mit der gleichen langjährigen Aufenthaltsdauer sowie
17 728 ausreisepflichtige Personen, die seit mehr als sechs Jahren in Deutsch-
land leben und vermutlich rechtswidrig nicht einmal über eine Duldung ver-
fügen. Mindestens für diese über 73 000 Menschen bedarf es dringend gesetz-
licher Maßnahmen zur Sicherung ihres Aufenthaltsstatus (zu den Zahlen siehe
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/6816).

Im Gesetzgebungsverfahren zur Altfallregelung nach § 104a des Aufenthalts-
gesetzes (AufenthG) 2007 war noch in Aussicht gestellt worden, dass bis zu
60 000 Menschen hiervon profitieren könnten. Tatsächlich waren es dann nur
etwa 22 000 Personen, die eine reguläre Aufenthaltserlaubnis erhielten, weil sie
eine vollständige oder zumindest überwiegend eigenständige Lebensunterhalts-
sicherung nachweisen konnten. Weitere 15 000 Menschen erhielten ein Bleibe-
recht „auf Probe“, das infolge des Beschlusses der Innenministerkonferenz
(IMK) von Ende 2009 verlängert und leichter zugänglich gemacht wurde. Ins-
besondere diese Gruppe ist zum Jahreswechsel 2011/2012 aufenthaltsrechtlich
gefährdet, weil von ihr im Grundsatz eine vollständige Lebensunterhaltssiche-
rung verlangt wird. Aber auch die übrigen bislang erteilten Aufenthaltserlaub-
nisse stehen unter dem Vorbehalt entsprechender Einkommensnachweise.

Neben den stichtagsgebundenen Beschlüssen der IMK aus den Jahren 2006 und
2009 und der Altfallregelung des Jahres 2007 gab es noch zwei stichtagsunge-
bundene gesetzliche Regelungen: Seit 2009 können „qualifizierte Geduldete
zum Zweck der Beschäftigung“ eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG
erhalten, wenn sie im Bundesgebiet eine qualifizierte Ausbildung oder ein Stu-
dium abgeschlossen haben oder mehrjährig einer qualifizierten Beschäftigung

nachgegangen sind. Auf eine Schriftliche Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7459

gab die Bundesregierung am 5. Oktober 2011 bekannt, dass in mehr als zweiein-
halb Jahren des Bestehens dieser Regelung gerade einmal 316 geduldete Per-
sonen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG erhalten haben. Wie bei
allen anderen Regelungen auch gilt im Rahmen des § 18a AufenthG unter
vielem anderen der Ausschlusstatbestand bei angeblicher Täuschung oder
vermeintlicher Verletzung der Mitwirkungspflichten gegenüber den Ausländer-
behörden. Dieser Vorwurf wird von den Ausländerbehörden häufig und vielfach
fälschlich erhoben und beeinträchtigt damit die Anwendbarkeit der bisherigen
Bleiberechtsregelungen erheblich.

Auch die seit dem 1. Juli 2011 geltende Bleiberechtsregelung für gut integrierte
Jugendliche nach § 25a AufenthG wird aufgrund ihrer zahlreichen einschrän-
kenden Bedingungen vermutlich ohne große Bedeutung bleiben. Zwei Monate
nach Inkrafttreten der lange angekündigten Regelung hatten nach Auskunft der
Bundesregierung vom 5. Oktober 2011 gerade einmal 128 Personen eine solche
Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG erhalten. Ohnehin erfüllten zum
Stichtag 30. Juni 2011 nur etwa 4 800 der knapp 90 000 geduldeten Personen die
Grundvoraussetzungen der Regelung, d. h. sie waren zwischen 16 und 21 Jahre
alt und lebten seit mehr als sechs Jahren in Deutschland.

So begrüßenswert diese beiden gesetzgeberischen Schritte in Richtung einer auf
Stichtage verzichtenden Bleiberechtsregelung sind, die bisherigen Erfahrungen
zeigen eindeutig, dass die dabei aufgestellten Anforderungen übermäßig restrik-
tiv und die Regelungen damit in der Praxis kaum wirksam sind. Erforderlich ist
deshalb eine Gesetzesänderung, die den Forderungen der Betroffenen, Kirchen,
Wohlfahrtsverbände, zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Opposition
nach einer großzügigen und dauerhaften Regelung entspricht und damit der end-
losen Flickschusterei stets erneuter Bleiberechtsbeschlüsse auf dem Rücken der
Betroffenen definitiv ein Ende bereitet. In Anlehnung an die Forderungen der
Bleiberechtsbewegung legte die Fraktion DIE LINKE. bereits Anfang 2006
einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, dem damals auch die Fraktion der FDP
zustimmte, weil er „in die richtige Richtung“ ginge (vgl. Beschlussempfehlung
auf Bundestagsdrucksache 16/2563, S. 5).

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (Vertretung für
Deutschland und Österreich) forderte in seinem Eckpunktepapier zum Flücht-
lingsschutz vom Oktober 2009 die Bundesregierung und den Bundestag auf, „zu
berücksichtigen, dass von Personen nach beispielsweise fünfjährigem Auslands-
aufenthalt eine Rückkehr in ihr Herkunftsland auf Grund der zwischenzeitlich
eingetretenen faktischen Verwurzelung in Deutschland häufig nur schwerlich er-
wartet werden kann“ (S. 9). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte ist der Abschiebungsschutz vor Eingriffen in das
Menschenrecht auf Privatleben auch nicht notwendigerweise abhängig vom
Nachweis einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung, denn der wirtschaft-
liche Aspekt ist bei der Frage nach einer faktischen „Verwurzelung“ nur einer
unter mehreren zu berücksichtigenden Gesichtspunkten (vgl. Günter Benassi:
„Die Bedeutung des Schutzes des Privatlebens durch Artikel 8 EMRK [Euro-
päische Menschenrechtskonvention] für die humanitären Aufenthaltsrechte …“,
in: Informationsbrief Ausländerrecht, 7/8/2010, S. 283 ff.). Der Verzicht auf die
Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für den Erhalt eines
Bleiberechts entspricht auch der Mahnung des früheren Vizepräsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, wonach „der Wunsch
des Staates, Sozialkosten zu sparen, nicht gegen den Schutz der Menschenwürde
ausgespielt werden darf“. Im Konfliktfalle rangiere „immer die Achtung der
Menschenwürde an erster Stelle“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung vom
18. Februar 2009).

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Notwendig ist aber auch eine Neuregelung des § 25 Absatz 5 AufenthG, der
nicht, wie vor Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2004 noch in
Aussicht gestellt wurde, für eine wirksame Beendigung der Kettenduldungen
gesorgt hat. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Personen mit
einer auf dieser Rechtsgrundlage erteilten Aufenthaltserlaubnis um gerade ein-
mal 8 000 erhöht (vgl. Bundestagsdrucksachen 16/8321 und 17/4791). Auch der
Anteil langjährig geduldeter Personen an der Zahl Geduldeter liegt heute – trotz
diverser Bleiberechtsregelungen – mit etwa 60 Prozent sogar noch höher als
nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes. Entsprechende Vorschläge zur
Neugestaltung des § 25 Absatz 5 AufenthG hat die Fraktion DIE LINKE. auf
Bundestagsdrucksache 17/1557 gemacht.

Bis zur Verabschiedung wirksamer gesetzlicher Regelungen zur Abschaffung
von Kettenduldungen soll eine Übergangsregelung der IMK sicherstellen, dass
keine der potentiell begünstigten Personen einen bestehenden Aufenthaltstitel
wieder verliert bzw. abgeschoben wird.

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