BT-Drucksache 17/7360

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln und mitgestalten

Vom 19. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7360
17. Wahlperiode 19. 10. 2011

Antrag
der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Edelgard Bulmahn,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim), Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger,
Karin Evers-Meyer, Dagmar Freitag, Iris Gleicke, Günter Gloser, Michael Groschek,
Dr. h. c. Susanne Kastner, Lars Klingbeil, Hans-Ulrich Klose, Fritz Rudolf Körper,
Ute Kumpf, Ullrich Meßmer, Dr. Rolf Mützenich, Thomas Oppermann,
Johannes Pflug, Franz Thönnes, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Uta Zapf,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) weiterentwickeln
und mitgestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europäische Union befindet sich in der tiefsten Krise seit ihren Anfängen.
Längst ist die Verschuldungskrise innerhalb der Eurozone zu einer Krise der
europäischen Einigung geworden. Die Finanzmärkte spielen weiter mit der
Politik. Den europäischen Staats- und Regierungschefs fehlen bisher die Kraft
und der politische Wille, das Blatt wirklich zu wenden. Vor allem Deutschland
wird seiner Verantwortung als größte Volkswirtschaft Europas und europäischer
Gründungsnation politisch nicht gerecht. Seit Beginn der europäischen Integra-
tion traten deutsche Regierungschefs im Interesse unseres Landes für ein starkes
Europa ein. Die schwarz-gelbe Bundesregierung dagegen laviert entlang von
Meinungsumfragen und lässt sich von den Märkten und von Stimmungen trei-
ben. Deutsche Europapolitik hat keine gestalterische Kraft mehr. Dies gilt für
alle Politikfelder der Europäischen Union, ganz besonders aber für den Bereich
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Hier ist seit Jahren
nichts mehr passiert. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die Gemein-
same Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).

Europa ist eine wertegebundene und von gemeinsamer Verantwortung getra-
gene „Friedensmacht“. Es ist der unmittelbaren Sicherheit seiner Bürgerinnen
und Bürger und der territorialen Integrität seiner Mitglieder verpflichtet. Dar-
aus lässt sich auch die künftige sicherheitspolitische Rolle Europas ableiten.
Und auch wenn die Nordatlantische Allianz (NATO) für ihre Mitglieder weiter-
hin das Fundament der kollektiven Verteidigung bleibt, stellt der Lissabonner
Vertrag von 2009 – ähnlich dem Artikel 5 des NATO-Vertrages – die Weichen

für ein Defensivbündnis für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen der
EU-Mitgliedstaaten.

Europa schafft Stabilität, die über die eigenen Grenzen hinaus strahlt. Umge-
kehrt wirken sich Krisen und Konflikte in der unmittelbaren Nachbarschaft auf
die Stabilität und Sicherheit der Europäischen Union aus. Die europäische
Sicherheitspolitik muss also wirksame Antworten auf die Herausforderungen

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an den Rändern Europas geben können. Das Umfeld der EU befindet sich in
einem tiefgreifenden Wandel. Dies erfordert dringend ein gemeinsames Ver-
ständnis der strategischen Ausrichtung der EU.

Unsere gemeinsamen Werte, wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte,
geben uns eine globale Mitverantwortung. Die Europäische Union setzt sich im
Rahmen der Vereinten Nationen (VN) und der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für Frieden und Stabilität ein. Die Bereit-
schaft Europas, sich an VN-Missionen zu beteiligen, sollte verstärkt und ent-
sprechende Fähigkeiten entsprechend ausgebaut werden. Die Teilnahme euro-
päischer Kontingente an VN-mandatierten Friedenseinsätzen sollte unter Ein-
haltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte zur Regel werden.

Die Europäische Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten tut sich schwer, bei der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam vorzugehen. Die Gemein-
same Sicherheits- und Verteidigungspolitik stagniert. Die aus den Erfahrungen
auf dem Balkan abgeleiteten Headline-Goals wurden nie vollständig umgesetzt.
Eine gemeinsame strategische Positionierung fehlt bislang. Der europäischen
Sicherheitsstrategie (ESS) von 2003 fehlt die institutionelle Umsetzung sowie
die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, entsprechende Fähigkeiten vorzuhalten.

Seitens der Bundesregierung gibt es zu wenig Aktivitäten, den Prozess der
GSVP voranzutreiben. Auch das zwischen Großbritannien und Frankreich
beschlossene Verteidigungsabkommen aus dem Jahr 2010 – welches eine ledig-
lich bilaterale Zusammenarbeit bekräftigt – belegt die Frustration über man-
gelnde Fortschritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik. Die Überlegungen der nordischen Staaten zur
Bildung einer nordischen Allianz zeigen den langsamen Verfall der GSVP.
Diese Entwicklungen sind ebenfalls die Folgen des mangelnden Engagements
der Bundesregierung.

Historisch gewachsene Politiken und Traditionen lassen sich nicht von heute
auf morgen über Bord werfen. Dennoch bedürfen wir dringend eines „Neu-
impulses“ in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der auch
von einer kleinen Gruppe von Staaten ausgehen kann. Diese Vorreitergruppe
sollte den gemeinsamen politischen Willen mitbringen, das Projekt einer euro-
päischen Integration von Sicherheit und Verteidigung sichtbar voranzubringen.
Ähnliche Vorreitergruppen gibt es in anderen Politikbereichen mit dem Schen-
gen-Raum und der Euro-Gruppe bereits.

Deutschland, Frankreich und Polen – die Länder des Weimarer Dreiecks –
sowie die skandinavischen Staaten könnten hier vorangehen, selbstverständlich
offen für weitere Partner, die bereit sind, auf dem Gebiet der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr Integration zu wagen. So bestehen
beispielsweise zwischen Deutschland und den skandinavischen Staaten bereits
Kooperationen zur Seeminenbekämpfung. Das ausgesprochene Ziel der SPD-
Fraktion dabei ist die Stärkung der europäischen Integration und kein nationa-
ler Sonderweg. Vor allem ist stärkeres Engagement der Bundesregierung ge-
fragt, um einen solchen Prozess erfolgreich gestalten zu können.

Der Vertrag von Lissabon bietet mit der Möglichkeit der Ständigen Strukturier-
ten Zusammenarbeit (SSZ) die rechtliche Grundlage. Bislang findet die SSZ
keine Anwendung. Dies ist ein politisches Versäumnis. Dieses Instrument sollte
endlich aufgegriffen und genutzt werden. Von der SSZ kann ein starkes politi-
sches Signal ausgehen, das alle Staaten der Europäischen Union einlädt, an der
engeren sicherheitspolitischen Kooperation mitzuwirken.

Es gibt heute bereits wegweisende Projekte militärischer Zusammenarbeit, auf
denen man aufbauen kann. Dazu gehören die deutsch-französische Brigade, das

Eurokorps, das deutsch-niederländische Korps, das multilaterale Korps Nord-
ost, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie kommen aber nicht im Rahmen der

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GSVP zum Einsatz, da der politische Wille fehlt. Der europäische Integrations-
gedanke wird durch solche symbolträchtigen Elemente bereits gestärkt. Aller-
dings dürfen wir nicht dabei stehen bleiben.

Integrierte europäische Sicherheitspolitik ist mehr als nur gemeinsame Stäbe
und unterstützende Einheiten. Ein gemeinsamer Verband, der zusammen in
einen Einsatz verlegt würde, wäre ein deutlicher Schritt nach vorne. Die NATO
mit ihren AWACS-Verbänden liefert ein gutes Beispiel für multinational inte-
grierte Verbände.

Angesichts zurückgehender Mittel für die Verteidigungshaushalte wird auch
der Effizienzgedanke in Zukunft eine weit stärkere Rolle spielen müssen.
„Pooling“, „Sharing“ und die Arbeitsteilung bei den militärischen Fähigkeiten
unter Partnern sind zwar kein neuer, aber ein noch viel zu selten beschrittener
Weg, den die EU-Partner gehen sollten. Allerdings zeigt auch gerade das deut-
sche Verhalten im Hinblick auf die NATO-AWACS-Einsätze das auch das
„Sharing“ militärischer Fähigkeiten einen erfolgreichen Einsatz im Interesse
einer GSVP behindern oder sogar verhindern kann. In einer funktionierenden
GSVP müssen sich die Partner aufeinander verlassen können. Deutliche Syner-
gien bei strategischen Fähigkeiten gibt es bislang kaum. Das von Deutschland,
Frankreich, Belgien und den Niederlanden bestückte Europäische Lufttrans-
portkommando ist eine der wenigen Initiativen in diese Richtung. Ein anderes
Beispiel sind die EU-Battle-Groups, die weiterentwickelt und noch stärker inte-
griert werden sollten. Sie sollten der Kern sein für erste europäische, gemein-
sam finanzierte Streitkräfte.

Bei der eingeleiteten Reform der Bundeswehr spielt eine integrierte euro-
päische Sicherheitspolitik nur eine untergeordnete Rolle. In den Verteidigungs-
politischen Richtlinien werden kaum Maßnahmen aufgezeigt, wie die GSVP
weiterentwickelt und verbessert werden kann. Die Reform der Streitkräfte ver-
bleibt damit eine hauptsächlich nationale Weiterentwicklung. Die im EU-Ver-
trag festgeschriebene Perspektive der gemeinsamen Verteidigung findet keine
Berücksichtigung. Die ausschließlich finanziell begründete Reform der Bun-
deswehr schwächt die deutschen Fähigkeiten. Ohne einen substantiellen deut-
schen militärischen Beitrag wird die GSVP aber weiter an Bedeutung verlieren.

Die Bundesrepublik Deutschland hat in ihrer Außen- und Europapolitik immer
eine kooperative, integrationsfreundliche Haltung vertreten. Ihr wirtschaft-
liches und sicherheitspolitisches Gewicht hat eine zentrale Rolle bei der Ent-
wicklung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
gespielt. Unter der schwarz-gelben Bundesregierung wurde dieser Bereich
sträflich vernachlässigt. Um den Zerfall der GSVP zu verhindern, ist ein sofor-
tiges entschlossenes Handeln der Bundesregierung notwendig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Projekt einer europäischen Integration von Sicherheit und Verteidigung
durch Bildung einer aus Deutschland, Frankreich und Polen bestehenden
Vorreitergruppe, die für weitere integrationswillige EU-Partner offen ist,
sichtbar voranzubringen;

2. die Krise der Staatsfinanzen in vielen EU-Mitgliedsländern als Chance zu
einem „Neuimpuls“ zu nutzen und den Weg des „Pooling“, „Sharing“ und
der Spezialisierung militärischer Fähigkeiten noch stärker als bislang zu
beschreiten, um damit deutliche Synergien zu erzielen;

3. gemeinsam mit den EU-Partnern ein umfassendes strategisches Leitpro-
gramm zu entwickeln, das den Umfang der zivilen und militärischen Kräfte
und deren Zusammenwirken regelt. Weiterhin ist die Art und Anzahl der

Operationen, die gleichzeitig durchgeführt werden können, und welche geo-
graphischen Aspekte Priorität haben, als Leitlinie zu formulieren;

Drucksache 17/7360 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
4. eine Neufassung der ESS als verbindliche strategische Ausrichtung voranzu-
treiben, die in ein europäisches Weißbuch einfließt. In einem solchen
Dokument muss Glaubwürdigkeit zwischen den Zielen und den tatsächlich
bereitgestellten zivilen und militärischen Fähigkeiten aufgezeigt werden.
Dafür ist auch eine schonungslose Analyse der bisherigen Defizite not-
wendig;

5. sich für eine gemeinsame Verteidigungsplanung einzusetzen, um Fähigkeits-
lücken durch multinationale Programme unter Mitwirkung der Europäischen
Verteidigungsagentur schließen zu können. Dazu ist es notwendig, Meilen-
steine zu definieren, die kontinuierlich überprüft und evaluiert werden kön-
nen;

6. sich dafür einzusetzen, dass die Zusammenarbeit zwischen einzelnen EU-
Mitgliedstaaten bei der Koordinierung militärischer Fähigkeiten schneller
vorangetrieben wird. Dies beinhaltet mehr Interoperabilität, das Zusammen-
legen bestimmter Fähigkeiten einschließlich der dafür notwendigen Ausbil-
dungseinrichtungen und gegebenenfalls auch Aufgabenteilungen. Die im
Vertrag von Lissabon vorgesehene militärische „Ständige Strukturierte Zu-
sammenarbeit“ sollte auch innerhalb des Bereiches der zivilen Fähigkeiten
aufgebaut werden;

7. gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten in bestimmten Fähigkeitsberei-
chen den Gedanken von gemeinsamen europäischen Streitkräften voranzu-
treiben und einen Nukleus für eine europäische Armee schaffen. Hierzu soll-
ten bereits vorhandene EU-Strukturen genutzt werden. Hierzu bieten sich
die EU-Battle-Groups an, damit Europa auf eine schnelle multinationale
europäische Eingreifgruppe zurückgreifen kann und somit für spezielle Auf-
gaben nicht auf nationale Streitkräfte angewiesen ist;

8. eine europäische Rüstungsexportpolitik auf den Weg zu bringen, die den
derzeit unverbindlichen europäischen Kodex gesetzlich und somit ver-
bindlich für die EU regelt und überwacht. Dabei ist Transparenz gegenüber
dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten sicherzustel-
len;

9. auch bei Teilnahme europäischer Kontingente an VN-mandatierten Ein-
sätzen, die Einhaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte zu gewähr-
leisten.

Berlin, den 19. Oktober 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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