BT-Drucksache 17/7263

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das dritte Quartal 2011

Vom 4. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7263
17. Wahlperiode 04. 10. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Jens Petermann, Frank Tempel,
Kersten Steinke, Petra Pau, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das dritte Quartal 2011

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Informa-
tionen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

So gab es im Jahr 2010 nicht nur 41 332 Asylverfahren und etwa 10 000 Flücht-
lingsanerkennungen. Es wurden zudem über 11 000 Verfahren eingeleitet, mit
denen der Flüchtlingsstatus bereits anerkannter Flüchtlinge noch einmal über-
prüft wurde, in über 2 500 Fällen führte dies zum Widerruf der Anerkennung,
zumeist wegen geänderter Bedingungen im Herkunftsland. Die Widerrufsquote
betrug 2010 zwar nur 16,4 Prozent und behördliche Widerrufe wurden bei einer
gerichtlichen Überprüfung auch nur zu knapp 25 Prozent bestätigt. Diese Ver-
fahren sind für die Betroffenen – politisch verfolgte und häufig traumatisierte
Flüchtlinge – jedoch unabhängig von ihrem Ausgang sehr belastend und für Be-
hörden und Gerichte sehr arbeitsaufwändig. Die deutsche Widerrufspraxis ist in
der EU auch einmalig restriktiv. Kein anderes EU-Land kennt obligatorische
Widerrufsprüfungen nach einer bestimmten Zeitdauer. In keinem anderen Land
gibt es Widerrufe in vergleichbarer Zahl, viele Länder verzeichnen überhaupt
keine oder nur vereinzelte Widerrufe. In Deutschland hingegen gab es im Zeit-
raum von 2005 bis 2010 über 100 000 Widerrufsverfahren und 38 500 Asylwi-
derrufe – bei knapp 41 000 Anerkennungen. Unter anderem deshalb sinkt die
Zahl der in Deutschland lebenden anerkannten Flüchtlinge seit Jahren: Ende
2010 waren es nur gut 115 000 Personen mit einem Flüchtlingsstatus, Ende 1997
lebten noch über 200 000 Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge in
Deutschland.

Im Jahr 2010 wurden über 23 000 Klagen gegen ablehnende Asylentscheidun-
gen erhoben. Nur 36 Prozent dieser Klagen wurden von den Gerichten zurück-
gewiesen, bei afghanischen Asylsuchenden waren es sogar nur 13,9 Prozent.

Bei 22,8 Prozent aller Asylgesuche im Jahr 2010 war das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge der Auffassung, dass ein anderes Land der Europäischen
Union nach der EU-Dublin-Verordnung zuständig sei. Das Land, das dabei mit
Abstand am häufigsten ersucht wurde, Asylsuchende aus Deutschland zu über-
nehmen (knapp 2 500 Ersuchen), war ausgerechnet das völlig überforderte Grie-
chenland. Besonders brisant: Während nach Eurostat-Angaben Asylsuchende
im Jahr 2009 in Deutschland zu 36,5 Prozent als schutzbedürftig anerkannt wur-
den, lag diese Quote in Griechenland bei nur 0,1 Prozent.

37,4 Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2010 waren minder-
jährige Kinder.

Drucksache 17/7263 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Ein behördliches Asylverfahren in Deutschland dauert im Durchschnitt etwa ein
halbes Jahr, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung inklusive Gerichtsverfah-
ren vergeht im Durchschnitt ein gutes Jahr.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach § 16a des
Grundgesetzes (GG), nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)/
Genfer Flüchtlingskonvention und von Abschiebungshindernissen nach § 60
Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entscheidungspraxis des Bundesamtes
für Migration und Flüchtlinge im dritten Quartal 2011, und wie lauten die je-
weiligen Vergleichswerte des vorherigen Quartals (bitte in absoluten Zahlen
und in Prozent angeben, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftslän-
dern und der Art der Anerkennung differenzieren: Asylberechtigung (staat-
liche/nichtstaatliche Verfolgung); Flüchtlingsschutz (staatliche/nichtstaat-
liche Verfolgung); subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 2 und 5 AufenthG
(unmenschliche Behandlung), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 3
AufenthG (Todesstrafe), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 2
AufenthG (bewaffnete Konflikte), subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7
Satz 1 AufenthG (sonstige existenzielle Gefahren))?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im dritten Quartal 2011 eingeleitet,
und wie lautet der Vergleichswert des vorherigen Quartals (bitte Gesamtzah-
len angeben und nach den verschiedenen Formen der Anerkennung und den
zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten Her-
kunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten be-
nennen)?

4. Wie lang war die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2011 bisher (so-
weit bekannt) bis zu einer behördlichen, wie lange war sie bis zu einer rechts-
kräftigen Entscheidung (das heißt inklusive eines Gerichtsverfahrens), (bitte
auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren und den je-
weiligen Vergleichswert für 2010 angeben)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im dritten
Quartal 2011 eingeleitet, und wie lautet der Vergleichswert des vorherigen
Quartals (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen die Relation zu allen
Asylerstanträgen sowie die Quote der auf Eurodac-Treffern basierenden Ver-
fahren und die Quote der Verfahren nach illegalem Grenzübertritt ohne Asyl-
gesuch angeben)?

a) Welches waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten betrof-
fenen Herkunftsländer und welches die zehn am stärksten angefragten
EU-Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen ange-
ben, sowie in jedem Fall die Zahlen zu Griechenland und Malta nennen)?

b) Wie viele Dublin-II-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständig-
keit eines anderen EU-Mitgliedstaats bzw. der Bundesrepublik, Selbstein-
tritt nach Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-II-Verordnung, humanitäre Fälle
nach Artikel 15 der Dublin-II-Verordnung) gab es in den benannten Zeit-
räumen – und wieso wird die Zahl der Selbsteintritte trotz der erheblich
gestiegenen rechtlichen und politischen Bedeutung von Selbsteintritten
(nicht nur in Bezug auf Griechenland) nach wie vor nicht statistisch erfasst
(Wiederholung der Frage, weil die Antwort der Bundesregierung auf Bun-
destagsdrucksache 17/6810 nicht darauf eingeht, warum die Zahl „trotz
der erheblich gestiegenen rechtlichen und politischen Bedeutung von
Selbsteintritten“ nicht erfasst wird)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7263

c) Wie viele Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung wurden in den
benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Zahlen und in Pro-
zentzahlen angeben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunfts-
ländern und EU-Mitgliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland und
Malta – differenzieren)?

d) Wie hoch war der Anteil der in Zuständigkeit der Bundespolizei durch-
geführten Dublin-II-Verfahren bzw. Überstellungen?

6. Wie viele Asylanträge wurden im dritten Quartal 2011 (bitte auch den Ver-
gleichswert des vorherigen Quartals nennen) nach § 14a Absatz 2 des Asyl-
verfahrensgesetzes von Amts wegen für hier geborene (oder eingereiste)
Kinder von Asylsuchenden gestellt, wie viele Asylanträge wurden in den
genannten Zeiträumen von bzw. für Kinder(n) unter 16 Jahren bzw. von
Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren bzw. von unbegleiteten minder-
jährigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in absoluten Zahlen und in Pro-
zentzahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asylanträge sowie die Gesamt-
zahl der Anträge unter 18-Jähriger und sich überschneidende Teilmengen
angeben), und wie hoch war die Gesamtschutzquote bei unbegleiteten
Minderjährigen bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im
Bereich Asyl für das Jahr 2011 bisher (bitte wie auf Bundestagsdrucksache
17/4627 in der Antwort zu Frage 7 darstellen, soweit Daten vorliegen), und
welche Angaben zur Dauer des gerichtlichen Verfahrens lassen sich ma-
chen?

8. Wie viele Anhörungen mittels Bild- und Tonübertragung wurden in den ers-
ten drei Quartalen des Jahres 2011 unter Beteiligung welcher Außenstellen
anberaumt, wie viele von ihnen wurden aus welchen Gründen abgebrochen,
und was ist über den Ausgang der jeweiligen Verfahren bekannt (bitte nach
Quartalen und Staatsangehörigkeiten der Betroffenen differenziert ange-
ben)?

9. In wie vielen Fällen erfolgten in den ersten drei Quartalen des Jahres 2011
Asylanhörungen durch besonders geschulte Anhörerinnen oder Anhörer
(bitte nach Quartalen, Staatsangehörigkeit und Art der besonderen Schutz-
bedürftigkeit differenzieren: geschlechtsspezifische Verfolgung, minder-
jährige Flüchtlinge usw.), und aufgrund welcher Umstände wird wann im
Verfahren entschieden, dass besonders geschulte Anhörerinnen oder Anhö-
rer zum Einsatz kommen?

10. Wie waren die Schutzquoten und die Zahl der Schutzgesuche bei Asyl-
suchenden aus Tunesien, Ägypten, Marokko, Syrien, Jemen, Katar, Saudi
Arabien und Libyen im dritten Quartal 2011 (bitte auch den jeweiligen Ver-
gleichswert des vorherigen Quartals nennen)?

11. Wie ist die derzeitige Asylentscheidungspraxis bei Asylsuchenden aus
Syrien, welche internen Vorgaben gibt es, und warum ist die Bundesregie-
rung immer noch nicht dazu bereit, sich trotz der andauernd angespannten
Lage in Syrien für einen entsprechenden Abschiebungsstopp einzusetzen?

12. An welchen deutschen Grenzen wurden wie viele Personen mit „Dublin-II-
Hintergrund“ seit 2008 aufgegriffen (bitte nach Jahren, Ländergrenzen und
den zehn wichtigsten Staatsangehörigkeiten differenzieren)?

a) Wie viele dieser Personen wurden seit 2008 in Zurückweisungshaft/Ab-
schiebungshaft verbracht, wie lange dauerte in diesen Fällen die Haft,
und wie viele Personen wurden nach der Haft ab- oder zurückgeschoben
bzw. ins Inland entlassen, bzw. wie viele dieser Personen wurden nicht
in Haft genommen und stattdessen an die zuständigen Aufnahmeeinrich-
tungen verwiesen (bitte wie zuvor differenzieren)?

Drucksache 17/7263 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
b) Wie viele der seit 2008 zurückgeschobenen Personen wurden nach § 18
Absatz 3 i. V. m. Absatz 2 Nummer 2 des Asylverfahrensgesetzes zu-
rückgeschoben (bitte wie zuvor differenzieren)?

c) Wie viele Personen wurden seit 2008 ohne Einschaltung des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge nach welchen Zeiträumen überstellt (bitte
wie zuvor differenzieren)?

d) Wie viele Personen wurden unter Einschaltung des Bundesamtes, aber
ohne Durchführung eines Asylverfahrens nach welchen Zeiträumen
überstellt (bitte wie zuvor differenzieren)?

13. Wie ist der aktuelle Beratungsstand innerhalb der Bundesregierung (bitte
nach Bundesministerium des Innern und Bundesministerium der Justiz dif-
ferenziert beantworten) zu der Frage, ob der gesetzliche Ausschluss der auf-
schiebenden Wirkung von Rechtsmitteln gegen Dublin-II-Überstellungen
mit höherrangigem Recht vereinbar ist (z. B. Europäische Menschenrechts-
konvention, Grundrechtecharta der EU, Grundgesetz), nachdem

a) in einer Anhörung auch der von einer der Koalitionsfraktionen benannte
Sachverständige Prof. Dr. Winfried Kluth ausführte, dass die derzeit gel-
tende „deutliche Verkürzung von Rechtsschutzmöglichkeiten“ vom
Bundesverfassungsgericht „zumindest relativiert“ worden wäre, wenn
das Verfahren weitergeführt worden wäre (Anhörungsprotokoll des
Innenausschusses 17/45, S. 58), während der ebenfalls von einer der
Koalitionsfraktionen benannte Sachverständige Prof. Dr. Daniel Thym
„gesetzlichen Klärungsbedarf“ jedenfalls nicht in Abrede stellte (ebd.),

b) drei weitere Sachverständige den gesetzlichen Ausschluss der aufschie-
benden Wirkung im Dublin-Überstellungsverfahren als unvereinbar mit
der M.S.S.-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte ansahen (Ausschussdrucksachen 17(4)282 C, S. 24f und D, S. 11f,
Anhörungsprotokoll 17/45, S. 10f, 59f),

c) auch aus dem Schlussantrag der Generalanwältin beim Europäischen
Gerichtshof, Verica Trstenjak, vom 22. September 2011 in der Rechts-
sache C-411/10 eindeutig hervorgeht, dass „eine nationale Regelung,
nach der die Gerichte im Rahmen ihrer Überprüfung der Überstellung
eines Asylbewerbers […] von der unwiderlegbaren Vermutung auszu-
geben haben, dass dieser Mitgliedstaat den Asylbewerber nicht unter
Verletzung der EMRK oder der Genfer Flüchtlingskonvention in einen
anderen Staat ausweisen wird, mit Artikel 47 der Grundrechtecharta un-
vereinbar ist“ (Randnummer 162),

und welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung (bitte differen-
ziert und in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Unterpunkten beant-
worten)?

Berlin, den 4. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.