BT-Drucksache 17/7262

Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bei Aufgriffen durch die Bundespolizei

Vom 30. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7262
17. Wahlperiode 04. 10. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Diana Golze,
Jens Petermann, Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE.

Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bei Aufgriffen durch die
Bundespolizei

Im Rahmen der Aufgaben der Bundespolizei zur Sicherung der Grenzen gegen
unerlaubte Einreisen kommt es auch zu Aufgriffen von unbegleiteten Minder-
jährigen, von denen nicht wenige Schutz vor Verfolgung oder unmenschlicher
Behandlung suchen. Auch in diesem Bereich gilt der nicht zuletzt aus der
UN- Kinderrechtskonvention folgende Grundsatz einer vorrangigen Berücksich-
tigung des Kindeswohls, der insbesondere auch sicherheits- oder migrations-
politische Zielsetzungen zurückdrängt. Das Bedürfnis der Kinder nach Hilfe und
Unterstützung muss in besonderer Weise im behördlichen Umgang beachtet
werden. Über die gegenwärtige Praxis der Bundespolizei im Umgang mit min-
derjährig unbegleiteten Flüchtlingen ist wenig bekannt. Es bestehen Zweifel, ob
auch im Rahmen der Grenzsicherung stets das Kindeswohl an erster Stelle steht.

In einem Positionspapier im Rahmen der Kampagne „Jetzt erst Recht(e) für
Flüchtlingskinder“, das auch als Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet
wurde und das von derzeit fast 40 000 Menschen unterstützt wird, beklagen über
40 Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Nichtregierungs-
organisationen die mangelhafte Umsetzung und ungenügende rechtliche Veran-
kerung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Zu den Forderungen
der Kampagne gehört unter anderem die Sicherstellung einer kindgerechten
Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger außerhalb von Erstaufnahme-
einrichtungen, ein Asylverfahren, das dem Alter, der Herkunft und dem Ent-
wicklungsstand der Kinder angepasst ist (vorgelagertes Clearingverfahren), die
Rücknahme der gesetzgeberischen Annahme einer Verfahrens- bzw. Asylmün-
digkeit bereits ab 16 Jahren, ein absolutes Verbot der Inhaftierung Minderjähri-
ger, die explizite Berücksichtigung des Kindeswohls bei Abschiebungen und
vieles mehr.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis zum vollendeten 18. Le-
bensjahr wurden von der Bundespolizei in den Jahren 2010, 2009 und 2008
aufgegriffen (bitte soweit möglich nach Aufgriff an der Grenze, im grenz-

nahen Raum, im übrigen Bundesgebiet differenzieren), und wie viele von
ihnen wurden an die gemäß § 42 des Achten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB VIII) zur Inobhutnahme berechtigten und verpflichteten Jugendämter
übergeben (bitte nach Bundesländern, Alter, Geschlecht, wichtigste Staatsan-
gehörigkeiten und Jahren auflisten)?

Drucksache 17/7262 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wie sieht der genaue Verfahrensablauf aus, wenn die Bundespolizei unbe-
gleitet minderjährige Flüchtlinge aufgreift?

a) Wie werden die Regelungen des § 42 SGB VIII im Vorgehen der Bundes-
polizei berücksichtigt?

b) Gibt es diesbezüglich eine Dienstanweisung oder andere Verwaltungsvor-
schriften, und wenn ja, welche, und mit welchem Inhalt?

3. Welche Arten von Verfahren zur Bestimmung des Alters von Personen, die
erklären, minderjährig zu sein, werden von der Bundespolizei oder auf
Veranlassung der Bundespolizei angewendet, und auf welcher rechtlichen
Grundlage?

a) Auf welcher rechtlichen Grundlage werden nach dem Aufgriff durch die
Bundespolizei medizinische Verfahren zur Altersfestsetzung und durch
wen durchgeführt?

b) Auf welcher rechtlichen Grundlage werden medizinische Verfahren bei
Personen angewendet, die keinen Asylantrag stellen wollen bzw. die nicht
handlungsfähig im Sinne des § 12 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG)
sind?

c) Über welche Kenntnisse und Ausbildungen verfügen die für die Inaugen-
scheinnahmen zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundes-
polizei?

4. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden in den Jahren 2010,
2009 und 2008 an den bundesdeutschen Grenzen zurückgewiesen bzw. zu-
rückgeschoben (bitte nach Bundesländern, Alter, Geschlecht, Jahren und
wichtigsten Staatsangehörigkeiten auflisten und für die Seegrenze, Landes-
grenze und Luftgrenze getrennt angeben)?

5. In wie vielen Fällen wurden unbegleitete Minderjährige in den Jahren 2010,
2009 und 2008 im Rahmen eines Aufgriffs an der Grenze oder im grenznahen
Raum oder im Inland (bitte differenzieren) inhaftiert (Polizeigewahrsam oder
Abschiebehaft, bitte nach Bundesländern, Alter, Geschlecht und Jahren auf-
listen)?

6. Wie wird mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verfahren, die direkt
an der Grenze zurückgewiesen bzw. zurückgeschoben werden sollen?

Inwieweit werden diese nach Eltern und anderen Familienangehörigen be-
fragt, und inwieweit werden diese Informationen bei der Frage einer Zurück-
weisung berücksichtigt?

7. Wie sieht die Bundesregierung das Verhältnis von § 80 Absatz 2 des Aufent-
haltsgesetzes (AufenthG), der die Zurückweisung bzw. Zurückschiebung
auch von nicht handlungsfähigen Minderjährigen erlaubt, zu § 42 SGB VIII,
der ausdrücklich die Inobhutnahme durch das örtliche Jugendamt bei unbe-
gleiteten minderjährigen Flüchtlingen vorsieht, und wie wird dieses Span-
nungsverhältnis in der Praxis aufgelöst?

8. Wie wird mit unbegleiteten Minderjährigen verfahren, die bei ihrer Fest-
nahme an der Grenze oder im grenznahen Raum ein Asyl- oder Schutzgesuch
äußern, aber nach § 80 Absatz 1 AufenthG bzw. § 12 AsylVfG nicht verfah-
rensfähig sind?

9. Wie wird der durch die UN-Kinderrechtskonvention in Artikel 3 und der EU-
Grundrechtecharta in Artikel 24 festgelegte Grundsatz der vorrangigen Be-
rücksichtigung des Kindeswohls bei einer Zurückweisung bzw. Zurückschie-
bung an der Grenze berücksichtigt, und inwieweit sind Zurückweisungen

unbegleiteter Minderjähriger an der Grenze mit Artikel 20 der UN-Kinder-
rechtskonvention vereinbar?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7262

10. Welche konkretisierenden Anweisungen und Regeln der Bundespolizei zur
vorrangigen Beachtung des Kindeswohls im Rahmen von Abschiebungen,
bei denen die Bundespolizei meist in Amtshilfe für die Länder tätig wird,
gibt es, und was beinhalten diese?

11. Wie ist inzwischen die Haltung des Bundesministeriums der Justiz zu der
Frage, inwieweit nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehalts-
erklärungen gegen die UN-Kinderrechtskonvention Änderungen des
Rechts bzw. der Praxis im Umgang mit minderjährigen bzw. unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingen in Zuständigkeit des Bundes erforderlich sind,
nachdem in den letzten Monaten zahlreiche Studien, Ausarbeitungen und
Forderungen bekannt wurden, die solche Änderungen für erforderlich hal-
ten und dies umfassend begründen (vgl. Positionspapier von mehr als 40
Verbänden „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder!“ vom Mai 2011;
Deutsches Institut für Menschenrechte: „Die UN-Kinderrechtskonvention.
Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach der Rücknahme der Vor-
behalte“ vom Juni 2011, insbesondere S. 24; „Kinderrechte für alle! Hand-
lungsbedarf nach der Rücknahme der ausländerrechtlichen Vorbehaltser-
klärung zur UN-Kinderrechtskonvention“, Fachpapier des Deutschen
Caritasverbandes vom Juli 2010; bitte konkret benennen, bezüglich welcher
Themen – Inhaftierung, Handlungsfähigkeit, Unterbringung usw. – eine
Änderung zumindest geprüft wird bzw. gegebenenfalls genau darlegen,
weshalb in Auseinandersetzung mit den in den genannten Ausarbeitungen
genannten Argumenten nach wie vor kein Handlungsbedarf gesehen wird)?

Berlin, den 4. Oktober 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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