BT-Drucksache 17/6889

Auswirkungen der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug und umstrittene Vereinbarkeit der Regelung mit Europarecht

Vom 1. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6889
17. Wahlperiode 01. 09. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Frank Tempel, Katrin Werner und
der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug und
umstrittene Vereinbarkeit der Regelung mit Europarecht

Bereits auf Bundestagsdrucksache 17/5732 wurde das Grundsatzurteil des Bun-
desverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 30. März 2010 zur gesetzlichen Rege-
lung der Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug kritisch thematisiert.
Das BVerwG war nach Auffassung vieler Sachverständiger unter anderem sei-
ner Pflicht nicht nachgekommen, offene europarechtliche Fragen dem Euro-
päischen Gerichtshof (EuGH) zur Klärung vorzulegen. Die Vereinbarkeit der
Neuregelung sowohl mit der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie als auch
mit dem Verschlechterungsverbot nach Artikel 13 des Assoziationsratsbe-
schlusses (ARB) 1/80 im Rahmen des EWG-Türkei-Assoziationsrechts ist
höchst umstritten.

Eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages
vom 21. Juni 2011 zu „Anwendungsbereiche und Auswirkungen der Stillhalte-
klausel im Assoziationsrecht der EU mit der Türkei“ bestätigt, dass die
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug eine verbotene Verschlechterung
nach Artikel 13 ARB 1/80 darstellen und die Regelung somit nicht auf türkische
Staatsangehörige anwendbar ist. Das BVerwG hatte sich bei seiner hiervon ab-
weichenden Beurteilung im Urteil vom 30. März 2010 (vgl. Rn. 18 ff.) auf das
fast 25 Jahre alte Demirel-Urteil des EuGH gestützt, das sich jedoch gar nicht
mit der Standstill-Klausel des Artikels 13 ARB 1/80 befasst (ähnlich
argumentierte die Bundesregierung, Nachfragen hierzu wich sie aus, vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/5732, zu Frage 18). Aus der jüngeren Rechtsprechung des
EuGH wird deutlich, dass auch Einschränkungen des familiären Nachzugsrechts
grundsätzlich dem Verschlechterungsverbot unterfallen, da dies auch bei mittel-
baren neuen Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt. Die Argumen-
tation des BVerwG und der Bundesregierung, laut Demirel-Urteil gebe es im
Assoziationsrecht im Bereich der Familienzusammenführung keine Festlegun-
gen, so dass diesbezüglich auch kein Verschlechterungsverbot gelte, lässt außer
Betracht, dass nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH Beschränkungen
des Aufenthaltsrechts stets auch eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügig-
keit bedeuten. So wies der EuGH im Toprak-Urteil vom 9. Dezember 2010 den

Einwand der niederländischen Regierung ausdrücklich zurück, die Standstill-
Klausel des Artikels 13 ARB 1/80 sei nicht anwendbar, weil die „umstrittene
Regelung nicht die Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt betreffe,
sondern Rechte ausländischer Ehegatten in Bezug auf Familienzusammen-
führung“ (Rn. 37 ff. des Urteils), und zwar mit dem Argument, dass auch Rege-
lungen dem Verschlechterungsverbot unterfallen, die sich „nicht unmittelbar auf
ausländische Arbeitnehmer“ beziehen, sondern z. B. auf deren Ehegatten

Drucksache 17/6889 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

(Rn. 40 f.). In seinem Urteil C-92/07 vom 29. April 2010 stellte der EuGH klar,
dass Artikel 13 ARB 1/80 „der Einführung neuer Beschränkungen der Aus-
übung der Arbeitnehmerfreizügigkeit … einschließlich solchen entgegensteht,
die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erst-
malige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger … betreffen, die dort von dieser
Freiheit Gebrauch machen wollen“ (vgl. Rn. 49 f.). Schließlich erklärte der
EuGH in seinem Urteil C-186/10 vom 21. Juli 2011 (Rn. 28 f.) noch einmal die
Wirkungsweise der Stillhalteklauseln, die nämlich keine „materiell-rechtliche
Vorschrift“ als solche schaffen (also auch keine im Bereich der Familienzusam-
menführung), sondern „eine gleichsam verfahrensrechtliche Vorschrift“ dar-
stellen, „die in zeitlicher Hinsicht festlegt, nach welchen Bestimmungen der
Regelung eines Mitgliedstaats die Situation eines türkischen Staatsangehörigen
zu beurteilen ist“ – nämlich nach der jeweils günstigsten Regelung seit Inkraft-
treten der Standstill-Klauseln.

Wie in der Vorbemerkung auf Bundestagsdrucksache 17/5732 bereits ausge-
führt wurde, berief sich das BVerwG in seinem Grundsatzurteil weiterhin zu
Unrecht auf eine angebliche Auffassung der EU-Kommission zur Vereinbarkeit
von Sprachtests mit der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie. Die Euro-
päische Kommission hat nunmehr in einer schriftlichen Erklärung an den
EuGH vom 4. Mai 2011 ihre Position noch einmal verdeutlicht: Integrationsan-
forderungen und Sprachtests dürfen demnach nicht als „Ausschlusskriterium“
oder „Einreisebedingung“ fungieren oder dem Ziel einer erfolgreichen Fami-
lienzusammenführung entgegenstehen. Dies ergebe sich bereits aus dem klaren
Wortlaut und der Systematik der Richtlinie. Auch die Grundrechte-Bestimmun-
gen zum Schutz der Familie verpflichteten zu einem einzelfallbezogenen und
verhältnismäßigen staatlichen Handeln. Ähnliche Bedenken waren bereits in
der maßgeblichen Sachverständigenanhörung des Innenausschusses des Deut-
schen Bundestages zur Gesetzesverschärfung vorgetragen worden (vgl. die
Stellungnahmen des Deutschen Instituts für Menschenrechte, von Dr. Reinhard
Marx, des Caritasverbands/Diakonischen Werks, des Deutschen Juristinnen-
bunds und von Dr. Klaus Dienelt, Ausschussdrucksachen 16(4)209 mit den
Buchstaben J, S. 6 ff., D, S. 4 ff., B, S. 14 ff., K, S. 2 ff., H, S. 5 ff.). Es ist be-
zeichnend, dass das BVerwG auf diese im Gesetzgebungsverfahren vorge-
brachten Einwände nicht einging, als es behauptete, es könne gar kein Zweifel
daran bestehen, dass die umstrittene Regelung europarechtskonform sei.

Die Bundesregierung behauptete in ihrer Antwort auf die Schriftlichen Frage 7
der Fragestellerin (Bundestagsdrucksache 17/6773, S. 5), dass der Begründung
des Urteils des BVerwG vom 30. März 2010 nicht zu entnehmen sei, „dass die
Auffassung der Kommission in dieser Rechtsfrage ein tragender Grund für die
Entscheidung des BVerwG gewesen“ sei. In der besagten Urteilsbegründung
wird allerdings gleich dreimal auf den Kommissionsbericht Bezug genommen
und die „Auffassung der Kommission“ in Rn. 28 sogar als das entscheidende,
wenn nicht gar einzige Argument benannt, warum eine Vorlage beim EuGH
angeblich nicht erforderlich gewesen sei.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Visa zum Ehegattennachzug wurden im ersten Halbjahr 2011 er-
teilt (bitte den Vergleichswert des ersten Halbjahres 2010 und den prozen-
tualen Rückgang oder Anstieg nennen)?

a) Wie lauten die entsprechenden Angaben zu den 15 stärksten Herkunfts-
ländern, differenziert nach Ländern (bitte auch die Summe aller 15 Län-
der nennen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6889

b) Wie lauten die entsprechenden Angaben zu den 15 stärksten Herkunfts-
ländern, differenziert nach Zuzug zu Deutschen/Nicht-Deutschen/Ehe-
frauen/Ehemännern?

2. Wie lautet die gesonderte Statistik des Auswärtigen Amts zum Sprachnach-
weis beim Ehegattennachzug für die zehn Hauptherkunftsländer (vgl. An-
lage 2 auf Bundestagsdrucksache 16/12979) für das erste Halbjahr 2011
(bitte auch die Vergleichswerte für das erste Halbjahr 2010 nennen)?

3. Wie hoch war der Anteil der externen Prüfungsteilnehmenden bei Sprach-
prüfungen der Goethe-Institute „Start Deutsch 1“ im ersten Halbjahr 2011,
gemessen an der Gesamtzahl der Prüflinge weltweit (bitte zusätzlich die je-
weiligen Quoten der 15 wichtigsten Herkunftsländer und der jeweils 10 Län-
der mit den höchsten und niedrigsten Externen-Quoten mit einer Teilneh-
mendenzahl über 100 angeben)?

4. Wie hoch waren die Bestehensquoten bei Sprachprüfungen „Start Deutsch 1“
der Goethe-Institute im Ausland im ersten Halbjahr 2011 (bitte nach externen
und internen Prüfungsteilnehmenden und der Gesamtzahl differenziert an-
geben sowie absolute und relative Zahlen nennen, und diese Quoten bitte zu-
sätzlich noch einmal für die 15 Hauptherkunftsländer und die jeweils zehn
Länder mit höchsten und niedrigsten Quoten mit einer Teilnehmendenzahl
von über 100 angeben)?

5. Wie erklärt und bewertet die Bundesregierung den überdurchschnittlichen
und erheblichen Rückgang der zum Ehegattennachzug erteilten Visa nach
Einführung der Sprachnachweise im Ausland (Vergleich der erteilten Visa
der Jahre 2006 und 2010) in

a) Kasachstan (Rückgang um 73 Prozent),

b) Kirgistan (Rückgang um 65 Prozent),

c) Kuba (Rückgang um 60 Prozent),

d) Mazedonien (Rückgang um 58 Prozent),

e) Serbien (Rückgang um 54 Prozent),

f) den Philippinen (Rückgang um 49 Prozent),

g) Usbekistan (Rückgang um 47 Prozent),

h) Nigeria (Rückgang um 46 Prozent),

i) Bosnien (Rückgang um 45 Prozent),

j) Ägypten (Rückgang um 42 Prozent),

und welchen Anteil an dieser Entwicklung könnten dabei die neuen
Sprachanforderungen nach Ansicht der Bundesregierung haben (bitte nach
Ländern differenziert antworten)?

6. Wie erklärt und bewertet die Bundesregierung die auffallend niedrigen Be-
stehensquoten bei Sprachtests im Ausland bezüglich der Länder

a) Ghana (38 Prozent),

b) Äthiopien (49 Prozent),

c) Sri Lanka (51 Prozent),

d) Irak (51 Prozent),

e) Kosovo (51 Prozent),

f) Mazedonien (52 Prozent),
g) Jordanien (53 Prozent),

h) Pakistan (54 Prozent),

Drucksache 17/6889 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

i) Algerien (54 Prozent),

j) Libanon (56 Prozent),

und mit welcher Begründung sieht die Bundesregierung auch bezüglich
dieser Länder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Sprachanforde-
rungen beim Ehegattennachzug als gewahrt an?

7. Wie viele Aufenthaltskarten an drittstaatsangehörige Familienangehörige
von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern wurden im ersten Halbjahr 2011
erteilt (bitte die Zahlen bezüglich der zehn wichtigsten Herkunftsländer ge-
sondert ausweisen und jeweils die Vergleichswerte des ersten Halbjahres
2010 nennen)?

8. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass nach einer Untersuchung an der
Universität Ankara fast ein Viertel der nachzugswilligen Ehegatten mindes-
tens drei Mal an einem Sprachtest teilnehmen mussten, um ihn zu bestehen
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/3090, S. 21), insbesondere in Bezug auf die
Frage der Verhältnismäßigkeit solcher Sprachtests, die ein Zusammenleben
von Ehegatten jedenfalls in diesen Fällen offenkundig massiv erschweren
bzw. verzögern (Wiederholung der insoweit unbeantwortet gebliebenen
Frage 7 auf Bundestagsdrucksache 17/5732)?

9. Inwieweit ist mit den Grundsätzen des Chakroun-Urteils des EuGH vom
4. März 2010 (C-578/08) vereinbar, Ehegatten mit einem unbefristeten Auf-
enthaltsrecht und festem Einkommen aufzuerlegen, ihre gesamte soziale
und wirtschaftliche Existenz in Deutschland und alle erworbenen Rechts-
ansprüche aufzugeben, um die familiäre Einheit im Ausland herzustellen,
wenn es dem nachzugswilligen Ehegatten aus nicht zu vertretenden Grün-
den nur schwer oder gar nicht möglich ist, die geforderten Sprachkenntnisse
zu erwerben, ansonsten aber alle Nachzugsbedingungen der Familien-
zusammenführungsrichtlinie erfüllt sind (bitte ausführlich begründen; er-
neute Wiederholung der insoweit immer noch unbeantwortet gebliebenen
Frage 19 auf Bundestagsdrucksache 17/3393 – auch die Antwort der Bun-
desregierung auf Bundestagsdrucksache 17/5732 zu Frage 10 enthielt nicht
die erneut erbetene Begründung, warum die geschilderte Einzelfallkonstel-
lation damit vereinbar sein soll, dass nach dem Chakroun-Urteil des EuGH
das Ziel der Begünstigung des Familiennachzugs nicht unterlaufen werden
darf und die Verhältnismäßigkeit in jedem Fall gewahrt sein muss)?

10. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass die An-
nahme des BVerwG in seinem Urteil vom 30. März 2010, eine Vorlage an
den EuGH sei nicht erforderlich, weil von einem „acte claire“ auszugehen
sei, jedenfalls nicht mehr haltbar ist, nachdem ein niederländisches Gericht
das Vorliegen eines „acte claire“ vereint und entsprechende Fragen an den
EuGH gerichtet hat (bitte begründen, dies gilt natürlich unabhängig von
der zwischenzeitlichen Erledigung des konkreten Rechtsstreits)?

11. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass die An-
nahme des BVerwG in seinem Urteil vom 30. März 2010, eine Vorlage an
den EuGH sei nicht erforderlich, weil von einem „acte claire“ auszugehen
sei, jedenfalls nicht mehr haltbar ist, nachdem die Europäische Kommission
mit ihrem Schreiben vom 4. Mai 2011 an den EuGH die Annahme des
BVerwG widerlegt hat, die Europäische Kommission sei der Auffassung,
dass Sprachtests im Ausland, die – wie die deutsche Regelung – als Einrei-
sebedingung fungieren, mit EU-Recht vereinbar seien, und dies im Wider-
spruch steht zu den Ausführungen des BVerwG im Urteil vom 30. März
2010 über die angebliche Auffassung der Europäischen Kommission, die
für das BVerwG auch tragend waren für seine Entscheidung (vgl. nicht nur

die Urteilsbegründung, z. B. Rn. 28, sondern auch die öffentliche Darlegung
der Urteilsfindung durch den beteiligten Bundesverwaltungsrichter

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6889

Dr. Harald Dörig, vgl. Vorbemerkung der Fragesteller auf Bundestags-
drucksache 17/5732, bitte begründen)?

12. Kann die Bundesregierung auch nur eine einzige Stimme in der juristischen
Fachliteratur benennen, die der Auffassung wäre, dass die Frage der Ver-
einbarkeit der deutschen Regelung zu Sprachanforderungen beim Ehe-
gattennachzug mit Europarecht eindeutig und zweifelsfrei geklärt sei (im
Sinne eines „acte claire“), nachdem selbst der von einer Regierungsfrak-
tion benannte Sachverständige Dr. Frank Wenger in seiner Stellungnahme
für die Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum
Thema Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug schrieb, dass sich
„nicht vorhersagen“ lasse, wie der EuGH oder der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte das Spracherfordernis bewerten wird (Ausschuss-
drucksache 17(4)266 B, S. 2 und 5)?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Stellung-
nahme des von einer Regierungsfraktion für die Anhörung des Innenaus-
schusses des Deutschen Bundestages zum Thema Sprachanforderungen
beim Ehegattennachzug benannten Sachverständigen Schmäing (Aus-
schussdrucksache 17(4)266 D), der ausführt,

a) dass es „in verschiedenen Ländern (z. B. aufgrund der Größe des Lan-
des, des Fehlens von Goethe-Instituten oder der politischen Situation)“
„problematische Rahmenbedingungen für den Erwerb einfacher
Deutschkenntnisse“ gebe, „gleichwohl“ aber das Auswärtige Amt
„keine Möglichkeit“ habe, „von dieser gesetzlich vorgeschriebenen Ein-
reisevoraussetzung abzusehen“ (a. a. O., S. 2) – was die Notwendigkeit
zumindest einer allgemeinen, einzelfallbezogenen Härtefallregelung be-
legt,

b) dass in Fällen der Umgehung der Visumpflicht die Betroffenen „die er-
forderlichen Sprachkenntnisse problemlos innerhalb des aufenthalts-
rechtlichen Verfahrens erwerben können“ (S. 4) – was belegt, dass in
problematischen Fällen der Spracherwerb in Deutschland zügig und
ohne Probleme erfolgen könnte,

c) „Belastbare oder gar dokumentierte Erkenntnisse zu den Auswirkungen
der bereits im Ausland erworbenen Sprachkenntnisse liegen bei den
Ausländerbehörden so nicht vor. Eine deutlich verbesserte Sprachkom-
petenz im Vergleich zu früheren Verfahrensweisen lässt sich in der Pra-
xis nicht ausdrücklich belegen“ (S. 5) – was zeigt, dass die Neuregelung
nicht einmal zu einer merklichen Verbesserung des Spracherwerbs in
Deutschland geführt hat,

d) dass nach einer Einreise „fast alle Teilnehmer noch einmal ins 1. Mo-
dul“ bei den Integrationskursen einsteigen (S. 6), so dass nicht einmal
von einer verkürzten Sprachlernzeit in Deutschland aufgrund der im
Ausland erworbenen sprachlichen Vorkenntnisse ausgegangen werden
kann,

e) dass „die angebotenen Integrationskurse nicht immer zügig besucht
werden können, z. B. weil die Person aus finanziellen Gründen sofort
einer Erwerbstätigkeit nachgehen muss oder aus Krankheitsgründen
oder wegen Schwangerschaft längere Zeit an der Teilnahme gehindert
ist“ oder weil „die Versorgung auf dem ‚flachen Land‘ nicht immer aus-
reichend“ (S. 6) – was belegt, dass nicht etwa eine individuelle „Integra-
tionsunwilligkeit“ der Betroffenen dem zügigen Beginn eines Sprach-
kurses entgegen steht, sondern im Regelfall objektive, nicht den Betrof-
fenen anzulastende Gründe?
(Bitte zu jeder Unterfrage einzeln und begründet antworten.)

Drucksache 17/6889 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

14. Ist es zutreffend, dass sich Österreich, Deutschland und die Niederlande im
Entstehungsprozess der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie nicht mit
ihrer Forderung durchsetzen konnten, in Artikel 7 Absatz 2 den Begriff „In-
tegrationsmaßnahme“ durch „Integrationsbedingung“ zu ersetzen (wenn ja,
aus welchen Gründen nicht, wenn nein, was war der Fall)?

15. Ist die Auffassung der Bundesregierung, „kein Urteil des Gerichtshofs
spricht sich für einen Einbezug von nationalen Vorschriften zum Familien-
nachzug [in das Verschlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80] aus,
die den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht beschränken“ (Bundestagsdruck-
sache 17/5732, zu den Fragen 17 und 18), so zu verstehen, dass nach
Ansicht der Bundesregierung nationale Regelungen zum Familiennachzug,
die den Zugang zum Arbeitsmarkt beschränken, vom Verschlechterungs-
verbot nach Artikel 13 ARB 1/80 erfasst sind (bitte ausführen und begrün-
den)?

a) Was versteht die Bundesregierung unter einer dem Verschlechterungs-
verbot unterfallenden Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt in-
folge von Vorschriften zum Familiennachzug, wann wäre dies der Fall
(bitte ausführen)?

b) Wird der Zugang zum Arbeitsmarkt bei nachzugswilligen Ehegatten
nicht gerade dadurch beschränkt, dass sie infolge der durch Sprachtests
im Ausland erschwerten und/oder verzögerten Einreise keinen bzw. nur
einen verzögerten Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland erhalten
(bitte nachvollziehbar und in Auseinandersetzung mit dem Abatay-Ur-
teil vom 21. Oktober 2003 begründen, in dem es in Rn. 79 f. heißt, dass
Artikel 13 ARB 1/80 nicht das „Gebiet der Ausübung einer Beschäfti-
gung“ zum Gegenstand hat, sondern den Mitgliedstaaten verbietet, „den
Zugang türkischer Staatsangehöriger zu einer Beschäftigung durch neue
Maßnahmen einzuschränken“)?

16. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der Aussage zu, dass das Demirel-
Urteil des EuGH aus dem Jahr 1987 sich nicht mit dem Verschlechterungs-
verbot nach Artikel 13 ARB 1/80 befasste, sondern mit den Auswirkungen
des Artikels 7 (i. V. m. Artikel 12) des Assoziationsabkommens (bitte be-
gründen), und ist die Nichtbeantwortung der diesbezüglichen konkreten
Frage 18 auf Bundestagsdrucksache 17/5732 so zu verstehen, dass die Bun-
desregierung sich nicht mehr auf das Demirel-Urteil bezieht, wenn es um die
Frage der Reichweite der Standstill-Klausel nach Artikel 13 ARB 1/80 geht,
etwa bei Regelungen zum Familiennachzug (bitte begründen)?

17. Inwieweit ist das Grundsatzurteil des BVerwG vom 30. März 2010 hin-
sichtlich der Frage der Vereinbarkeit der Sprachanforderungen beim Ehe-
gattennachzug mit dem assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbot
überhaupt noch haltbar bzw. aktuell, nachdem der EuGH nach dieser Ent-
scheidung des BVerwG

a) im Toprak-Urteil vom 9. Dezember 2010 den Einwand der niederländi-
schen Regierung ausdrücklich zurückgewiesen hat, die Standstill-Klau-
sel des Artikels 13 ARB 1/80 sei nicht anwendbar, weil die „umstrittene
Regelung nicht die Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt be-
treffe, sondern Rechte ausländischer Ehegatten in Bezug auf Familien-
zusammenführung“ (Rn. 37 ff. des Urteils), und zwar mit dem Argu-
ment, dass auch Regelungen dem Verschlechterungsverbot unterfallen,
die sich „nicht unmittelbar auf ausländische Arbeitnehmer“ beziehen,
sondern z. B. auf deren Ehegatten (Rn. 40 f.) – und der EuGH damit die
anders lautende Auffassung des BVerwG in seinem Urteil vom 30. März
2010 (dort Rn. 20) widerlegt hat,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/6889

b) im Urteil C-92/07 vom 29. April 2010 klarstellte, dass Artikel 13
ARB 1/80 „der Einführung neuer Beschränkungen der Ausübung der
Arbeitnehmerfreizügigkeit … einschließlich solchen entgegensteht, die
die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die
erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger … betreffen, die dort
von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen“ (vgl. Rn. 49 f.) – und der
EuGH damit die anders lautende Auffassung des BVerwG in seinem Ur-
teil vom 30. März 2010 (dort Rn. 20) widerlegt hat,

c) in seinem Urteil C-186/10 vom 21. Juli 2011 (Rn. 28 f.) noch einmal die
Wirkungsweise der Stillhalteklauseln, die nämlich keine „materiell-
rechtliche Vorschrift“ als solche schaffen (also auch keine im Bereich der
Familienzusammenführung), sondern „eine gleichsam verfahrensrecht-
liche Vorschrift“ darstellen, „die in zeitlicher Hinsicht festlegt, nach
welchen Bestimmungen der Regelung eines Mitgliedstaats die Situation
eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist“, also auch im Be-
reich der Familienzusammenführung – und der EuGH damit die anders
lautende Auffassung des BVerwG in seinem Urteil vom 30. März 2010
(dort Rn. 20) widerlegt hat?

(Bitte begründet und differenziert nach Unterfragen beantworten.)

18. Welche Vorkehrungen hat die Bundesregierung getroffen, um die aus dem
Chakroun-Urteil des EuGH und dem hierauf reagierenden Urteil des
BVerwG vom 16. November 2010 (1C 20 und 1C 21.9) in Bezug auf die
(Nicht-)Berücksichtigung der sozialrechtlichen Freibeträge nach § 11 Ab-
satz 2 Satz 1 Nummer 6 i. V. m. § 30 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II) bzw. nach § 11 Absatz 2 Satz 2 SGB II bei der Berechnung des
Lebensunterhalts beim Familiennachzug folgenden Konsequenzen wirksam
umzusetzen?

19. Aus welchen Gründen folgt die Bundesregierung nicht der im Rahmen der
Hohenheimer Tage zum Ausländerrecht 2011 geäußerten Auffassung des
Bundesverwaltungsrichters Dr. Harald Dörig, wonach es integrationspoli-
tisch kontraproduktiv sei, die sozialrechtlichen Freibeträge bei der Berech-
nung des notwendigen Lebensunterhalts im Aufenthaltsrecht negativ zu
berücksichtigen, und wie bewertet die Bundesregierung die entsprechende
Bundesratsinitiative des Landes Berlin?

20. Hat die Bundesregierung inzwischen einen Rechtsstandpunkt zu der Frage
entwickelt, ob nicht wenigstens auch bei langfristig Aufenthaltsberechtigten
nach § 9 Buchstaben a bis c des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) die
Berechnung des Lebensunterhalts unter anspruchswahrender Berücksich-
tigung der genannten sozialrechtlichen Freibeträge entsprechend der Ent-
scheidungen des BVerwG vom 16. November 2010 bzw. des Chakroun-
Urteils des EuGH erfolgen müsste, da die Formulierungen zu notwendigen
Einkünften in Artikel 5 Absatz 1a der Familienzusammenführungsrichtlinie
zu langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen wortgleich
sind zu denen in Artikel 7 Absatz 1c der Familienzusammenführungsricht-
linie (wenn nein, warum nicht, wenn ja, welchen)?

21. Welche praktischen Erfahrungen liegen inzwischen zu der Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Absatz 5 AufenthG zur Sicherstellung einer
verfassungskonformen Umsetzung der Sprachanforderungen im Ausland
beim Ehegattennachzug vor?

22. Inwieweit hält die Bundesregierung die Regelung der Sprachanforderungen
beim Ehegattennachzug noch für sinnvoll, wenn türkischen Staatsangehöri-
gen – und damit der Hauptzielgruppe der Regelung – infolge der Recht-

sprechung des EuGH (vgl. bereits das Soysal-Urteil) auch zur Inanspruch-

Drucksache 17/6889 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
nahme von Dienstleistungen, d. h. auch zum Besuch eines Sprachkurses, die
Einreise nach Deutschland visumfrei möglich sein wird?

23. Inwieweit hält die Bundesregierung ihre zentrale Begründung für den Ein-
griff in das Grundrecht auf Familienzusammenleben durch die Regelung der
Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug, wonach „das gesetzgeberi-
sche Anliegen, den Erwerb von Sprachkenntnissen tatsächlich sicherzustel-
len, nicht durch mildere Mittel wie etwa eine Sprachkursverpflichtung nach
der Einreise im Inland erreicht werden kann, da letztere den erfolgreichen
Abschluss nicht sicherstellt. Eine derartige Maßnahme ist daher zwar weni-
ger belastend, aber zur Verwirklichung des gesetzgeberischen Ziels nicht
gleichermaßen geeignet“ (Bundestagsdrucksache 16/ 11997, Frage 8c; vgl.
auch Bundestagsdrucksache 16/7288, Frage 23b und 23c), weiterhin für
tragfähig, nachdem mit der Verschärfung des § 8 Absatz 3 AufenthG der Ge-
setzgeber insofern „mildere Mittel“ ergriffen hat, um den erfolgreichen
Spracherwerb in Deutschland tatsächlich sicherzustellen (bitte ausführlich
begründen), und mit welcher Begründung geht die Bundesregierung gegebe-
nenfalls davon aus, dass trotz der Verschärfung des § 8 Absatz 3 AufenthG
und der gesetzlichen Verpflichtung zum Sprachkursbesuch neu Eingewan-
derte in Integrationskursen in Deutschland nach 600 bis 1 200 Unterrichts-
stunden nicht einmal das Niveau A1 erreichen – was alleine den auch nach
Ansicht der Bundesregierung belastenderen Spracherwerb im Ausland
rechtfertigen könnte, wenn man der oben zitierten Begründung folgt (bitte
ausführlich darlegen)?

24. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der INTEC-Stu-
die der Radboud Universität Nijmegen vom Dezember 2010 („The INTEC
Project: Synthesis Report: Integration and Naturalisation tests: the new way
to European Citizenship“),

a) aus der hervorgeht, dass die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich
neun europäischer Länder die höchsten Anforderungen bei Sprachtests
im Ausland stellt (nämlich mündliche und schriftliche Kenntnisse auf
dem Niveau A1, wobei das Bestehen eines entsprechenden Tests für die
Einreise erforderlich ist; vgl. ebd., S. 38f),

b) die zu dem Ergebnis kommt, dass es keine Gründe dafür gibt, Aufent-
haltsrechte von bestimmten Integrationsanforderungen abhängig zu
machen, zumal dies zum Ausschluss bestimmter Gruppen von einem
sicheren Aufenthaltsstatus und zu weiteren Integrationshemmnissen
führt (S. 118),

c) die weiter zu dem Ergebnis kommt, dass eine effektive Integrationspoli-
tik den Themen Aufnahmegesellschaft, Bekämpfung von Diskriminie-
rung und gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt mehr Aufmerksamkeit
schenken sollte als dem begrenzten Thema Spracherwerb (S. 118)?

(Bitte differenziert jede Unterfrage beantworten.)

Berlin, den 30. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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