BT-Drucksache 17/687

Umsetzung des Bundestagsantrags 15/5689 "Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 - Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen"

Vom 10. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/687
17. Wahlperiode 10. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katrin Werner, Jan van Aken, Christine Buchholz, Wolfgang
Gehrcke, Annette Groth, Stefan Liebich und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung des Bundestagsantrags 15/5689 „Erinnerung und Gedenken an die
Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur
Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“

Der im Osmanischen Reich an den Armeniern und anderen indigenen Christen
(Aramäer/Assyrer, Griechen) verübte Völkermord bildet bis heute einen nicht
aufgearbeiteten Teil der türkischen Geschichte. Unter der fünfjährigen Allein-
herrschaft des Jungtürkenregimes von 1913 bis 1918 wurden bis zu 1,5 Millio-
nen Armenierinnen und Armenier massakriert bzw. mittels Deportation in die
mesopotamische Wüste lebensfeindlichen Umweltbedingungen ausgesetzt, die
zu ihrer fast vollständigen Vernichtung im osmanischen Machtbereich führten.
Aufgrund der jahrzehntelangen Politik der Republik Türkei, dieses Staatsver-
brechen zu tabuisieren, waren die armenischen Diasporen gezwungen, in Dritt-
staaten eine offizielle Anerkennung und Verurteilung des Völkermordes zu er-
reichen. Die Anerkennung der historischen Tatsache des Völkermordes ist die
Voraussetzung dafür, dass sich zivilisatorische Versöhnungsprozesse zwischen
Türken und Armeniern entfalten können.

Demgegenüber bestreitet die Türkei bis zum heutigen Tag, dass der Deportation
ein Vernichtungsmotiv zugrunde gelegen habe und führt die hohe Opferzahl
überwiegend auf die damaligen Kriegsumstände und technischen Unzulänglich-
keiten zurück. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene, in intellektuellen Kreisen und
in den türkischen Medien sind in den letzten Jahren jedoch deutliche Fortschritte
hinsichtlich einer kritischeren Geschichtsbetrachtung festzustellen. Auch als
Folge der unzureichenden juristischen und politischen Aufarbeitung des Mordes
an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink wurde eine breite gesell-
schaftliche Diskussion über das Schicksal der Armenier angestoßen. Im Jahr
2008 initiierten 200 Intellektuelle, denen sich später über 30 000 türkische
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anschlossen, eine Online-Petition, in der sie
sich persönlich für die „Große Katastrophe“ entschuldigten, die 1915 über die
Armenier hereingebrochen kam. Angesichts der weiterhin bestehenden Ein-
schränkungen der Meinungsfreiheit bei diesem Thema durch den novellierten
Strafrechtsparagrafen 301 („Herabwürdigung der türkischen Nation“) stellt die
Petition einen bemerkenswerten Akt zivilen Ungehorsams dar, der zeigt, dass

wachsende Teile der demokratischen Zivilgesellschaft eine offene Vergangen-
heitsaufarbeitung befürworten. Die vollständige Gewährung der Presse- und
Meinungsfreiheit, auch für die Kritikerinnen und Kritiker der staatlichen Ge-
schichtsdoktrin, bleibt deshalb ein Prüfstein für die Fortführung des Demokra-
tisierungsprozesses in der Türkei und die EU-Beitrittsreife des Landes.

Drucksache 17/687 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2005 in einem einstimmig verabschiedeten
Antrag die Massaker an den osmanischen Armeniern verurteilt und sich das Ziel
gesetzt, zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen. Der dies-
jährige 95. Jahrestag des Völkermords bietet einen geeigneten Anlass, um Bilanz
zu ziehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist den Ansprüchen des Antrags bis-
lang nicht gerecht geworden. Aufgabe bundesdeutscher Bildungspolitik sollte
laut Bundestagsantrag sein, „dass die Aufarbeitung der Vertreibung und Ver-
nichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Kon-
flikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt“ (Bundestagsdrucksache
15/5689). Mit Ausnahme von Brandenburg ist der Völkermord an den Arme-
niern jedoch noch immer in keinem Bundesland Gegenstand des Geschichtslehr-
plans. Und Brandenburg hatte sich dazu schon vor dem Bundestagsbeschluss
entschlossen. Die Behandlung des Themas in deutschen Schulen liegt im ur-
eigensten Interesse demokratischer Bildungspolitik. Denn als damaliger militä-
rischer Verbündeter des Osmanischen Reichs besaß das Deutsche Kaiserreich
eine Mitverantwortung, da es nichts unternahm, um die Gräuel zu stoppen. Der
Völkermord bildet damit auch einen Teil der deutschen Geschichte, über den die
Schülerinnen und Schüler hierzulande aufgeklärt werden müssen.

Hierzu gehört auch die Vermittlung eines authentischen Lepsiusbildes. Der evan-
gelische Theologe Johannes Lepsius war zweifellos ein leidenschaftlicher An-
walt der Armenier, jedoch bei Weitem nicht der Einzige, den die Armenier hatten.
Auch andere namhafte Persönlichkeiten wie beispielsweise der Pazifist und
Schriftsteller Armin T. Wegner und die sozialistischen Reichstagsabgeordneten
Karl Liebknecht, Eduard Bernstein, Georg Ledebour und Georg Gradnauer
haben sich für das Existenzrecht des armenischen Volkes eingesetzt. Eine ein-
seitige Überhöhung der Rolle Lepsius’ leistet darüber hinaus deutschnationaler
Geschichtsklitterung Vorschub, wenn gleichzeitig seine nachgewiesene anti-
demokratische und antisemitische Gesinnung verschwiegen wird.

Einen weiteren Schwachpunkt des Bundestagsantrags bildet die interpretations-
offene Bewertung der Armeniermassaker. Insbesondere der Satz: „Zahlreiche
unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeich-
nen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord“ (Bundetags-
drucksache 15/5689) ist dahingehend geeignet Missverständnisse hervorzuru-
fen, dass der Deutsche Bundestag dies offenbar anders sieht, indem er selbst es
unterlässt, die Massaker explizit als Völkermord zu bewerten. Vor diesem Hin-
tergrund besteht deutlicher Klärungsbedarf über die Haltung der Bundesregie-
rung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung seit Verabschiedung des
Antrags auf Bundestagsdrucksache 15/5689 „Erinnerung und Gedenken an
die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss
zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ unternommen,

a) um auf die türkische Regierung einzuwirken, dass die Kritikerinnen und
Kritiker des offiziösen Geschichtsbildes ihr demokratisches Grundrecht
auf freie Meinungsäußerung ausüben dürfen, ohne dafür strafrechtlich be-
langt zu werden?

b) um türkische Nichtregierungs- und Menschenrechtsorganisationen, die
sich für die türkisch-armenische Aussöhnung einsetzen, in ihren Bemü-
hungen politisch zu unterstützen?

c) um in der Bundesrepublik Deutschland den Dialog zwischen türkischen
und armenischen Migrantenorganisationen über die historischen Ereig-

nisse zu fördern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/687

d) um in der Bundesrepublik Deutschland die weitere wissenschaftliche
Forschung bezüglich der „unrühmlichen Rolle“ (Bundetagsdrucksache
15/5689) und Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs zu fördern?

2. In wie vielen Fällen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung im Zuge
der Novellierung des Artikels 301 des türkischen Strafgesetzbuchs Anklagen
wegen Thematisierung des Völkermords erhoben?

3. Wie bilanziert die Bundesregierung die bisherige Rechtspraxis nach Ände-
rung des Artikels 301 des türkischen Strafgesetzbuchs hinsichtlich der Kon-
formität mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, und welche
Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

4. Betrachtet die Bundesregierung die Verständigung zwischen der Türkei und
Armenien über die Vertreibung und Vernichtung der osmanischen Armenier
als einen wichtigen Aspekt für den Beitritt der Türkei zur Europäischen
Union?

a) Falls ja, wie könnte eine solche Einigung zwischen beiden Ländern aus
Sicht der Bundesregierung aussehen?

b) Falls nein, wie gedenkt die Bundesregierung der Gefahr zu begegnen,
dass durch die fehlende Verständigung zwischen der Türkei und Arme-
nien ein zusätzlicher Konflikt in die EU hineingetragen wird?

5. Welche konkreten Initiativen hat die Bundesregierung ergriffen, um ange-
sichts der bundespolitischen Bedeutung des Themas eine Abstimmung der
Bundesländer zu erreichen, damit der Völkermord an den Armeniern in die
Geschichtslehrpläne aufgenommen wird und erkennt sie diesbezüglich
einen aus dem Antrag auf Bundestagsdrucksache 15/5689 resultierenden
Handlungsauftrag?

6. Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, dass im Rahmen ihrer
Förderung des Lepsius-Hauses in Potsdam ein ausgewogenes und differen-
ziertes Bild von Johannes Lepsius’ Leben und Wirken vermittelt wird, das
dem aktuellen Forschungsstand tatsächlich entspricht?

7. Welche Einrichtungen, Organisationen und/oder Einzelpersonen sind an
Definition und inhaltlicher Gestaltung der Ausstellungsschwerpunkte im
Lepsius-Haus beteiligt?

8. Erkennt die Bundesregierung eine aus dem Antrag auf Bundestagsdruck-
sache 15/5689 resultierende Verpflichtung, dass sich die Gedenkstätten-
konzeption des Lepsius-Hauses im Wesentlichen dem Völkermord an den
Armeniern widmen müsste, und falls ja, was unternimmt sie, um eine mög-
liche thematische Fokussierung auf die Person Johannes Lepsius zu verhin-
dern?

9. Wie soll aus Sicht der Bundesregierung die Gedenkstätte Lepsius-Haus un-
ter anderem türkische und kurdische Muslime dazu motivieren, die Verbre-
chen an den Armeniern aufzuarbeiten, wenn der Namenspatron Johannes
Lepsius zu Lebzeiten für eine christlich geprägte Türkei mit den Armeniern
als wichtigster Stütze eintrat und zu diesem Zweck die muslimische Bevöl-
kerung zur Annahme des Christentums bekehren wollte?

10. Was unternimmt die Bundesregierung, um die Verdienste der zahlreichen
anderen historischen deutschen Persönlichkeiten zu würdigen, die sich

seinerzeit für die bedrohten osmanischen Armenier eingesetzt bzw. politi-
sche Aufklärung über ihr Schicksal eingefordert haben?

Drucksache 17/687 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
11. Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich bei den Massakern
an den Armeniern 1915/16 eindeutig um einen Völkermord im Sinne der
UN-Konvention von 1948 handelt?

a) Falls ja, hat sie ihre Sichtweise in der Vergangenheit auch der türkischen
Regierung expressis verbis vermittelt?

b) Fall nein, wie ist die Rechtsauffassung der Bundesregierung in dieser
Frage, und wie begründet sie diese?

Berlin, den 10. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.