BT-Drucksache 17/6841

Soziale und menschenrechtliche Situation von Flüchtlingen in Bulgarien

Vom 23. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6841
17. Wahlperiode 23. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Annette Groth, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen, Inge Höger,
Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Niema Movassat, Katrin Werner und der Fraktion
DIE LINKE.

Soziale und menschenrechtliche Situation von Flüchtlingen in Bulgarien

Im Jahr 2012 soll Bulgarien dem Schengen-Raum beitreten. Damit wird seine
1647 Kilometer lange Grenze zur Türkei, Mazedonien, Serbien und dem
Schwarzen Meer neue Schengen-Außengrenze werden. Prognosen gehen da-
von aus, dass sich die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die dann über
Bulgarien als Transitland die westeuropäischen Länder erreichen wollen, zu-
nehmen wird.

Nach Angaben der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge in Bulgarien wurden im
Zeitraum 1. Januar 2011 bis zum 30. Juni 2011 insgesamt 466 Asylanträge ge-
stellt, lediglich in drei Fällen wurde ein Flüchtlingsstatus erteilt, 91 Menschen
erhielten einen Aufenthaltsstatuts aufgrund von humanitären Gründen. Eine
Statistik über die Anzahl der Migrantinnen und Migranten ohne Papiere in Bul-
garien gibt es nicht, inoffiziellen Schätzungen zufolge sind das 10 bis 15 Pro-
zent aller sich in Bulgarien aufhaltenden Migrantinnen und Migranten.

Seit 2009 werden viele Flüchtlinge in Bulgarien in neu geschaffene Lager ein-
gesperrt. Die Bedingungen sind nach Ergebnissen einer Studie des Helsinki-
Komitee Bulgarien (BHC) und des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes für die Flücht-
linge sind menschenrechtlich nicht hinnehmbar. Seit Jahren treten viele Flücht-
linge in den Einrichtungen in Bulgarien in Hungerstreiks, um auf die dra-
matischen Bedingungen aufmerksam zu machen: überfüllte Räume, unsanierte
alte Gebäude, fehlende elementare hygienische Bedingungen (www.detention-
in-europe.org/index.php?option=com_content&view=article&id=297&Itemid
=212; Becoming Vulnerable in Detention, BHS).

Die bulgarische Regierung hat in Zusammenhang mit den Verpflichtungen, die
der Staat für die Überwachung der EU-Außengrenze eingehen muss, eine Na-
tionale Strategie für Migration, Asyl und Integration für 2011 bis 2020 an-
genommen. Für die Erfüllung der vorgesehenen Maßnahmen wird Bulgarien
hinsichtlich des Ausbaus und der Einrichtung von Flüchtlingslagern wie auch
bezüglich einer verbesserten Überwachung der Grenzen auch von der EU
finanziell unterstützt. Allein über den Europäischen Flüchtlingsfonds sollten

2010 zur „Integration“ von Flüchtlingen in Bulgarien ca. 935 000 Euro fließen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hat sich nach Auffassung der Bundesregierung die humanitäre und
menschenrechtliche Lage für Flüchtlinge in Bulgarien in den letzten Jahren
entwickelt?

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2. Inwieweit hat die Bundesregierung Kenntnisse über die Zahl der sich „ille-
gal“ in Bulgarien aufhaltenden Personen und den Fluchtgründen dieser
Personen?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Lage in den Flücht-
lingslagern Banya, Pastrogor, Lyubimetz, Busmantzi, Sofia, Haskovo und
Kapitan Andreevo (bitte aufgeschlüsselt nach Flüchtlingslagern und unter
Berücksichtigung folgender Kriterien beantworten: offizielle Kapazität der
Flüchtlingslager; Anzahl der untergebrachten Personen – hier differenziert
nach Männern, Frauen und Kindern –; Versorgungslage – hier Betten pro
Raum, sanitäre Einrichtungen, Nahrungssituation, medizinische Versor-
gung –; Charakter der Unterbringung; Aufenthaltsdauer und Charakter des
Aufenthalts)?

4. Welche konkreten Funktionen und Aufgaben haben nach Informationen
der Bundesregierung die in Bulgarien existieren Aufnahmezentren, Ab-
schiebezentren und Übergangszentren für Flüchtlinge?

Gibt es nach Informationen der Bundesregierung in der Praxis konkrete
Unterschiede der Aufgaben und bei der Belegung mit Flüchtlingen bei den
unterschiedlichen Zentren?

5. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über das Aufnahme-
zentrum Sofia vor, das eine geschlossene, gefängnisähnliche Einrichtung
darstellt, die mit einem hohen Stacheldrahtzaun abgesichert ist?

Entspricht dies aus Sicht der Bundesregierung den Menschenrechtsstan-
dards des EU-Rechts?

6. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die konkrete Praxis bei
den im bulgarischen Asylrecht vorgesehenen verkürzten und normalen
Verfahren für die Asylantragstellung?

Welche konkreten Unterschiede gibt es nach Kenntnis der Bundesregie-
rung in der Abwicklung und der benötigten Zeitspanne für die Entschei-
dung über die Asylanträge?

7. Welche Informationen liegen der Bundesregierung im Hinblick auf die Tat-
sache vor, dass nach Informationen von Menschenrechtsorganisationen es
im Ermessen eines bulgarischen Grenzpolizisten liegt, ob ein Flüchtling
das verkürzte oder ordentliche Asylverfahren durchläuft?

8. Ist ein solches Verfahren nach Ansicht der Bundesregierung mit der Genfer
Flüchtlingskonvention und dem EU-Recht vereinbar?

9. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Planungen für die
Eröffnung des Transitzentrums Pastrogor vor?

a) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Korruptionsvorfälle in
Bulgarien in Zusammenhang mit dem Bau dieses Zentrums?

b) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Verwendung der
EU-Finanzmittel, die zur Errichtung des Zentrums zur Verfügung ge-
stellt wurden?

10. Ist der Bundesregierung bekannt, dass Asylbewerberinnen und Asylbewer-
ber in Bulgarien häufig direkt nach ihrer Antragstellung in ein Detention-
Center gebracht werden, obwohl sie während des Asylverfahrens in einem
Reception-Center untergebracht werden müssen?

Wenn ja, welche Informationen hat die Bundesregierung dazu?

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11. Welche Informationen hat die Bundesregierung über Berichte, dass Flücht-
linge in vielen bulgarischen Flüchtlingsheimen keine nach EU-rechtlich
vorgeschriebene Behandlung erfahren?

a) Wird nach Informationen der Bundesregierung das Recht auf Überset-
zung von Seiten der bulgarischen Behörden für Flüchtlinge gewährleis-
tet?

b) Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen das Recht auf Über-
setzung nicht im ausreichenden Maße von Seiten der bulgarischen Be-
hörden eingehalten wurde?

c) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die von Flüchtlings-
organisationen erhobenen Vorwürfe gegen die bulgarischen Behörden,
dass Flüchtlinge von Seiten der bulgarischen Behörden nicht oder nicht
ausreichend über ihre Rechte informiert werden?

12. Hat die Bundesregierung Kenntnis davon, wie hoch die vom bulgarischen
Staat gewährte finanzielle oder sonstige Unterstützung für Asylbewerbe-
rinnen und Asylbewerber in Bulgarien pro Monat für die Zeit des laufen-
den Asylverfahrens ist?

13. Hat die Bundesregierung Kenntnis davon, dass Asylantragstellerinnen und
-antragsteller in Bulgarien direkt nach der Antragstellung eingesperrt wer-
den?

Inwieweit wird dies von bulgarischen Behörden mit der im bulgarischen
„Fremdenrecht“ vorgesehenen Zwangsunterbringung für Personen, denen
ein Abschiebebescheid erteilt wurde oder gar mit „Interessen der nationa-
len Sicherheit“ begründet?

14. Hat sich die Bundesregierung an der Finanzierung der Flüchtlingsunter-
künfte in Bulgarien in Banya, Pastrogor, Lyubimetz, Busmantzi, Sofia,
Haskovo und Kapitan Andreevo beteiligt, und wenn ja, in welcher Form
(bitte nach Flüchtlingsunterkünften aufgeschlüsselt antworten)?

15. Kann die Bundesregierung die Aussage von Michal Parzyszek, Sprecher
von FRONTEX, bestätigen, dass Frontex im Rahmen der Operation Posei-
don auch in Bulgarien und in der Grenzregion zur Türkei aktiv ist?

Welche Informationen liegen der Bundesregierung über die Art und den
Umfang der Tätigkeit der Frontex-Beamten vor, die in der von Parzyszek
genannten „experts on the ground“ am Grenzübergang Svilengrad, tätig
sind?

Wie viele deutsche Beamte waren seit dem Beitritt Bulgariens zur EU dort
eingesetzt, und was war ihr Tätigkeitsgebiet?

16. Inwieweit hat die Bundesregierung Erkenntnisse über die Zusammenarbeit
an der EU-Außengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei?

17. Welche konkrete Zusammenarbeit gibt es zwischen den bulgarischen und
den türkischen Grenzbehörden?

18. Sind FRONTEX-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in die gemeinsame Zu-
sammenarbeit zwischen Bulgarien und der Türkei integriert, und wenn ja,
in welchen Funktionen und Aufgabenbereichen?

19. Wurden seit dem EU-Beitritt Bulgariens auch deutsche Beamtinnen und
Beamte an den Außengrenzen in Bulgarien eingesetzt, und wenn ja, in wel-
chen Funktionen und Aufgaben (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?

20. Werden oder wurden FRONTEX-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auch

außerhalb Bulgariens auf türkischen Staatsgebiet eingesetzt, und wenn

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nach Kenntnis der Bundesregierung nicht, kann die Bundesregierung dies
mit Sicherheit ausschließen?

21. Ist der Bundesregierung bekannt, ob es zwischen rumänischen und bulga-
rischen Behörden Kooperation im Hinblick auf das „Black Sea Border Co-
ordination und Information Center“ in Burgas gibt, und wenn ja, welche?

22. Inwiefern hat sich Deutschland an der Planung und Finanzierung des
„Black Sea Border Coordination und Information Center“ in Burgas betei-
ligt?

23. Welche weitere Kooperation gibt es zwischen deutschen, bulgarischen und
rumänischen Behörden bezogen auf das „Black Sea Border Coordination
und Information Center“ in Burgas?

24. Welche konkreten neuen Grenzsicherungsmaßnahmen wurden in den letz-
ten beiden Jahren an der EU-Außengrenze zwischen Bulgarien und der
Türkei vorgenommen?

25. Wurden diese neuen Grenzsicherungsmaßnahmen durch Haushaltsmittel
der EU unterstützt?

26. Welche konkreten Maßnahmen wurden diesbezüglich aus Haushaltsmitteln
der EU gefördert (bitte nach Maßnahme und Förderhöhe aufschlüsseln)?

27. Gibt es laufende Verhandlungen über neue Maßnahmen, die aus EU-Mit-
teln gefördert werden sollen (bitte nach Maßnahme und Förderhöhe auf-
schlüsseln)?

28. Hat die Bundesregierung Kenntnis über die Zahl der Abschiebungen von
Flüchtlingen von Bulgarien in die Türkei, seitdem Bulgarien der EU beige-
treten ist (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?

29. Welche Mindestkriterien müssen nach Ansicht der Bundesregierung von
der Türkei erfüllt sein, damit Migrantinnen und Migranten bzw. Schutz-
suchende aus Bulgarien in die Türkei abgeschoben werden dürfen?

Werden diese Mindestkriterien in Bezug auf Schutzsuchende nach Ansicht
der Bundesregierung durch die Türkei gewährleistet?

30. Aus welchen Gründen lehnt die Bundesregierung den Beitritt Bulgariens
zum Schengen-Abkommen zum jetzigen Zeitpunkt ab?

Welche konkreten Gründe liegen nach Ansicht der Bundesregierung vor,
wenn sie von „allgemeinen Defiziten in der Korruptionsbekämpfung“ im
Hinblick auf Bulgarien spricht?

31. Wie soll das von der Bundesregierung vorgeschlagene „gestufte Verfahren“
im Hinblick auf die Mitgliedschaft Bulgariens im Schengen-Raum konkret
umgesetzt werden, und welche Auswirkung hätte dies auf die Situation von
Flüchtlingen in Bulgarien?

32. Müsste Bulgarien aus Sicht der Bundesregierung Veränderungen in seiner
Flüchtlingspolitik im Hinblick auf die Mitgliedschaft im Schengen-Raum
vornehmen, und wenn ja, welche?

33. Welche zusätzlichen Grenzkontrollsysteme erwartet die EU nach Kenntnis
der Bundesregierung von Bulgarien, damit Bulgarien die Kriterien für die
Aufnahme in den Schengen-Raum erfüllt?

Berlin, den 22. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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