BT-Drucksache 17/6754

Rückführung der Gebeine von Opfern deutscher Kolonialverbrechen nach Namibia (Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 17/6227)

Vom 3. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6754
17. Wahlperiode 03. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Niema Movassat, Sevim Dag˘delen, Christine Buchholz,
Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Stefan Liebich, Kathrin Vogler
und der Fraktion DIE LINKE.

Rückführung der Gebeine von Opfern deutscher Kolonialverbrechen
nach Namibia
(Nachfrage zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
auf Bundestagsdrucksache 17/6227)

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 1. Juli 2009 (2 BvE 5/06)
den besonderen Stellenwert des Frage- und Informationsrechts des Deutschen
Bundestages betont und auf die entsprechende Antwortpflicht der Bundesregie-
rung hingewiesen. Die Antwort der Bundesregierung vom 15. Juni 2011 auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 17/6227)
wird nach Ansicht der Fragestellerinnen und Fragesteller diesen Anforderungen
nicht gerecht. Die Antworten lassen die Tendenz erkennen, auf konkrete Fragen
nur ganz allgemein, ausweichend oder wie im Fall der Frage 12 gar nicht zu ant-
worten. Das berechtigte öffentliche Interesse an einer eindeutigen Positionie-
rung der Bundesregierung und einer klareren und eindeutigeren Beantwortung
der gestellten Fragen machen deshalb diese Nachfrage notwendig.

Wir verweisen als Einleitung auf die Vorbemerkung der Kleinen Anfrage vom
30. Mai 2011 (Bundestagsdrucksache 17/6011). Konkreter Anlass war und ist
weiterhin die bevorstehende Rückführung von in deutschen Museen, Sammlun-
gen und Archiven lagernden Schädeln von Opfern des deutschen Vernichtungs-
feldzugs gegen die Völker der Herero, Nama und Damara in der ehemaligen
deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, der heutigen Republik Namibia.
Diese Rückführung ist untrennbar verbunden mit der Frage einer offiziellen
Anerkennung des von deutscher Seite verübten Genozids und der notwendigen
umfassenderen Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit in Deutschland.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die verbreitete Auffassung insbesondere
von Fachhistorikerinnen und Fachhistorikern, dass es sich bei dem durch die
deutsche Reichsregierung von 1904 bis 1908 geführten Vernichtungskrieg
gegen die Herero, Nama und Damara gemäß den Kriterien, die die Konven-
tion vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völker-

mords für einen Genozid bzw. Völkermord definiert, aus heutiger Sicht um
einen Völkermord in diesem Sinne handelte, und steht die Bundesregierung
noch zu den Worten der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung a. D., Heidemarie Wieczorek-Zeul, die 2004 in
Okakarara/Namibia erklärte: „Die damaligen Gräueltaten waren das, was
heute als Völkermord bezeichnet würde (…) Ich bitte Sie im Sinne des ge-

Drucksache 17/6754 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

meinsamen ‚Vater unser‘ um Vergebung unserer Schuld. Ohne bewusste
Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es keine Versöhnung geben. Versöhnung
braucht Erinnerung“?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die Anerkennung des von deutschen
Truppen verübten Völkermords an den Herero, Nama und Damara durch die
namibische Nationalversammlung am 26. Oktober 2006 und die damit ver-
knüpfte Unterstützung der Forderungen der betroffenen Volksgruppen nach
materieller und moralischer Wiedergutmachung gegenüber dem deutschen
Staat und deutschen Unternehmen hinsichtlich möglicher auf die Bundes-
republik Deutschland zukommender Konsequenzen (es wird um eine klare
Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Sachverhalt gebeten, ohne Ver-
weis auf die Positionen der namibischen Regierung)?

3. Inwieweit teilt die Bundesregierung – unabhängig von der Frage der völker-
rechtlichen Einstufung des Vernichtungskrieges gegen die Herero, Nama
und Damara als Völkermord – die Auffassung, dass es ein problematischer
Euphemismus ist, wenn statt von Völkermord im ehemaligen Deutsch-Süd-
westafrika lediglich von der „besonderen historischen und moralischen Ver-
antwortung“ gegenüber Namibia gesprochen wird, und woraus leitet sich
qualitativ das Besondere der historischen und moralischen Verantwortung
gegenüber Namibia im Unterschied zu anderen ehemaligen deutschen Kolo-
nien ab?

4. Hat es seit dem namibischen Parlamentsbeschluss von 2006, in dem Wieder-
gutmachungsforderungen der Herero und Nama unterstützt werden, einen
offiziellen Dialog zwischen dem Deutschen Bundestag und/oder der Bun-
desregierung mit dem namibischen Parlament und/oder der Regierung über
die Frage nach Wiedergutmachung gegeben?

Wenn ja, welches waren seine Inhalte und Ergebnisse?

5. Würde die Bundesregierung die Einrichtung einer deutsch-namibischen Par-
lamentariergruppe oder zumindest einer parlamentarischen Freundschafts-
gruppe zur Förderung und Institutionalisierung des Dialogs zwischen beiden
Ländern begrüßen, um die besondere historische und moralische Verantwor-
tung Deutschlands gegenüber Namibia zu bekräftigen?

Falls nein, warum nicht?

6. Würde die Bundesregierung es begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag mit
dem Ziel, in einen umfassenderen Versöhnungsprozess einzutreten, ein An-
gebot an die namibische Nationalversammlung zu einem gemeinsamen Par-
lamentarierdialog, der die mit dem Fortgang der Versöhnung zusammenhän-
genden Fragen gemeinsam bearbeitet, beschließen würde (siehe dazu auch
den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestags-
drucksache 16/9708)?

Falls nein, warum nicht?

7. Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, in einen direkten Dialogprozess
über ihre koloniale Vergangenheit mit der namibischen Zivilgesellschaft,
den Opfergruppen, dem namibischen Parlament und der namibischen Regie-
rung einzutreten, um auf diese Weise das Besondere der historischen und
moralischen Verantwortung zu unterstreichen und offene Fragen, die mit
dem Fortgang der begonnenen Versöhnung zusammenhängen, auf diese
Weise gemeinsam mit der namibischen Seite zu erörtern und zu beantwor-
ten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6754

8. Inwiefern vertritt die Bundesregierung die Haltung, dass hinsichtlich im
Ausland verübter Verbrechen, die durch eine ihrer historischen Rechtsvor-
gänger (vor allem der Reichsregierungen seit 1871) verübt wurden und
nach den heute gültigen Rechtsnormen als Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit oder Völkermord einzustufen sind, grundsätzlich keinerlei Ansprü-
che auf Reparation, Wiedergutmachung oder Entschädigung gegenüber der
Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht werden können?

9. Inwieweit sieht die Bundesregierung bei den heutigen Rechtsnachfolgern
der an den Verbrechen direkt oder indirekt beteiligten deutschen Unter-
nehmen, die im damaligen Deutsch-Südwestafrika von Zwangsarbeit und
Enteignungen profitiert haben, nicht nur eine besondere moralische, son-
dern auch eine besondere sozioökonomische bzw. materielle Verantwor-
tung?

10. Inwieweit hält es die Bundesregierung für sinnvoll, außerhalb von Gerichts-
verfahren zwischen den Rechtsnachfolgern der an den Verbrechen direkt
oder indirekt beteiligten deutschen Unternehmen, die im damaligen
Deutsch-Südwestafrika von Zwangsarbeit und Enteignungen profitiert
haben, konstruktive Lösungen bezüglich einer materiellen und moralischen
Wiedergutmachung („restorative justice“) zu finden?

11. Wann und in welcher Form wurden in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland Reparations-, Wiedergutmachungs- oder Entschädigungs-
zahlungen zugunsten von Opfergruppen für besonders schwerwiegende
Verbrechen, die durch eine ihrer historischen Rechtsvorgängerinnen verübt
wurden, geleistet, ohne eine Beteiligung seitens der Bundesrepublik
Deutschland an der Verfügung und Verwendung der ausgezahlten Gelder
geltend zu machen?

12. Zu welchem neuen Termin erwartet die Bundesregierung die ursprünglich
für die 21. Kalenderwoche 2011 angesetzte Delegationsreise aus Namibia
mit dem Ziel der Rückführung von in Sammlungen der Charité lagernden
Schädeln und menschlichen Überresten der Volksgruppen der Herero und
Nama?

13. In welcher Höhe und bis zu welchem Höchstbetrag unterstützt die Bundes-
regierung die Rückführung von in Charité-Sammlungen lagernden Schä-
deln und menschlichen Überresten nach Namibia und die Durchführung
einer würdigen Übergabezeremonie (bitte in Euro angegeben)?

14. Hat die Bundesregierung im Sinne einer würdigen Restitution als auch im
Sinne ihrer „besonderen historischen und moralischen Verantwortung“ der
namibischen Regierung das Angebot gemacht, die Reisekosten der namibi-
schen Delegation mit 54 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Opfer-
verbände zu übernehmen, bzw. wurde die Bitte einer Beteiligung an den
Reisekosten seitens der namibischen Regierung oder der Opferverbände an
die Bundesregierung herangetragen?

Wenn die Bundesregierung ein solches Angebot nicht ausgesprochen hat,
warum nicht?

15. Inwieweit wird die Bundesregierung ihrer Zusage eines würdigen Rahmens
für das historisch gewichtige Übergabeverfahren der Schädel nach Nami-
bia auch dadurch gerecht, dass einer Anwesenheit mit Redebeitrag durch
die Bundeskanzlerin, den Bundespräsident und/oder den Bundesminister
des Auswärtigen auf der Übergabezeremonie eine erhöhte Priorität in der
Terminplanung mindestens eines dieser höchsten deutschen Regierungs-
repräsentanten eingeräumt wird?

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16. Steht schon fest, ob die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident und/oder
der Bundesaußenminister an der Übergabezeremonie mit einem Redebei-
trag teilnehmen werden?

Wenn ja, wer?

Wenn nein, warum nicht?

17. In welcher Weise wird die Bundesregierung den durch das Deutsche Reich
in ihrer damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika begangenen Völker-
mord und die damit verbundenen Gräueltaten und Verbrechen im Rahmen
der Übergabezeremonie für die nach Deutschland verschleppten Schädel
thematisieren?

18. Ist vorgesehen, dass prinzipiell und unabhängig vom genauen Zeitpunkt der
Übergabezeremonie auch die deutsche Zivilgesellschaft und diasporische
Organisationen und/oder Individuen aus der namibischen und/oder afrika-
nischen Diaspora an dieser teilnehmen können und deshalb auch rechtzeitig
und in einem angemessenen Zeitrahmen vor dem konkreten Übergabe-
termin über diesen informiert und eingeladen werden?

a) Wenn ja, sollen diese an der Zeremonie nur als Zuschauerinnen und Zu-
schauer oder auch als Rednerinnen und Redner teilnehmen können?

b) Wenn nein, warum nicht?

19. Inwiefern teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Frage nach
der Art und Weise des Inbesitzgelangens von ursprünglich aus ehemaligen
Kolonien stammenden Kulturgütern, die sich heute in deutschen Museen,
Archiven und Beständen (öffentlich und privat) befinden, eine Frage von
derart hoher außenpolitischer und gesamtdeutscher Bedeutung ist (siehe
auch Antwort zu Frage 17 auf Bundestagsdrucksache 17/6227), dass sich
auch die Bundesregierung unabhängig von der Kulturhoheit der Bundes-
länder diesbezüglich engagieren sollte?

20. Wird die Bundesregierung bei den Bundesländern um Amtshilfe ersuchen,
um feststellen zu lassen, ob sich in deutschen Museums- oder Archiv-
beständen weitere menschliche Überreste und darüber hinaus auch Kultur-
güter aus ehemaligen Kolonien befinden, deren Besitztitel fragwürdig sind,
darunter in Archiven von deutschen Museen lagernde Mumien aus Ägyp-
ten und Südamerika (z. B. die Archivbestände südamerikanischer Mumien
des Berliner ethnologischen Museums) sowie geraubte Kultgegenstände
aus Afrika (z. B. der geraubte und im Münchner Völkerkundemuseum aus-
gestellten „Tangué“ des kamerunischen Königs der Bele Bele)?

Wenn nein, warum nicht?

21. Wird sich die Bundesregierung aktiv bei den Bundesländern und den ent-
sprechenden deutschen Institutionen bzw. Kunst- und Kultureinrichtungen
für eine Rückgabe von Kulturgütern aus ehemaligen Kolonien einsetzen,
deren Besitztitel als fragwürdig eingestuft werden?

Wenn nein, warum nicht?

22. Inwieweit hält die Bundesregierung eine Entwicklungszusammenarbeit in
Namibia, die – nicht ohne Gegenleistungen und Forderungen – vermeint-
lich einzig „auf in die Zukunft gerichtete Prozesse zur Armutsbekämpfung,
die allen benachteiligten Gruppen der Bevölkerung zugute kommen“ ab-
heben soll, für ein geeignetes Instrument, „in Deutschland das historische
Bewusstsein über die deutsche Kolonialvergangenheit zu stärken und die-
sen bisher sehr wenig beleuchteten Teil der deutschen Geschichte aufzuar-
beiten“ (siehe Antwort zu Frage 12 auf Bundestagsdrucksache 17/6227)?

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23. Inwieweit hält die Bundesregierung die Gründung einer eigenständigen
Stiftung und/oder eines Fonds aus Bundesmitteln und Mitteln der Rechts-
nachfolger der Unternehmen, die von der deutschen Kolonialherrschaft in
besonderer Weise profitiert haben (ähnlich der Stiftung „Erinnerung, Ver-
antwortung, Zukunft“), die/der sich ausdrücklich der Aufarbeitung und
kritischen Reflexion der kolonialen Vergangenheit und kolonialen Prägun-
gen der deutschen Gesellschaft widmet, für ein geeignetes Instrument, in
Deutschland das historische Bewusstsein über die deutsche Kolonial-
vergangenheit zu stärken und diesen bisher sehr wenig beleuchteten Teil
der deutschen Geschichte aufzuarbeiten und überdies hierüber die Grund-
lage für echte Versöhnung auch über das Erinnern zu legen?

24. Inwiefern hält es die Bundesregierung für angebracht und notwendig, die
Initiative für die Auflegung eines Forschungsprogramms zu ergreifen (ein-
schließlich seiner Finanzierung), welches neben der Identifizierung und der
würdigen Rückgabe von menschlichen Überresten, die aus einem kolonia-
len Unrechtskontext stammen, auch die zugrunde liegende koloniale und
rassistische Wissenschaftspraxis jener Zeit und damit die kolonialen Ver-
strickungen der deutschen Wissenschaft bis heute umfassend und inter-
disziplinär aufarbeitet?

25. Hat die Universität Freiburg inzwischen beim Auswärtigen Amt einen An-
trag zur Durchführung einer Provenienzforschung ihrer Bestände von
menschlichen Überresten aus der Kolonialzeit gestellt, um die in Aussicht
gestellten Mittel der Abteilung für Kultur und Kommunikation des Aus-
wärtigen Amts in Anspruch zu nehmen?

Wenn nein, sind der Bundesregierung die Gründe hierfür bekannt?

Berlin, den 3. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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