BT-Drucksache 17/6753

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das zweite Quartal 2011

Vom 3. August 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6753
17. Wahlperiode 03. 08. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens Petermann,
Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das zweite Quartal 2011

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Informa-
tionen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

So gab es im Jahr 2010 nicht nur 41 332 Asylverfahren und etwa 10 000 Flücht-
lingsanerkennungen. Es wurden zudem über 11 000 Verfahren eingeleitet, mit
denen der Flüchtlingsstatus bereits anerkannter Flüchtlinge noch einmal über-
prüft wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4627). Dies ist nach deutschem
Recht drei Jahre nach der Anerkennung obligatorisch. In über 2 500 Fällen führte
im Jahr 2010 ein solches Verfahren zum Widerruf vorheriger Anerkennungen,
etwa wegen geänderter Bedingungen im Herkunftsland, betroffen waren über-
wiegend irakische Flüchtlinge. Die Widerrufsquote betrug im Jahr 2010 zwar nur
16,4 Prozent, und diese behördlichen Widerrufe wurden bei einer gerichtlichen
Anfechtung auch nur zu knapp 25 Prozent bestätigt. Widerrufe sind für die
Betroffenen – politisch verfolgte und häufig traumatisierte Flüchtlinge – jedoch
unabhängig vom Verfahrensausgang sehr belastend und beschäftigen Behörden
und Gerichte in arbeitsaufwändigen Verfahren.

Die deutsche Widerrufspraxis ist ungeachtet aller Harmonisierungsbestrebun-
gen in der EU einzigartig restriktiv: Kein anderes EU-Land kennt obligatori-
sche Widerrufsprüfungen nach einer bestimmten Zeitdauer, in keinem anderen
Land gibt es Widerrufe in vergleichbarer Zahl, viele Länder verzeichnen sogar
überhaupt keine oder nur vereinzelte Widerrufe. In Deutschland gab es im Zeit-
raum 2005 bis 2010 über 100 000 Widerrufsverfahren und 38 500 Asylwider-
rufe. Damit gab es beinahe so viele Widerrufe wie Anerkennungen (knapp
41 000). Unter anderem deshalb sinkt die Zahl der in Deutschland lebenden
anerkannten Flüchtlinge seit Jahren: Ende 2010 waren es nur gut 115 000 mit
einem Flüchtlingsstatus, Ende 1997 lebten noch über 200 000 Asylberechtigte
und anerkannte Flüchtlinge in Deutschland.

Im Jahr 2010 wurden über 23 000 Klagen gegen eine ablehnende Asylent-
scheidung erhoben. Nur 36 Prozent dieser Klagen wurden von den Gerichten
abgelehnt, bei afghanischen Asylsuchenden waren es sogar nur 13,9 Prozent.

41,8 Prozent der klagenden afghanischen Staatsangehörigen wurden durch die
Gerichte nachträglich als Flüchtlinge anerkannt (377 Personen), bei weiteren
44,3 Prozent der Entscheidungen gab es „sonstige Verfahrenserledigungen“,
häufig Klagerücknahmen nach Zusage eines Schutzstatus.

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Bei 22,8 Prozent aller Asylgesuche im Jahr 2010 war das BAMF der Auffassung,
dass ein anderes Land der Europäischen Union nach der EU-Dublin-Verordnung
zuständig sei. Das Land, das dabei mit Abstand am häufigsten ersucht wurde,
Asylsuchende aus Deutschland zu übernehmen (knapp 2 500 Ersuchen), war
ausgerechnet das völlig überforderte Griechenland. Besonders brisant: Während
nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat Asylsuchende im Jahr
2009 in Deutschland zu 36,5 Prozent als schutzbedürftig anerkannt wurden, lag
diese Quote in Griechenland bei nur 0,1 Prozent.

37,4 Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2010 waren minder-
jährige Kinder.

Ein behördliches Asylverfahren in Deutschland dauert im Durchschnitt etwa
ein halbes Jahr, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung inklusive Gerichts-
verfahren vergeht im Durchschnitt ein gutes Jahr.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach § 16a des Grund-
gesetzes, nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) der Genfer
Flüchtlingskonvention (GFK) und von Abschiebungshindernissen nach § 60
Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entscheidungspraxis des BAMF im
zweiten Quartal 2011, und wie lauten die jeweiligen Vergleichswerte des vor-
herigen Quartals (bitte in absoluten Zahlen und in Prozent angeben, bitte auch
nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und der Art der Anerkennung
differenzieren: Asylberechtigung (staatliche/nichtstaatliche Verfolgung);
Flüchtlingsschutz (staatliche/nichtstaatliche Verfolgung); subsidiärer Schutz
nach § 60 Absatz 2 und 5 AufenthG (unmenschliche Behandlung), subsidiärer
Schutz nach § 60 Absatz 3 AufenthG (Todesstrafe), subsidiärer Schutz nach
§ 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG (bewaffnete Konflikte), subsidiärer Schutz
nach § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG (sonstige existenzielle Gefahren)?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im zweiten Quartal 2011 eingeleitet,
und wie lautet der Vergleichswert des vorherigen Quartals (bitte Gesamt-
zahlen angeben und nach den verschiedenen Formen der Anerkennung und
den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten
Herkunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten
benennen)?

4. Wie lang war die durchschnittliche Verfahrensdauer im bisherigen Jahr 2011
(soweit bekannt) bis zu einer behördlichen, wie lange war sie bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung (d. h. inklusive eines Gerichtsverfahrens, bitte
auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren und den
jeweiligen Vergleichswert für 2010 angeben)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im
zweiten Quartal 2011 eingeleitet, und wie lautet der Vergleichswert des vor-
herigen Quartals (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen die Rela-
tion zu allen Asylerstanträgen sowie die Quote der auf EURODAC-Treffern
(EURODAC: Datenbank für Fingerabdrücke von Asylbewerbern) basieren-
den Verfahren und die Quote der Verfahren nach „illegalem“ Grenzübertritt
ohne Asylgesuch angeben)?

a) Welches waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten be-
troffenen Herkunftsländer und welches die zehn am stärksten angefragten

EU-Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen
angeben)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6753

b) Wie viele Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständigkeit
eines anderen EU-Mitgliedstaats bzw. der Bundesrepublik Deutschland,
Selbsteintritt nach Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-Verordnung (DublinV),
humanitäre Fälle nach Artikel 15 DublinV) gab es in den benannten Zeit-
räumen, und wieso wird die Zahl der Selbsteintritte trotz der erheblich
gestiegenen rechtlichen und politischen Bedeutung von Selbsteintritten
(nicht nur in Bezug auf Griechenland) nach wie vor nicht statistisch er-
fasst?

c) Wie viele Überstellungen nach der Dublin-II-Verordnung wurden in den
benannten Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Werten und in Proz-
entzahlen angeben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern
und EU-Mitgliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland – diffe-
renzieren)?

d) Wie hoch war der Anteil der in Zuständigkeit der Bundespolizei durch-
geführten Dublin-Verfahren bzw. Überstellungen?

e) Wie hoch war die Zahl der Ersuchen und Überstellungen im Jahr 2010
und im ersten Halbjahr 2011 im Vergleich, und zwar sowohl der von
Deutschland ausgehenden wie auch der an Deutschland gerichteten Über-
stellungen und Ersuchen (bitte nach allen EU-Mitgliedstaaten differen-
zieren)?

6. Wie viele Asylanträge wurden im zweiten Quartal 2011 (bitte auch den Ver-
gleichswert des vorherigen Quartals nennen) nach § 14a Absatz 2 des Asyl-
verfahrensgesetzes von Amts wegen für hier geborene (oder eingereiste)
Kinder von Asylsuchenden gestellt, wie viele Asylanträge wurden in den
genannten Zeiträumen von Kindern bzw. für Kinder unter 16 Jahren bzw. von
Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren bzw. von unbegleiteten minder-
jährigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in absoluten Zahlen und in Pro-
zentzahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asylanträge sowie die Gesamtzahl
der Anträge unter 18-Jähriger und sich überschneidende Teilmengen an-
geben), und wie hoch war die Gesamtschutzquote bei unbegleiteten Minder-
jährigen bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im
Bereich Asyl für das bisherige Jahr 2011 (bitte wie in der Antwort auf Bun-
destagsdrucksache 17/4627 zu Frage 7 darstellen, soweit Daten vorliegen),
und welche Angaben zur Dauer des gerichtlichen Verfahrens lassen sich
machen (diesbezüglich bitte auch die Vergleichswerte für die Jahre 2010 und
2009 nennen)?

8. Wie rechtfertigt das BAMF seine restriktive Entscheidungspraxis in Bezug
auf afghanische Flüchtlinge, die im Jahr 2010 nach einer Klage gegen eine
behördliche Ablehnung zu fast 42 Prozent (und damit fast vier Mal so oft
wie im Durchschnitt) durch gerichtliche Entscheidungen als schutzbedürftig
anerkannt wurden, obwohl sich die Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr
2010 gegenüber den Vorjahren nach übereinstimmenden Berichten noch ein-
mal verschlechtert hat?

a) In wie vielen Fällen der „sonstigen Verfahrenserledigungen“ bei Klagen
afghanischer Asylsuchender wurde im Jahr 2010 ein Schutzstatus erteilt?

b) Für welche Landesteile in Afghanistan geht das BAMF vom Vorliegen von
Abschiebungshindernissen zumindest in Bezug auf bestimmte Gruppen
nach Satz 1 oder 2 (bitte differenzieren) von § 60 Absatz 7 AufenthG aus
(bitte begründen)?

c) Welche Oberverwaltungsgerichte vertreten eine andere Rechtsauffassung

als der in der Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/5882 zu Frage 7a
von der Bundesregierung benannte Bayerische Verwaltungsgerichtshof?

Drucksache 17/6753 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) Wie lautet die detaillierte Statistik zu Asylgerichtsentscheidungen be-
züglich afghanischer Staatsangehöriger für das Jahr 2010 und 2011
(bitte wie in der Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/6623 zu Frage 5
darstellen, bitte auch nach Monaten differenzieren)?

9. Wie rechtfertigt das BAMF die Vielzahl von Widerrufen bei türkischen
Schutzberechtigten mit der Begründung einer angeblich dauerhaft und
grundlegend geänderten Lage in der Türkei, obwohl ausweislich der Statis-
tik nur 18 Prozent der behördlichen Widerrufe bei türkischen Flüchtlingen
gerichtlich bestätigt werden, was für beklagte behördliche Entscheidungen
in der Bundesrepublik Deutschland ein negativer Spitzenwert sein dürfte
(Wiederholung der insoweit unbeantwortet gebliebenen Frage 7b in der Ant-
wort auf Bundestagsdrucksache 17/5882)?

10. Wieso sieht das BAMF keine Veranlassung, seine Widerrufsentscheidungs-
praxis in Bezug auf Flüchtlinge aus dem Togo zu ändern, wenn die Gerichte
bei Klagen gegen solche Widerrufe zu 76,2 Prozent zu dem Ergebnis kom-
men, dass diese zu Unrecht ausgesprochen wurden (bitte begründen; die
Antwort auf die Nachfrage auf Bundestagsdrucksache 17/5882 zur Nach-
frage zu den Antworten auf Bundestagsdrucksachen 17/3744 und 17/4627,
jeweils zu Frage 7c, enthält ersichtlich keine nachvollziehbare inhaltliche
Begründung), und welches Rechtsstaatsverständnis kommt darin zum Aus-
druck, wenn die Bundesregierung ein Festhalten an einer Praxis, die von den
Gerichten überwiegend als rechtswidrig erachtet wird, mit der Begründung
rechtfertigt, sie sehe diese Praxis ungeachtet dieser Gerichtsentscheidungen
„nach wie vor als sachlich richtig“ an?

11. Wie ist zu erklären, dass die Zahl der Asylgesuche in den Monaten Februar
bis Juli 2011 jeweils unterhalb des Werts vom Januar (3 750) lag, obwohl
die Bundesrepublik Deutschland seit Mitte Januar 2011 auf Überstellungen
nach Griechenland verzichtet und ein solcher Überstellungsstopp nach in
der Vergangenheit geäußerter Ansicht einiger politischer Beobachter und
auch des Bundesministeriums des Innern zu einem sprunghaften Anstieg
der Asylbewerberzahlen hätte führen müssen, und ist die Antwort der Bun-
desregierung auf Bundestagsdrucksache 17/5882 zu Frage 8, es lasse sich
keine belastbare Aussage dazu treffen, „inwieweit der Überstellungsstopp
nach Griechenland“ den Trend der Asylantragszahlen beeinflusse, so zu
verstehen, dass sie ihre frühere Einschätzung, ein solcher Überstellungs-
stopp müsse zu einem sprunghaften Anstieg der Asylbewerberzahlen füh-
ren, aufgrund der entgegengesetzten praktischen Erfahrungen im ersten
Halbjahr 2011 revidiert hat (bitte begründen)?

12. Wie waren die Schutzquoten und Zahl der Schutzgesuche bei Asylsuchen-
den aus Tunesien, Ägypten, Marokko, Syrien, Jemen, Katar, Saudi-Arabien
und Libyen im zweiten Quartal 2011 (bitte auch den jeweiligen Vergleichs-
wert des vorherigen Quartals nennen)?

13. Ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/5882
zu Frage 10, die von den Fragestellern „benannten Argumente sind der
Bundesregierung bekannt und nicht geeignet, diese Bewertung“, die
gesetzlichen Regelungen und die Praxis zu Asylwiderrufen hätten „sich be-
währt“, „zu verändern“, so zu verstehen, dass es die Bundesregierung für
richtig und wünschenswert hält, dass

a) die Bundesrepublik Deutschland bei Widerrufsverfahren eine in der EU
völlig isolierte, einmalig restriktive Stellung einnimmt und damit das
Ziel eines harmonisierten EU-Asylsystems insofern ad absurdum führt,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6753

b) durch die Bindung von Arbeitskräften für aufwändige Widerrufsprüfun-
gen sich Asylverfahren verlängern und/oder sogar Arbeitskräfte aus den
eigentlich für die Integration vorgesehenen Bereichen abgezogen wer-
den müssen, wie es derzeit der Fall ist,

c) aufwändige und die Betroffenen belastende Widerrufsverfahren in großer
Zahl betrieben werden, obwohl diese in nur wenigen Fällen im Endeffekt
zu einem Widerruf und in noch weniger Fällen zur einer Ausreise-
verpflichtung führen, unter anderem, weil nur eine Minderheit der
behördlichen Widerrufe von den Gerichten bestätigt wird?

(Bitte, wie bereits in der Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/5882 leider
vergeblich erbeten, differenziert und in Auseinandersetzung mit den kon-
kreten Unterfragen, die ersichtlich nicht auf die grundsätzliche rechtliche
Zulässigkeit der deutschen Widerrufsregelungen abzielten, beantworten).

Berlin, den 3. August 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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