BT-Drucksache 17/6377

Der demografische Wandel in Deutschland - Handlungskonzepte für Sicherheit und Fortschritt im Wandel

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6377
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Große Anfrage
der Abgeordneten Franz Müntefering, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Heinz-Joachim Barchmann, Doris Barnett, Lothar Binding (Heidelberg), Petra
Crone, Petra Ernstberger, Karin Evers-Meyer, Iris Gleicke, Ulrike Gottschalck,
Kerstin Griese, Christel Humme, Ute Kumpf, Caren Marks, Katja Mast, Hilde
Mattheis, Aydan Özog˘uz, Thomas Oppermann, Mechthild Rawert, Sönke Rix,
Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Ulla Schmidt (Aachen), Stefan Schwartze,
Dagmar Ziegler, Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Der demografische Wandel in Deutschland – Handlungskonzepte für Sicherheit
und Fortschritt im Wandel

In Deutschland sind weitgehende Veränderungen an Bevölkerungszahl und Be-
völkerungsstruktur im Gange. Sie gewinnen an Dynamik und werden zuneh-
mend und über Jahrzehnte Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen
haben. Sie sind eine Herausforderung an die Politik, deren Aufgabe es ist, den
Menschen in diesem Land dennoch Sicherheit und einen guten Lebensstandard
zu bewahren.

Die Erkenntnisse zum Trend der demografischen Entwicklung sind nicht neu.
Sie sind auch bei vielen politischen Entscheidungen einbezogen worden und
haben in den Kommunen, in den Ländern und im Bund insgesamt zu einer ver-
stärkten Auseinandersetzung mit dem Thema geführt. Deshalb muss die Debatte
dazu auch nicht bei null anfangen, sondern kann an qualifizierte Vorarbeiten in
Wissenschaft und Praxis anknüpfen und findet dort viele sachkundige und enga-
gierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter.

Die in sich konsistente und vor allem nachhaltige Antwort auf die komplexe
Gesamtproblematik steht aber noch aus. Und sie wird dringlicher, denn die
Zeitfenster fürs Handeln werden schmaler. Auswirkungen demografischer Ent-
wicklung können nicht situativ angemessen beantwortet werden; sie erfordern
vielmehr eine rechtzeitige und langfristig angelegte strategische Antwort. Diese
wird von der Politik nun erwartet.

Deutschland muss sich vor dem demografischen Wandel nicht fürchten. Die
Potentiale des Landes sind groß und Zuversicht in die sinnvolle Gestaltung der
Dinge ist erlaubt. Deutschland kann auch mit deutlich weniger Menschen und
anderen Altersstrukturen ein Land mit Wohlstand auf dauerhaft hohem Niveau

– ökonomisch erfolgreich, ökologisch vernünftig und sozial gerecht und stabil,
nachhaltig, friedlich und demokratisch bestimmt – bleiben.

Wenn das der Gesellschaftsentwurf auch für 2050/2060 ist, auf den Deutsch-
land sich verständigen will, muss aber zügig ein Handlungskonzept politische
Realität werden, das konsequent darauf ausgerichtet und umsetzbar ist.

Drucksache 17/6377 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Der Rolle der Kommunen und der Verknüpfung von Sozialstaat und sozialer Ge-
sellschaft kommen dabei besondere Bedeutung zu. Die praktischen politischen
Ansätze auch von Bund und Ländern, und immer mehr auch von der europä-
ischen Ebene, müssen damit kompatibel sein.

Wir fragen die Bundesregierung:

I. Vorbereitung eines Handlungskonzeptes

1. Arbeitet die Bundesregierung an einem Handlungskonzept, das die wesent-
lichen erkennbaren demografischen Entwicklungen derzeit bis 2030 konkret
und bis 2050/2060 in der Perspektive in Deutschland zur Grundlage hat?

Wenn ja, welche Bundesressorts sind daran beteiligt?

2. Wann genau wird die Bundesregierung ein solches Konzept im Entwurf vor-
legen?

3. Von welchem Gesellschaftsentwurf für die Jahre 2050/2060 geht die Bundes-
regierung dabei aus?

II. Daten und Prognosen

4. Von welchen statistischen Erkenntnissen und Prognosen zum demogra-
fischen Wandel geht die Bundesregierung bei ihrer Arbeit in Bezug auf
Gesamtbevölkerung, Altersstrukturen, Ein- und Zuwanderung, Binnen-
wanderung, Fachkräftebedarf, Betreuungs- und Pflegebedarf, Wohn- und
Stadtentwicklung, Mobilität und Stabilität der Alterssicherung aus?

5. Wie unterscheiden sich diese Erkenntnisse und Prognosen in Bezug auf Bal-
lungsräume und ländliche Räume?

6. Welche Definition legt die Bundesregierung den Altersbegriffen (z. B. „älter“
und „alt“) zugrunde?

7. Von welchen Wanderungsbewegungen – kurz-, mittel- und langfristig –,
und welchen demografischen Entwicklungen geht die Bundesregierung in
Bezug auf die Europäische Union aus?

8. Von welchem weltweiten demografischen Wandel und von welchen Aus-
wirkungen des weltweiten demografischen Wandels auf die Bundesrepublik
Deutschland geht die Bundesregierung aus?

III. Konsequenzen und Handlungsbedarfe

9. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für Deutsch-
land nach Meinung der Bundesregierung aus der sinkenden Kinderzahl bei
niedriger Geburtenhäufigkeit bis 2030 und bis 2050/2060?

10. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der sinken-
den Zahl von Menschen im Erwerbsalter bis 2030 und bis 2050/2060?

11. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Zielset-
zung, die Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher deutlich zu redu-
zieren und zu erreichen, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die
Arbeitslosigkeit entlassen wird?

12. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Steige-
rung der Erwerbstätigenquote der Frauen?

13. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Steige-
rung der Erwerbstätigenquote junger Menschen?
14. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Steige-
rung der Erwerbstätigenquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6377

15. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich speziell für die
Dienstleistungsberufe im unmittelbaren Dienst Mensch am Menschen,
z. B. bei Erziehung/Schulbildung und Betreuung/Pflege, bezüglich deren
Wertschätzung, Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz und Nachwuchs-
förderung?

16. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus dem zurzeit
unzureichenden Zuwanderungs-/Abwanderungssaldo?

17. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der stei-
genden Anzahl der Pflegebedürftigen?

18. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der gegen-
wärtig unzureichenden Zahl barrierefreier und altengerechter Wohnungen?

19. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus dem Be-
mühen, auch mit technischen Assistenzen, die Lebensqualität alten- und
behindertengerecht zu verbessern?

20. Ist die Bundesregierung bereit, mit praktischem Anschauungsmaterial
(z. B. Musterhäuser oder -räume) für alten- und behindertengerechten Um-
bau oder Neubau zu werben?

21. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der Tat-
sache, dass immer mehr Menschen keine Kinder haben, in Bezug auf deren
Alterssicherung?

22. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der demo-
grafischen Entwicklung für die Rolle der Familien generell?

23. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Förde-
rung von Familien und Kindern?

24. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der Tat-
sache, dass Familien kleiner und mobiler werden?

25. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der Tatsache,
dass immer mehr Menschen relativ gesund alt und hochbetagt werden, und
die selbstbestimmt gestaltbare Lebenszeit deutlich zunimmt?

26. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der Auf-
gabe, eine Abschiedskultur für die Zukunft zu sichern bzw. teilweise erst
noch zu entwickeln, damit der letzte Lebensabschnitt der Menschen und
das Sterben in Würde möglich sind?

27. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der Tat-
sache, dass der Trend zum Einpersonenhaushalt dominierend wird?

28. Welche neuen Konzepte gibt es für Städte und Gemeinden in besonders
stark schrumpfenden Regionen, in denen es an sozialer und technischer In-
frastruktur mangelt?

29. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus den erheb-
lichen – aktuellen und den sich andeutenden – Verschiebungen von Bevöl-
kerungszahl und -strukturen zwischen prosperierenden Metropolen und
Regionen einerseits und schrumpfenden Städten und Räumen andererseits?

30. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe sieht die Bundesregierung
hinsichtlich der regional unterschiedlichen Einrichtungen von Pflegestütz-
punkten und anderen Kontakt- und Informationsstellen für Angehörige
Pflegebedürftiger und generell älterer Menschen?

31. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich im Bereich der
Lohn- und Beitragsgestaltung mit dem Ziel der Stabilität der Versiche-

rungssysteme und einer zureichenden Alterssicherung?

Drucksache 17/6377 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

32. Hält die Bundesregierung an der überwiegenden Umlagefinanzierung der
Sozialsysteme fest?

33. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich aus der demo-
grafischen Entwicklung für die Aufgaben der Wohnungs- und Stadtent-
wicklungspolitik für Ausbau, Umbau und Rückbau?

34. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die Infra-
strukturen, insbesondere für den Verkehrsbereich?

35. Welche Konsequenzen und Handlungsbedarfe ergeben sich für die bundes-
weite Sicherung und Optimierung der qualifizierten und hinreichend diffe-
renzierten medizinischen Versorgung?

36. Welche Rolle spielt in den Überlegungen der Bundesregierung für die Zu-
kunft die Idee der „sozialen Stadt“, deren Förderung seitens des Bundes
drastisch gekürzt wurde?

37. Welche Bedeutung schreibt die Bundesregierung dem Konzept „inklusiver
Sozialraum“ im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention im Rahmen
des demografischen Wandels zu?

IV. Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten

38. In welcher Weise wird die Bundesregierung die Handlungsbedarfe, die sich
aus der demografischen Entwicklung ergeben, bei der Erarbeitung ihres
Handlungskonzeptes mit Ländern und Kommunen abstimmen mit dem
Ziel, dass sinnvolle Maßnahmen nicht an Zuständigkeitsfragen scheitern?

39. Wie wird die Bundesregierung die kommunale Ebene an der Entschei-
dungsfindung im Rahmen von Gesetzgebung beteiligen, die die Rolle der
Städte, Dörfer und Kreise im Rahmen der demografischen Entwicklung be-
treffen?

40. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache, dass
den Kommunen – von den Metropolen bis zu den dünnbesiedelten länd-
lichen Räumen – eine zentrale Rolle bei der Lösung der Aufgaben zu-
kommt, die sich aus der demografischen Entwicklung für die Menschen
unmittelbar ergeben?

41. Wie wird die Bundesregierung dazu beitragen, den Kommunen die erfor-
derlichen Kompetenzen und die finanziellen Spielräume für ihre Aufgaben
im demografischen Wandel zu sichern?

42. Wie kann die Rolle der Verbraucherzentrale zentral und vor Ort gestärkt
werden, für die Aufgabe, die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in der
älter werdenden Gesellschaft wirkungsvoll zu vertreten?

43. Welche Bedeutung haben nach Meinung der Bundesregierung bei der Be-
wältigung der Aufgaben im demografischen Wandel die großen und die
kleinen gesellschaftlichen Verbände und Vereine, insbesondere die Träger
der freien Wohlfahrtspflege?

44. Welche Bedeutung haben für die genannten Aufgaben die Stiftungen?

45. Welche Bedeutung haben im demografischen Wandel der Freiwilligen-
dienst, das Freiwillige Soziale Jahr, das Freiwillige Ökologische Jahr und
die Freiwilligendienste aller Generationen?

46. Was unternimmt die Bundesregierung, um das bürgerschaftliche Engage-
ment im Alter zu stützen und zu verstärken?

47. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den alarmierenden Zahlen, die

deutlich zeigen, dass wachsender Leistungsdruck in Schule und Studium
junge Menschen in Deutschland zunehmend von Engagement abhält?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6377

V. Potentiale und inklusive Gesellschaft

48. Was unternimmt die Bundesregierung, um ein umfassendes vorschulisches
Angebot für alle Kinder – nicht nur für 35 Prozent der unter Dreijährigen –
in jeder Gemeinde zu gewährleisten?

49. Was unternimmt die Bundesregierung, um mit einer zugehenden vorschuli-
schen Sozialarbeit alle Familien für die Nutzung dieses Angebotes zum
Nutzen ihrer Kinder zu gewinnen?

50. Unterstützt die Bundesregierung Forderungen, die zeitweise Nutzung des
vorschulischen Angebots obligatorisch zu machen?

51. In welcher Weise wird die Bundesregierung sich darum bemühen, in einem
„Jahrzehnt nachgeholter Schulabschlüsse und Berufsausbildungen“ mög-
lichst vielen diesbezüglich bisher gescheiterten jungen Menschen eine
„zweite Chance“ zu geben?

52. Welche konkreten Planungen gibt es seitens der Bundesregierung, in der
Öffentlichkeit verstärkt für lebenslanges Lernen zu werben?

53. Welchen konzeptionellen, methodisch-didaktischen oder bildungskultu-
rellen Änderungsbedarf sieht die Bundesregierung im Bildungswesen ins-
gesamt aufgrund der demografischen Entwicklung?

54. Welchen institutionellen Änderungsbedarf sieht die Bundesregierung hin-
sichtlich der Bildungseinrichtungen, ihrer Träger und der Anzahl sowie der
Qualifikation ihrer Beschäftigten aufgrund der demografischen Entwick-
lung?

55. Welchen konkreten Bedarf sieht die Bundesregierung für zielgruppenspe-
zifische Angebote in der kulturellen Bildung, der beruflichen Fort- und
Weiterbildung sowie der akademischen Bildung für eine älter werdende
Gesellschaft?

56. Mit welchen Maßnahmen und in welcher Höhe unterstützt oder fördert die
Bundesregierung die Entwicklung, die Bereitstellung sowie die tatsäch-
liche Nutzung entsprechender Bildungsangebote der allgemeinen, kulturel-
len, beruflichen sowie akademischen (Weiter-)Bildung?

57. Welche entsprechenden Maßnahmen der Länder sind der Bundesregierung
bekannt, mit denen die Entwicklung, die Bereitstellung sowie die tatsäch-
liche Nutzung entsprechender Bildungsangebote unterstützt oder gefördert
wird?

58. Welche besonderen Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, um
in der aktuell besonders günstigen Situation am Arbeitsmarkt arbeitslosen
58-Jährigen und Älteren neue Chancen zur Beschäftigung zu eröffnen?

59. Inwiefern beabsichtigt die Bundesregierung, die positiven Potenziale des
Alters gegenüber den negativen Assoziationen mit den Themen Alter,
Krankheit oder Pflege in der öffentlichen Wahrnehmung hervorzuheben?

60. Welche besonderen Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, um
mit der Grundlagenforschung und praxisorientierter Forschung Wege zu
finden, das wachsende Problem Altersdemenz einzudämmen, und in der
Betreuung und Pflege angemessen begleiten zu können?

61. Beabsichtigt die Bundesregierung, generell für alle jungen Bürgerinnen und
Bürger einen „sozialen Dienst“ einzuführen, und das auch für Ältere und
schon Berufstätige zu ermöglichen?

Drucksache 17/6377 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

62. Ist die Bundesregierung bereit, die Idee der „inklusiven Gesellschaft“ zu
unterstützen und sie als Grundlage für eine zeitgemäße soziale Gesellschaft
zu verstehen, in der alle Menschen in unserem Land – unabhängig von
Minderheitseigenschaften – gleichwertig miteinander leben?

63. Welche Maßnahmen sind im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Rahmen des demo-
grafischen Wandels vorgesehen, und wie wird insbesondere auf die stei-
gende Zahl älterer Menschen mit Behinderung eingegangen?

Berlin, den 29. Juni 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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