BT-Drucksache 17/6296

"Kulturelles Erbe 2.0" - Digitalisierung von Kulturgütern beschleunigen

Vom 28. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6296
17. Wahlperiode 28. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Siegmund Ehrmann, Martin Dörmann, Petra Ernstberger,
Iris Gleicke, Lars Klingbeil, Angelika Krüger-Leißner, Ute Kumpf, Christine
Lambrecht, Petra Merkel (Berlin), Thomas Oppermann, Ulla Schmidt (Aachen),
Peer Steinbrück, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Brigitte Zypries, Dr. Frank-Walter
Steinmeier und der Fraktion der SPD

„Kulturelles Erbe 2.0“ – Digitalisierung von Kulturgütern beschleunigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Bedeutung der Digitalisierung für das kulturelle Erbe in Deutschland und
Europa

Kultureinrichtungen wie Bibliotheken, Museen und Archive sichern und be-
wahren das kulturelle Erbe, um es jetzt und für die nächsten Generationen er-
halten und zur Verfügung stellen zu können. Mit der technischen Entwicklung
der Digitalisierung stellen sich neue Anforderungen an den Erhalt, die Archi-
vierung und die Zugänglichmachung von Kulturgütern. Neue Formen der Nut-
zung von Kulturgütern entstehen, der Zugang zu Kulturgütern erweitert und
verbreitert sich.

Eine der größten kulturpolitischen Herausforderungen besteht darin, Kultur-
güter in die digitale Welt zu überführen, um deren gesellschaftspolitische Be-
deutung auch in der digitalen Welt zu erhalten. Die kulturelle Infrastruktur muss
hierfür um eine digitale kulturelle Infrastruktur erweitert werden. Länder, Ge-
meinden und auch der Bund tragen dafür eine gemeinsame Verantwortung, denn
Kultur als öffentliches Gut ist für das Allgemeinwohl wesentlich (Kulturstaat
Deutschland). Das Thesenpapier des Deutschen Bibliotheksverbands e. V.
(dbv), vorgestellt am 17. März 2011 in Berlin, betont daher völlig zu Recht: „Die
digitale Erschließung der kulturellen und wissenschaftlichen Überlieferung ist
ein wichtiges gesamtgesellschaftliches Zukunftsprojekt.“

Nach zwei Jahren Vorlaufzeit wurde im Jahr 2009 das Kompetenznetzwerk
Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) gegründet und gleichzeitig vom Bund das
Infrastrukturprojekt Deutsche Digitale Bibliothek an das Fraunhofer-Institut für
Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS vergeben. Beide Ansätze
sollen nach Auskunft der Bundesregierung (siehe die Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage „Konsequenzen der Digitalisierung für Kulturgüter

und -institutionen und die Vermittlung von Kultur und Wissen“ auf Bundestags-
drucksache 17/5880) die zentrale Infrastruktur zur Vernetzung der Bestände an
Digitalisaten aller ca. 30 000 Kultur- und Wissenseinrichtungen in Deutschland
bilden. Im Dezember 2009 wurden gemeinsame Eckpunkte von Bund, Ländern
und Kommunen zur Errichtung einer Deutschen Digitalen Bibliothek als Beitrag
zur Europäischen Digitalen Bibliothek von der Ministerpräsidentenkonferenz
und dem Bundeskabinett beschlossen. Ein Verwaltungs- und Finanzabkommen

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zwischen den zuständigen Fachministerien von Bund und Ländern wurde eben-
falls von der Ministerpräsidentenkonferenz und Bundeskabinett beschlossen.
Diese Eckpunkte regeln im Wesentlichen den Aufbau und den technischen Be-
trieb der Deutschen Digitalen Bibliothek. Demnach finanziert der Bund den
Aufbau der DDB, die Kosten für den Betrieb teilen sich Bund und Länder. Zu-
sätzliche finanzielle Mittel für die Digitalisierungsarbeit sind in den Eckpunkten
nicht vereinbart worden. Keine Verständigung wurde bislang über ein einheit-
liches Vorgehen von Bund und Ländern bei der Digitalisierung der Kulturgüter
erzielt.

Auf europäischer Ebene wurde im November 2008 Europeana (Europas Online-
bibliothek, Museum und Archiv) als Teil der Initiative der Europäischen Kom-
mission zu digitalen Bibliotheken (i2010-Initiative) mit dem Ziel ins Leben ge-
rufen, das kulturelle und wissenschaftliche Erbe Europas für alle über das Inter-
net zugänglich zu machen. Dabei ist jedes Mitgliedsland für die Einbindung der
Inhalte selbst verantwortlich. Die Europäische Kommission hat zur Weiterent-
wicklung der Europeana einen „Rat der Weisen“ einberufen, um sich beim Aus-
bau des kulturellen Erbes im Netz beraten zu lassen. Im Januar 2011 hat der
„Rat der Weisen“ seine Empfehlungen in dem Papier „Die neue Renaissance“
vorgestellt. Darin werden die Vorteile für einen breiteren Zugang zu Kultur und
Wissen und damit deren Demokratisierung, die Vorteile für das Bildungssystem,
der ökonomische Nutzen insbesondere für Innovation und interaktive Weiter-
verarbeitung sowie für den Tourismus hervorgehoben. Der Investitionsbedarf
für die Digitalsierung des europäischen Kulturerbes wird mit 100 Mrd. Euro be-
ziffert. Diese Empfehlungen sind in den „Europeana Strategieplan 2011–2015“
eingeflossen, der im Februar 2011 vorgestellt wurde.

2. Digitalsierung von Kulturgütern als nationale Aufgabe

Im Gegensatz zur Europäischen Union, wo für die Europeana mit dem Euro-
peana Strategieplan 2011–2015 ein Masterplan vorliegt, existiert für die Deut-
sche Digitale Bibliothek bisher keine nationale Digitalisierungsstrategie, die
über die von Bund, Ländern und Kommunen beschlossenen, grundsätzlichen
Eckpunkte hinausgeht. Dabei ist eine Strategie notwendig, die Prioritäten und
Standards der Digitalisierung beschreibt und auf diese Weise ein einheitliches
Vorgehen von Bund und Ländern bei der Digitalisierung gewährleistet. Der
Mehrgewinn einer Deutschen Digitalen Bibliothek relativiert sich, würden
Kulturgüter wiederholt digitalisiert, weil keine umfassenden und im Format der
Daten und Metadaten einheitlichen Kataloge und Verzeichnisse über bereits
digitalisierte Werke existieren. Zugleich gibt es bisher keinen umfassenden
Überblick darüber, welche Ressourcen in den Ländern und Kommunen bereits
für die Digitalisierung eingesetzt werden, welcher konkrete Handlungsbedarf in
Bezug auf das Urheberrecht und die Vereinheitlichung von Standards, Meta-
daten und Findmitteln für die Digitalisierung sowie die Inventarisierung und
Qualifizierung der Kultur- und Wissenseinrichtungen und ihrer Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter besteht.

Die Digitalisierung und vor allem die Koordinierung der unterschiedlichen
Aktivitäten von Bund und Ländern muss daher eine zentrale Aufgabe der Kul-
turpolitik des Bundes sein. Dem Bund kommt dabei eine koordinierende und
vermittelnde Funktion bei dieser komplexen Herausforderung zu. Die einzelnen
Kultur- und Wissenseinrichtungen – denn die Frage der Digitalisierung darf
nicht allein auf Bibliotheken oder Bibliotheksgut beschränkt bleiben – sind mit
der Größe der Aufgabe der Digitalisierung schlicht überfordert. Damit Deutsch-
land Anschluss halten kann bei den Entwicklungen auf europäischer und inter-
nationaler Ebene, bedarf es einer nationalen Anstrengung und Kooperation. Als
Beispiel sei darauf verwiesen, dass fast 90 Prozent der deutschen Beiträge für

die Europeana von der mit Google kooperierenden Bayerischen Staatsbiblio-
thek bereitgestellt werden. Gleichwohl gibt es in einzelnen Ländern wie bei-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6296

spielsweise Brandenburg bereits Konzepte und Vorschläge für eine strategische
Entwicklung der Digitalisierung von Kulturgut. Damit diese unterschiedlichen
Bemühungen zielgerichtet dazu beitragen, die Erschließung, die Aufbereitung
der Digitalisate und letztlich die Zugänglichmachung zu verbessern, bedarf es
einer nationalen Digitalisierungsstrategie, die von einem modernen Urheber-
recht flankiert werden muss, das allen Interessen der Beteiligten (Rechteinhaber
wie Kultureinrichtungen) Rechnung trägt.

Mit dem Kompetenznetzwerk Deutsche Digitale Bibliothek existiert eine
Arbeits- und Kooperationsstruktur, die das verteilte Wissen zur praktischen
Planung, Durchführung und Nachbearbeitung von Digitalisierungsprojekten
bündelt und konzertiert. In ihm wirken verschiedene Sparten des kulturellen
Erbes zusammen, etablieren Standards und Methoden für Digitalisierungsvor-
haben und insbesondere die nachfolgende Aufbereitung der entstehenden Daten.
Dies sichert den Zugriff auf eine angemessene fachliche Expertise, sichert den
Anschluss an aktuelle Technologien und verhindert die voreilige Beauftragung
von fachlich nicht einschlägig ausgewiesenen Einrichtungen.

3. Finanzmittel für die Digitalisierungsarbeit

Frankreich hat angekündigt, 750 Mio. Euro für die Digitalisierungsarbeit bereit-
zustellen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geht in Deutschland
von einem jährlichen Bedarf von ca. 30 Mio. Euro aus. Bisher zahlen Bund und
Länder für die Deutsche Digitale Bibliothek jährlich insgesamt 2,6 Mio. Euro.
Dieses Geld wird jedoch überwiegend für Administration und Koordination,
nicht aber für Digitalisierungsprojekte verwendet. Gemäß dem Europeana
Strategieplan 2011–2015 sind die Mittel für die Digitalisierungsarbeit erheblich
aufzustocken (als Orientierung kann der Vorschlag des Deutschen Bibliotheks-
verbandes dienen, der einen jährlichen Investitionsbedarf von 10 Mio. Euro für
die Bibliotheken vorsieht). In jedem Fall sollte die Bundesregierung den Finan-
zierungsbedarf für die Digitalisierungsarbeit ermitteln und prüfen, ob auch zu-
sätzliche Mittel für Bildung und Forschung eingesetzt werden können.

Projekte zur umfassenden Digitalisierung von Werken, wie sie beispielsweise
die Bayerische Staatsbibliothek u. a. gemeinsam mit Google durchführt, begrüßt
die Fraktion der SPD im Grundsatz. Die Einbindung privater Unternehmen in
öffentlich-private Partnerschaften birgt erhebliches Potenzial für eine schnelle
und umfassende Digitalisierung und entlastet gleichzeitig die öffentlichen Haus-
halte. Im Interesse der Allgemeinheit muss dabei immer der uneingeschränkte
Zugang zu den Digitalisaten des kulturellen Erbes und der wissenschaftlichen
Inhalte sichergestellt sein, was durch entsprechende vertragliche Vereinbarun-
gen zu gewährleisten ist.

4. Verwaiste und vergriffene Werke

Die Digitalisierung und die damit verbundene öffentliche Zugänglichmachung
von Kulturgütern, insbesondere des schriftlichen Kulturerbes, sind von enormer
Bedeutung und eine wichtige kulturpolitische Aufgabe. Für Bibliotheken, ins-
besondere die Deutsche Digitale Bibliothek als Teil der europäischen digitalen
Bibliothek Europeana, die Vertreter der Rechteinhaber, Archive, Rundfunk-
anstalten als auch in der Wirtschaft besteht große Rechtsunsicherheit beim Um-
gang mit vergriffenen und sogenannten verwaisten Werken. Um verwaiste
Werke, die einen wichtigen Teil unseres kulturellen Erbes darstellen, für nicht-
gewerbliche und kommerzielle Zwecke auch in digitaler Form nutzen zu können,
bedarf es einer entsprechenden gesetzlichen Regelung, wie sie die Fraktion der
SPD bereits vorgelegt hat (Bundestagsdrucksache 17/3991).

Drucksache 17/6296 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine Übersicht über den Stand der Digitalisierung in Deutschland in Abstim-
mung mit den Ländern vorzulegen;

2. die bisher durchgeführten nationalen Koordinierungsleistungen zu charakte-
risieren;

3. darzustellen,

● welche Ressourcen bereits vorhanden sind und für die Digitalisierungs-
arbeit eingesetzt bzw. zukünftig benötigt werden,

● welcher Handlungsbedarf im Hinblick auf Anpassungen des Urheber-
rechts (national wie international, insbesondere auf der Ebene der Euro-
päischen Union), die Vereinheitlichung von Standards, Metadaten und
Findmitteln für die Archivierung und Digitalisierung der Kulturgüter so-
wie hinsichtlich der Inventarisierung und Qualifizierung in den Kultur-
und Wissenseinrichtungen besteht;

4. darauf aufbauend und in Abstimmung mit den Ländern eine nationale Digita-
lisierungsstrategie (in Anlehnung an den Europeana Strategieplan 2011–2015)
vorzulegen, die neben den für die Digitalisierung notwendigen Strukturen
Prioritäten für die Digitalisierungsarbeit benennt, Digitalisierungsstandards
bestimmt, transparente Kriterien für öffentlich-private Partnerschaften ent-
wickelt und die finanzielle Ausstattung der Digitalisierungsarbeit regelt sowie
die Kultureinrichtungen mit ihrer Expertise unmittelbar einbezieht und bei der
Etablierung einer nationalen Digitalisierungsstrategie direkt beteiligt;

5. dabei den Vorschlägen der „Drei Weisen der EU-Kommission“ folgend,

● bis zum Jahr 2016 die gemeinfreien Meisterwerke mit Priorität zu digi-
talisieren und zugänglich zu machen sowie die Digitalsierung in solchen
Bereichen anzuregen, die bislang noch nicht im Mittelpunkt standen, wie
z. B. audiovisuelle Materialen, Zeitungen, Zeitschriften,

● folgende Mindestbedingungen für private Kooperationen einzuhalten:

– der Inhalt der Vereinbarung muss öffentlich gemacht werden,

– digitalisiertes gemeinfreies Material soll für die Allgemeinheit kosten-
frei zugänglich sein,

– der private Anbieter muss der Kultureinrichtung die Digitalisate in
derselben Qualität überlassen, die er selbst verwendet,

– die Dauer von Vorzugsverwertungen ist auf maximal sieben Jahre zu
begrenzen;

6. jährliche Finanzmittel nicht nur für den Aufbau der Infrastruktur der Deut-
schen Digitalen Bibliothek, sondern auch für die langfristige Digitalisie-
rungsarbeit der Kultur- und Wissenseinrichtungen bereitzustellen und dabei
nicht zu Lasten des Erhalts der originalen Kulturgüter, also des eigentlichen
Kulturgüterschutzes, umzuschichten;

7. einen endgültigen Namen für die Deutsche Digitale Bibliothek zu finden,
der deutlich macht, dass nicht nur Bücher, sondern alle Kulturgüter über
dieses Portal zugänglich sind (beispielsweise „Deutsches Digitales Portal“);

8. eine urheberrechtliche Lösung für das Kopieren zur Langzeitarchivierung
sowie die Zugänglichmachung und Nutzung der betreffenden Werke und
Objekte durch und in Gedächtniseinrichtungen vorzulegen;

9. sich auf EU-Ebene für eine dauerhafte europäische Finanzierung der
Europeana nach 2013 einzusetzen;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6296

10. sicherzustellen, dass die „Deutungskompetenz“ der Kultur- und Wissens-
einrichtungen in der digitalen Welt erhalten bleibt und die Zuwendungs-
empfänger auf die Nutzung digitaler Kommunikationsformen zu verweisen;

11. Weiterbildungen für Mitarbeiter von Kultur- und Wissenseinrichtungen des
Bundes für die Nutzung digitaler Kommunikationsformen anzubieten, da-
mit die „Deutungskompetenz“ der Kultur- und Wissenseinrichtungen in der
digitalen Welt erhalten bleibt und den entsprechenden Zuwendungsempfän-
gern hierfür zweckgebunden zusätzliche Mittel zur Förderung der Medien-
kompetenz bereitzustellen;

12. kostenlosen Breitbandinternetzugang über W-LAN in allen Kultur- und
Wissenseinrichtungen des Bundes für Besucher und Mitarbeiter anzu-
bieten;

13. dem Deutschen Bundestag jährlich einen schriftlichen Sachstandsbericht
zum Stand der Digitalisierung und zur Umsetzung der nationalen Digitali-
sierungsstrategie vorzulegen.

Berlin, den 28. Juni 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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