BT-Drucksache 17/6210

Anerkennung jüdischer Überlebender aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Verfolgte des Holocaust

Vom 14. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6210
17. Wahlperiode 14. 06. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Martina Bunge, Petra Pau, Jens Petermann und
der Fraktion DIE LINKE.

Anerkennung jüdischer Überlebender aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion als
Verfolgte des Holocaust

Seit 1991 haben Menschen jüdischen Glaubens sowie ihre Familienangehörigen
aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Möglichkeit, in die Bundesrepu-
blik Deutschland überzusiedeln.

Die Lage älterer Menschen, die den Holocaust überlebt haben, wirft jedoch eine
Reihe sozial- und aufenthaltsrechtlicher sowie politischer Fragen auf. Dies gilt
insbesondere für Zuwanderer aus den Nicht-EU-Staaten Russland und Ukraine,
die Hauptherkunftsländer jüdischer Zuwanderer sind.

Trotz ihres unbezweifelbar schweren Verfolgungsschicksals werden die Holo-
caustüberlebenden in der Regel nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt,
weil die hierfür einschlägigen rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.
So sah das Bundesentschädigungsgesetz eine Fristbegrenzung für Anträge bis
1969 vor, welche die hier in Frage kommenden Personen kaum einhalten konn-
ten.

In Konsequenz daraus erhalten die jüdischen Überlebenden keine Opferrenten,
sondern – bei Bedürftigkeit – Sozialhilfe in Form der Grundsicherung im Alter.

Interessenverbände der Betroffenen berichten, dass damit zahlreiche Beschrän-
kungen einhergehen. Der Vizepräsident der Bundesassoziation Deutschlands
Holocaustüberlebender – jüdischer Immigranten aus den postsowjetischen
Staaten, Alexander Popov, hat in einem Vortrag vom November 2009 einige
„wesentliche ungelöste sozialrechtliche Probleme“ beschrieben und ihre
Abhilfe eingefordert.

So unterlägen auch die Holocaustüberlebenden einer regelmäßig durch die
Sozialbehörden vorzunehmenden Bedürftigkeitsprüfung. Den Betroffenen
bleibe es verwehrt, größere Summen anzusparen, da selbst die humanitären
Kompensationszahlungen der Jewish Claims Conference (JCC) auf das
„Schonvermögen“ angerechnet würden. Im Todesfall rechneten die Sozialämter
das Vermögen aus Zahlungen der JCC ebenfalls als nicht geschütztes Vermögen
bei den Witwen bzw. Witwern an. Die Reisefreiheit sei eingeschränkt, da die
Geldauszahlungen in mehreren Bundesländern bei mehrwöchiger Abwesenheit

– etwa bei Besuchen in der postsowjetischen Heimat – eingestellt würden. Die
Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen in ihre alte Heimat wird den Betrof-
fenen so eminent erschwert.

Probleme wirft auch der aufenthaltsrechtliche Status der Betroffenen auf, denn
die erteilte Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis kann mit wohnsitz-
beschränkenden Auflagen versehen werden. Die Überlebenden können demzu-

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folge ihren Wohnsitz nicht frei wählen – und beispielsweise zu bereits in
Deutschland lebenden Verwandten ziehen – sondern sind auf Ermessensent-
scheidungen der Behörden angewiesen.

Auf Ebene der Bundesländer wird der von der Bundesassoziation eingeforderte
Nachbesserungsbedarf mittlerweile ebenfalls gesehen. Der Bundesrat hat in
seiner Sitzung vom 15. April 2011 auf Initiative des Landes Mecklenburg-Vor-
pommern beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass jüdische Holocaustüberlebende aus den
Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen eigenständigen Rentenanspruch erhal-
ten, der die Leistungen der Grundsicherung im Alter nicht unterschreitet. Außer-
dem sollen sie explizit als NS-Verfolgte anerkannt werden (Bundesratsdruck-
sache 787/10).

Angesicht des hohen Alters der Betroffenen ist aus Sicht der Fraktion DIE
LINKE. hoher Eilbedarf bei der Verbesserung der Situation der Holocaustüber-
lebenden gegeben.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Position hat die Bundesregierung generell zur beschriebenen Proble-
matik?

2. Hat sie sich bereits mit dem Antrag des Bundesrates befasst?

a) Wenn ja, wie will sie sich zu diesem Antrag verhalten, und bis wann wird
sie ggf. einen Gesetzentwurf vorlegen?

b) Wenn nein, bis wann will sie sich damit befassen, und bis wann wird sie
voraussichtlich eine Position eingenommen haben?

3. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung hinsichtlich der von der Bun-
desassoziation beklagten Reisebeschränkungen (Einstellung der Zahlungen
bei mehrwöchiger Auslandsabwesenheit), denen manche Holocaustüber-
lebende unterliegen?

a) In welchen Bundesländern gibt es einschlägige Regelungen?

b) Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Anwendung dieser
Regelungen?

c) Welchen Änderungsbedarf sieht die Bundesregierung hierzu und inwie-
fern plant sie entsprechende Initiativen?

4. In welchem Umfang wird nach Kenntnis der Bundesregierung von der Mög-
lichkeit Gebrauch gemacht, den zugewanderten Holocaustüberlebenden
wohnsitzbeschränkende Auflagen zu erteilen?

5. Warum erhalten Familienangehörige der übersiedlungsberechtigten jüdi-
schen Zuwanderer zunächst nur eine Aufenthalts- und keine Niederlassungs-
erlaubnis?

6. Was konkret steht der pauschalen Anerkennung der Holocaustüberlebenden
als NS-Verfolgte entgegen?

7. Wie viele jüdische Holocaustüberlebende sind seit 1991 nach Erkenntnissen
(ggf. Schätzungen) der Bundesregierung aus den Nachfolgestaaten der Sow-
jetunion in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen (bitte für die Zeit-
räume 1991 bis 2005 und 2006 bis 2010 ausweisen)?

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8. In wie vielen Fällen und in welchem Prozentsatz wurde bei der Erfüllung
der Aufnahmevoraussetzungen für die Gesamtheit der jüdischen Zuwande-
rer (nicht nur der NS-Opfer) sowie ihrer Familienangehörigen aus den nicht
der EU zugehörigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion vom (seit 2006 er-
forderlichen) Nachweis deutscher Sprachkenntnisse und einer absehbar
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung abgesehen (bitte nach Jahren
differenzieren)?

9. Welchen aufenthaltsrechtlichen Status erhielten die zugewanderten Holo-
caustüberlebenden (bitte nach Jahren differenzieren), welchen Status haben
sie aktuell und was ist über die Zahl der Einbürgerungen der Betroffenen
bekannt?

10. Welche Kriterien gelten derzeit für die Bewilligung von Kompensations-
zahlungen durch die JCC?

a) Inwiefern gilt dabei heute noch das Kriterium einer mindestens sechs-
monatigen Inhaftierung in einem Konzentrationslager oder eines 18-mo-
natigen Aufenthaltes im Ghetto bzw. in einem Versteck auf okkupiertem
Territorium?

b) Inwiefern hält die Bundesregierung es für angebracht, auf das vorge-
nannte Kriterium zu verzichten und den Fakt der Inhaftierung bzw. des
Aufenthaltes in einem Ghetto oder einem Versteck an sich als ausrei-
chend für die Gewährung von Kompensationszahlungen anzuerkennen,
aufgrund der Tatsache, dass Jüdinnen und Juden unter deutscher Be-
satzung generell einem alltäglichen Todesrisiko ausgesetzt waren, auch
außerhalb von Ghettos usw. sowie der Tatsache, dass in manchen Gebie-
ten der Sowjetunion die deutsche Besatzungsherrschaft weniger als
sechs Monate dauerte, und welche Initiativen will sie ergreifen, um im
Einvernehmen mit der JCC das genannte Kriterium zu ändern bzw. auf-
zugeben (bitte begründen)?

11. Inwiefern unterliegen jüdische Holocaustüberlebende, die vor 1991 in die
Bundesrepublik Deutschland oder die DDR eingewandert sind (sei es als
politische Flüchtlinge, als Zuwanderer via Israel, als deutschstämmige Aus-
siedler etc.), ähnlichen Problemen wie den oben beschriebenen, und inwie-
fern sieht die Bundesregierung in dieser Frage Handlungsbedarf?

Berlin, den 14. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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