BT-Drucksache 17/6156

Entschädigung früherer sowjetischer Kriegsgefangener

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6156
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Jens Petermann, Ingrid Remmers,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigung früherer sowjetischer Kriegsgefangener

Vor 70 Jahren begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Er war von
der Wehrmacht als Raub- und Vernichtungskrieg geplant worden. Teil dieser
Planungen war das gezielte Verhungernlassen von mehreren Millionen Sowjet-
bürgerinnen und -bürgern.

Sowjetischen Kriegsgefangenen wurde – nicht zuletzt aus rassistischen Grün-
den – eine das Überleben ermöglichende Behandlung, wie sie etwa gegenüber
Kriegsgefangenen aus westlichen Staaten gehandhabt wurde, verweigert. Rund
drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene starben, die meisten im ersten Jahr
des Krieges. Es handelte sich um Mord. Ihre Versorgung wäre möglich gewesen,
wurde aber von der Wehrmacht verweigert, weil diese ihre Transportkapazitäten
alleine für das „Voranstürmen“ ihrer eigenen Truppen nutzen wollte. Die Ge-
fangenen bekamen zu wenig zu essen, mussten den Winter in unbeheizten Ge-
bäuden oder gar unter freiem Himmel verbringen und grundlegende hygienische
Standards wurden ihnen verweigert. Offiziell vorgesehene Rationen wurden fast
nirgends tatsächlich ausgegeben. In manchen Stammlagern wurden noch 1942
Ausgaben von 200 Gramm Brot täglich für „angemessen“ gehalten. Die Mord-
absicht wurde vom Generalquartiermeister der Wehrmacht, Eduard Wagner, be-
kräftigt: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern“ (Christian
Gerlach, Kalkulierte Morde, Hamburg 1998, S. 801).

Auch der Historiker Rolf-Dieter Müller stellt fest: „Dass mit der Hungerpolitik
gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen eine
konkrete Vernichtungsabsicht verbunden gewesen ist, lässt sich zumindest für
die politische Führungsspitze des Dritten Reiches eindeutig feststellen.“ (Rolf-
Dieter Müller: Das „Unternehmen Barbarossa“ als wirtschaftlicher Raubkrieg,
in: Ueberschär/Wette: „Unternehmen Barbarossa“: Der deutsche Überfall auf die
Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente. Paderborn 1984, S. 186).

Dennoch haben die Überlebenden dieser verbrecherischen Politik bis heute
keine Entschädigung erhalten. Aus der Entschädigung für Zwangsarbeiter
waren sie pauschal herausgenommen worden. Ausnahmen gab es allenfalls für
jene Kriegsgefangenen, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren. Dass
die Bedingungen in Durchgangs- und Stammlagern für sowjetische Kriegs-
gefangene häufig genug genau so schlimm waren wie in Vernichtungslagern,
wurde dabei ignoriert.

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundes-
tagsdrucksache 16/2423) führte die Bundesregierung aus, eine Entschädigung
für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene habe es „ebensowenig gegeben wie
eine Entschädigung deutscher Kriegsgefangener durch die Sowjetunion oder
deren Nachfolgestaaten.“ Es sollten „einseitige Regelungen nicht in Frage

Drucksache 17/6156 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

kommen.“ In dieser Aussage kommt eine erschreckende Relativierung der
faschistischen Verbrechen zum Ausdruck. Die Bundesregierung missachtet
nicht nur die Tatsache, dass das Deutsche Reich und nicht die Sowjetunion den
Krieg angefangen hatte. Sie missachtet auch den Umstand, dass sowjetische
Kriegsgefangene Opfer einer gezielten, kalkulierten Vernichtungspolitik der
deutschen Machthaber geworden sind – was bei der Behandlung deutscher Ge-
fangener durch die Sowjetbehörden, ungeachtet einzelner Ungerechtigkeiten,
schlichtweg nicht unterstellt werden kann. Die Bundesregierung missachtet
auch den Umstand, dass Deutsche, die aufgrund ihrer Kriegsgefangenschaft
bleibende gesundheitliche Schäden erlitten haben, Leistungen nach dem Bun-
desversorgungsgesetz beziehen können. Für sowjetische Gefangene, denen Ge-
sundheitsschäden durch deutsche Täter entstanden, gibt es keine vergleichbaren
Regelungen. Die „einseitige Regelung“ ist also schon längst in Kraft.

Das Vorstandsmitglied des deutsch-russischen Vereins KONTAKTE-
KOHTAKTbl e. V., Eberhard Radczuweit, der private Spendensammlungen für
die Überlebenden organisiert, nennt es „eine furchtbare Behauptung, sie hätten
nur ein ‚allgemeines Kriegsschicksal‘ erlitten“. Auch nach Auffassung der
Fraktion DIE LINKE. sollte diese „Missachtung eines Verbrechens gegen die
Menschlichkeit“ (www.kontakte-kontakty.de) endlich beendet werden. Der
70. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion wäre hierfür ein passendes
Datum.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass sowjetische Kriegsgefan-
gene Opfer einer systematisch betriebenen, nicht zuletzt rassistisch moti-
vierten Vernichtungspolitik der deutschen Faschisten geworden sind, und
wenn nein, warum nicht?

2. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die besonders schweren
Haftbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen eine ideologisch und
rassistisch motivierte Verletzung der einschlägigen, schon damals gültigen
völkerrechtlichen Bestimmungen darstellte, und wenn nein, warum nicht?

3. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass die Verhältnisse in den
Durchgangs- und Stammlagern für sowjetische Kriegsgefangene teilweise
ähnlich mörderisch waren wie in Konzentrationslagern, und falls nein,
warum nicht?

4. Sieht die Bundesregierung angesichts der gravierenden Verletzungen der
Menschenrechte, des Kriegsvölkerrechts und der Rechte von Kriegsgefan-
genen, denen sich sowjetische Soldaten in deutscher Gefangenschaft ausge-
setzt sahen, deutsche Schuld?

5. Falls die Bundesregierung die vorangegangene Frage mit Ja beantwortet,
sieht sie darin einen Anlass, ihre bisherige Haltung der Entschädigungsver-
weigerung zu überdenken und entweder eine Entschädigungsregelung zu
finden oder wenigstens nach Möglichkeiten für humanitäre Hilfen für in Not
befindliche Überlebende zu suchen?

Wenn ja, welche Initiativen beabsichtigt sie, und wenn nein, warum nicht?

6. Trifft es zu, dass überlebende sowjetische Kriegsgefangene in der Regel
keine Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten konnten,
weil ihre Behandlung in der Kriegsgefangenschaft nicht als Verfolgung „aus
Gründen der Rasse“ im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) an-
erkannt war?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6156

Inwiefern ergibt sich aus dieser – aus heutiger Sicht falschen – Interpretation
des BEG Korrekturbedarf dahingehend, den überlebenden Kriegsgefange-
nen Entschädigung zu gewähren?

7. Trifft es zu, dass die in den 90er-Jahren getroffenen Globalabkommen mit
Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die für Personen bestimmt waren, „die
während des Zweiten Weltkrieges durch nationalsozialistische Unrechts-
maßnahmen schwere Gesundheitsschäden erlitten hatten und sich in einer
gegenwärtigen wirtschaftlichen Notlage befinden“ (Homepage des Bundes-
ministeriums der Finanzen) in der Regel nicht zur Entschädigung für
Kriegsgefangene gedacht waren, weil deren Behandlung nicht als „national-
sozialistische Unrechtsmaßnahme“ betrachtet wurde, und inwiefern hält die
Bundesregierung diese Sicht aufrecht?

8. Ist der Bundesregierung bekannt, dass sowjetische Kriegsgefangene unter
Verletzung des Völkerrechts gezwungen worden sind, Zwangsarbeit im
Rüstungsbereich zu leisten?

a) Welche Erkenntnisse hat sie zu dieser Fragestellung?

b) Wie begründet die Bundesregierung ihre bisherige Entschädigungsver-
weigerung gegenüber jenen Kriegsgefangenen, die von dieser völker-
rechtswidrigen Maßnahme betroffen waren?

9. Inwiefern hält die Bundesregierung den Tenor ihrer Bemerkung aufrecht,
sowjetische Kriegsgefangene bräuchten nicht entschädigt zu werden, weil
deutsche Kriegsgefangene „ebensowenig“ entschädigt worden seien, und
wie rechtfertigt sie diese geschichtsrelativierende These angesichts der
deutschen Schuld am Kriegsbeginn?

10. Inwiefern fließt in die Bemerkung der Bundesregierung, es solle keine
„einseitigen“ Lösungen geben, die Überlegung ein, dass es nun einmal
einen einseitigen Entschluss Deutschlands gegeben hatte, den Überfall auf
die Sowjetunion vorzunehmen, und man daher kaum von dieser bzw. ihren
Nachfolgestaaten erwarten kann, die Angehörigen der früheren Aggresso-
renarmee zu entschädigen, wohl aber von den Aggressoren, von ihnen ver-
übtes Leid wiedergutzumachen – und zwar an allen, denen Leid angetan
wurde?

11. Welche Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, eine komplette
Auflistung aller Gefangenenlager (inklusive Durchgangslager) zu erstellen,
insbesondere bezüglich der besetzten Teile der damaligen RSFSR (Rus-
sische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik)?

Berlin, den 8. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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