BT-Drucksache 17/6095

60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - Handlungsbedarf auf nationaler und internationaler Ebene

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6095
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens
Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – Handlungsbedarf auf nationaler und
internationaler Ebene

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die am 28. Juli 1951 unterzeichnete Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
stellt das wohl wichtigste internationale Abkommen zum Flüchtlingsschutz
dar. Insbesondere wurde mit dem Protokoll über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge von 1967 die ursprünglich räumlich und zeitlich begrenzte
Geltung der Konvention auf Ereignisse vor dem 1. Januar 1951 und auf
europäische Flüchtlinge aufgehoben. Knapp 150 Staaten der Welt haben das
Abkommen und/oder das Protokoll ratifiziert, die Beachtung der GFK wurde
im Lissabonner Vertrag und in der EU-Grundrechtecharta festgeschrieben.
Neben den Rechten anerkannter Flüchtlinge (Diskriminierungsschutz, Aus-
stellung eines Flüchtlingspasses usw.) sieht die Konvention in Artikel 33
Absatz 1 ein Verbot der Zurückweisung politisch Verfolgter vor. Sie bildet
zudem die Rechtsgrundlage für das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars
der Vereinten Nationen (UNHCR), der die Anwendung der GFK über-
wachen soll. Der Deutsche Bundestag kritisiert, dass dessen Empfehlungen
zum Umgang mit einzelnen Flüchtlingsgruppen und zur Rechtsanwendung
und Gesetzgebung trotz der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem
UNHCR nach Artikel 35 GFK von den deutschen Bundesregierungen häufig
missachtet werden.

2. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die politischen Initiativen auf natio-
naler und europäischer Ebene vor allem in den 90er-Jahren, die zum Ziel
hatten, das Konzept des individuellen Flüchtlingsschutzes mit einklagbaren
Rechtsansprüchen durch Kontingent-Aufnahmeregelungen im politischen
Ermessen zu ersetzen, erfolglos geblieben sind. Auch war es überfällig, dass
die Bundesrepublik Deutschland mit dem Zuwanderungsgesetz von 2004
den konventionswidrigen Ausschluss nichtstaatlicher Verfolgungsgründe bei
der Anwendung der GFK beendete. Doch es gibt immer noch vom UNHCR
beklagte Defizite bei der Umsetzung der GFK in Deutschland, etwa hin-

sichtlich der Bewertung so genannter subjektiver Nachfluchtgründe.

3. Der Bundestag ist besorgt darüber, dass insbesondere die reichen Industrie-
nationen sich systematisch vor Flüchtlingen abzuschotten versuchen und
dadurch den internationalen Flüchtlingsschutz schwächen. Die Rechte der
Konvention können von Schutzbedürftigen häufig faktisch nicht in Anspruch
genommen werden, weil durch die Vorverlagerung der Grenzkontrollen die

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Verantwortung des Flüchtlingsschutzes Dritt- und Transitstaaten übertragen
wird, die dieser Aufgabe tendenziell nicht nachkommen (können oder wol-
len). Durch Kooperations- und Rückübernahmeabkommen werden diese
Länder in die Fluchtabwehr einbezogen und infrastrukturell so ausgerüstet,
dass sie Flüchtlinge möglichst effektiv vom Grenzübertritt oder einer Weiter-
flucht abhalten können. Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX spielt bei
dieser Auslagerung des Flüchtlingsschutzes und der Verhinderung von
Fluchtbewegungen im Vorfeld eine besondere Rolle. Der GFK wird damit
formal Genüge getan, in ihrer Substanz wird sie jedoch ausgehöhlt. Dies gilt
nicht nur in Bezug auf außereuropäische Drittstaaten, sondern selbst inner-
halb der EU, wie Rücküberstellungen in Länder wie Griechenland oder Italien
zeigen, in denen es kein wirksames Asyl- und/oder Aufnahmesystem gibt.

4. Inhaltlich bedarf das Instrumentarium des internationalen Flüchtlingsschut-
zes einer Anpassung an die aktuellen flüchtlings- und migrationspolitischen
Realitäten. Eine Vielzahl der heute Schutzbedürftigen wird vom ursprüng-
lichen Mandat der GFK, die vor dem Hintergrund der politisch verfolgten
Flüchtlinge im Zuge des Zweiten Weltkrieges entstand, nicht unmittelbar er-
fasst. Dies gilt insbesondere für (Bürger-)Kriegs-, Armuts- und Umwelt-
flüchtlinge, die heute einen Großteil der weltweiten Migrationsbewegungen
darstellen und die oft nicht weniger existenziell bedroht und schutzbedürftig
sind wie politisch Verfolgte. Eine fehlende Flüchtlingsanerkennung nach der
GFK ist deshalb eben nicht gleichbedeutend mit einer mangelnden Berechti-
gung zur Flucht oder vorwiegend wirtschaftlichen Motiven, wie es fälsch-
licherweise und in populistischer Absicht häufig dargestellt wird. Das Kon-
zept des „subsidiären Schutzes“ wird der notwendigen inhaltlichen Erweite-
rung des Flüchtlingsschutzes bislang nur in Ansätzen und unzureichend
gerecht. Die Bundesregierung muss sich deshalb für eine Ergänzung der
Genfer Flüchtlingskonvention durch andere, völkerrechtlich bindende Schutz-
instrumente einsetzen.

5. Auch im nationalen Kontext der Bundesrepublik Deutschland sind rechtliche
Änderungen erforderlich, um dem Grundsatz eines wirksamen Flüchtlings-
schutzes im Rahmen sorgfältiger, rechtsstaatlicher Verfahren zu entsprechen.
Insbesondere die in den 80er- und 90er-Jahren vorgenommene systematische
Einschränkung der Verfahrensrechte im Asyl(gerichts)verfahren muss zu-
rückgenommen werden (Rechtsmittelfristen und Rechtswege, Zustellungs-
und Mitwirkungsvorschriften usw.). Die europaweit einmalig restriktive
deutsche Asyl-Widerrufspraxis, mit der seit dem Jahr 2000 über 70 000 be-
reits anerkannten Flüchtlinge nach Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland
und häufig sichtbaren Integrationserfolgen der Schutzstatus wieder entzogen
wurde, muss beendet werden. Schließlich sollte die Bundesrepublik Deutsch-
land nach dem Vorbild anderer Länder ein dauerhaftes und gesetzlich abge-
sichertes Resettlement-Verfahren schaffen, in dessen Rahmen schutzbedürf-
tige Flüchtlinge aus überforderten Drittländern übernommen werden, wenn
diese dort keinen sicheren Schutz und keine menschenwürdigen Überlebens-
bedingungen vorfinden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich auf internationaler und europäischer Ebene für eine Fortentwicklung
des bestehenden Flüchtlingsschutzes einzusetzen, um insbesondere für
Bürgerkriegs-, Kriegs-, Umwelt- und Armutsflüchtlinge einen wirksamen
Schutz und eine angemessene Rechtsstellung zu schaffen;

2. sich auf EU-Ebene für ein anderes Verantwortungsteilungsprinzip einzu-
setzen (Dublin-II-Verordnung), das sich in erster Linie nach den berechtig-

ten Wünschen der Betroffenen und dem Land der Asylantragstellung richtet
und Ungleichgewichte bei der Aufnahme entsprechend der Größe und Wirt-

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schaftskraft der Mitgliedstaaten auf finanzieller Ebene ausgleicht, um eine
grundsätzliche Offenheit und Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge sicher-
zustellen; zugleich muss Schutzsuchenden ein offener und sicherer Zugang
zum Territorium der EU gewährt werden;

3. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die erheblichen Einschränkungen
der (Gerichts-)Verfahrensrechte im Asylverfahren wieder zurückgenommen
und dem üblichen Verwaltungsverfahrensrecht angeglichen werden; das Ver-
fahren muss dem Ziel sorgfältig ermittelter Entscheidungen folgen und zudem
so ausgestaltet werden, dass die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger
Flüchtlinge gewahrt werden; inhaltliche Mängel bei der Umsetzung der GFK
sind entsprechend den Empfehlungen des UNHCR zu beseitigen; die Ver-
pflichtung zur Einleitung eines Asyl-Widerrufverfahrens drei Jahre nach
einer Anerkennung ist zu streichen und ein Verbot des Asylwiderrufs auf-
grund geänderter Bedingungen im Herkunftsland nach mindestens dreijähri-
gem Aufenthalt vorzusehen;

4. in enger Kooperation mit dem UNHCR ein dauerhaftes Resettlement-Ver-
fahren auf gesetzlicher Grundlage zu schaffen, mit dem sich die Bundes-
republik Deutschland zur jährlichen Übernahme eines bedeutenden Kontin-
gents schutzbedürftiger Flüchtlinge verpflichtet.

Berlin, den 8. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention sollte
ein Anlass dafür sein, bestehende Defizite und Mängel des internationalen
Flüchtlingsschutzes zu benennen, zu analysieren und zu beheben. Es besteht
diesbezüglich Handlungsbedarf auf internationaler, europäischer und nationaler
Ebene. Zu konkreteren Forderungen in Bezug auf das EU-Asylsystem wird auf
Bundestagsdrucksache 17/4679 verwiesen.

Bei der Ausgestaltung eines sorgfältigen Verfahrens zur Umsetzung der GFK
kann auf die Empfehlungen und das Handbuch des UNHCR zurückgegriffen
werden. Die Rechtsberaterkonferenz der mit den Wohlfahrtsverbänden und dem
UNHCR zusammenarbeitenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte fordert
seit Jahren insbesondere die Beseitigung von Sonderrechten im Asylverfahren.
Dabei geht es z. B. um die Beendigung des „Flughafenverfahrens“, um die
Angleichung von Klage- und Antragsfristen an die üblichen Fristen im Ver-
waltungsrecht, um uneingeschränkte Berufungsmöglichkeiten im Gerichts-
verfahren. Nicht nachvollziehbar ist beispielsweise, weshalb eine Berufung
gegen ein erstinstanzliches Urteil nicht wie üblich mit „ernstlichen Zweifeln“ an
der Richtigkeit dieses Urteils begründet werden können soll – Betroffenen bleibt
dann als letztes Mittel häufig nur eine Beschwerde beim Bundesverfassungs-
gericht. Die nicht deutschsprachigen, rechtsunkundigen Asylsuchenden erhalten
zum Teil nur eine Woche Zeit, um sich beraten zu lassen und Klage und Antrag
gegen eine Ablehnung im Asylverfahren einzureichen. Der Deutsche Anwalt-
verein e. V. hat sich vor diesem Hintergrund mit Schreiben vom 1. September
2010 an die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag gewandt mit der
Anregung zur Änderung der Vorschriften zu den Rechtsmittelfristen im Asylver-

fahren. Die Neue Richtervereinigung unterstützt in einem Schreiben vom
1. Oktober 2010 diese Forderung und mahnt eine „dringend gebotene Rückbe-

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sinnung auf die Vorgaben der Verfassung zur Gewährung effektiven Rechts-
schutzes“ auch im Asylverfahrensrecht an (vgl. auch: NJW-aktuell, Heft 48/
2010, S. 12). Die Fraktion DIE LINKE. hatte eine solche Revision des Asylver-
fahrensrechts bereits in der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages vorge-
schlagen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/8838).

Die obligatorische Asyl-Widerrufsprüfung drei Jahre nach einer Asylanerken-
nung (§ 73 Absatz 2a des Asylverfahrensgesetzes) – neben der ohnehin beste-
henden Möglichkeit individuell begründeter Widerrufsverfahren – und Wider-
rufe ohne Berücksichtigung der allgemeinen Gefährdungslage im Herkunftsland
stellen Besonderheiten im deutschen Recht dar, die dazu beigetragen haben, dass
es im Zeitraum 2005 bis 2010 über 100 000 Widerrufsverfahren und knapp
40 000 Widerrufe eines zuvor gewährten Schutzstatus gab. In keinem anderen
europäischen Land gibt es Widerrufe in auch nur annähernd vergleichbarer Zahl.
Politisch verfolgte und häufig traumatisierte Flüchtlinge werden hierdurch
extrem verunsichert, und zwar unabhängig vom Ausgang des Verfahrens.
Behörden und Gerichte werden durch arbeitsaufwändige Verfahren zur „Status-
klärung“ erheblich belastet. Unter anderem wegen dieser vielen Widerrufe sinkt
die Zahl der in Deutschland lebenden anerkannten Flüchtlinge seit Jahren: Ende
2010 lebten nur noch gut 115 000 Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge
in Deutschland, Ende 1997 waren es noch über 200 000 (vgl. Bundestagsdruck-
sachen 17/4791 und 16/8321). Dass infolge der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts allgemeine Gefahren im Herkunftsland beim Asylwiderruf
nicht berücksichtigt werden, wird nach Auffassung des UNHCR den Anforde-
rungen der GFK nicht gerecht. Die Bundesregierung hält „Meinungsäußerungen
des UNHCR“ jedoch für „nicht verbindlich“, wie sie in diesem Zusammenhang
auf parlamentarische Nachfrage erklärte (vgl. Bundestagsdrucksache 16/2419,
Antwort der Bundesregierung zu Frage 17 und Vorbemerkung der Fragesteller).
Deshalb ist, ähnlich wie bei der Berücksichtigung nicht staatlicher Verfolgungs-
gründe im Rahmen der GFK, eine gesetzliche Klarstellung erforderlich.

Die Forderung nach einem Resettlement-Verfahren auf gesetzlicher Grundlage
wird seit Jahren insbesondere vom UNHCR, den Kirchen und Flüchtlings-
verbänden erhoben. Politische Ad-hoc-Aufnahmeerklärungen durch die Bun-
desregierung, in zumeist nur zwei oder dreistelliger Zahl (Aufnahme von ca.
100 Flüchtlingen aus Malta, von ca. 50 iranischen Flüchtlingen aus der Türkei),
genügen diesen Anforderungen nach einem verlässlichen und wirksamen Ver-
fahren zur Entlastung überforderter Drittstaaten nicht.

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