BT-Drucksache 17/6094

Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen

Vom 8. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6094
17. Wahlperiode 08. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Ulla Jelpke,
Jan Korte, Petra Pau, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Raju Sharma, Kersten
Steinke, Sabine Stüber, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Bildungsverantwortung gemeinsam wahrnehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Eine sozial gerechte Gesellschaftsentwicklung, ein verantwortungsbewusster
Umgang mit den Entwicklungsproblemen der Menschheit und ein sozial-öko-
logischer Umbau der Produktionsweisen sind abhängig von einem hohen Wis-
sen und Können, von gleichem Zugang zu Bildung und Wissenschaft sowie
von einem verantwortungsbewussten Umgang mit neuen wissenschaftlichen
Einsichten und technologischen Errungenschaften. Gleiche Bildungsteilhabe
für alle Menschen und die Sicherung einer hohen Qualität der unterschied-
lichen Bildungsbereiche sind daher Aufgaben der gesamten Gesellschaft und
der öffentlichen Daseinsvorsorge. Bund, Länder und Kommunen stehen ge-
meinsam in der Verantwortung, ein integrierendes und leistungsfähiges Bil-
dungswesen zu entwickeln und zu finanzieren.

Eine gestärkte Verantwortung des Bundes für die Bildung muss mit einer Ab-
sicherung dezentraler Gestaltungsspielräume einhergehen. Die Inhalte von Bil-
dung und Wissenschaft sind vor dirigistischer Steuerung zu schützen, dezent-
rale Freiräume für die inhaltliche Gestaltung von Bildungsprozessen zu schaf-
fen und Vielfalt zu fördern.

Die alleinige Zuständigkeit der Länder für die Bildungspolitik, insbesondere
nach der Föderalismusreform II und dem hiermit eingeführten Kooperations-
verbot für Bund und Länder, wirft jedoch zunehmend Fragen auf. Die drängen-
den Probleme im Bildungssystem können mit den bestehenden Regelungs-
mechanismen nur unzureichend gelöst werden. Zum einen ist die Finanzierung
der notwendigen zusätzlichen Bildungsausgaben durch die Länder und Kom-
munen allein im Rahmen der bestehenden Finanzbeziehungen nicht zu bewälti-
gen. Zum anderen hat die eigenständige Entwicklung der Bildungssysteme der
Länder in Verbindung mit der steigenden Mobilität der Menschen zu erheb-
lichen Problemen in der gegenseitigen Anerkennung von Bildungswegen und
-abschlüssen geführt, was unter anderem in heftiger Kritik durch Eltern sowie

durch Lehrerinnen und Lehrer zum Ausdruck kommt.

Bund und Länder stehen damit gemeinsam vor den folgenden Herausforderun-
gen:

1. Die ausreichende Finanzierung von Bildungsausgaben und ihre ausgewo-
gene Verteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss endlich her-
gestellt werden. Dies erfordert erheblich mehr Mittel sowie eine Erneuerung

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der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Gemein-
same Initiativen für einen Ausbau des Bildungssystems etwa durch ein
neues Ganztagsschulprogramm oder eine neue gemeinsame Verantwortung
für den Hochschulbau müssen wieder möglich werden. Die in Umgehung
des Kooperationsverbotes entstandene Vielzahl von Programmen und Mo-
dellprojekten des Bundes kann eine kontinuierliche und flächendeckende
Qualitätsentwicklung in der Bildung nicht leisten und darf daher künftig nur
eine Ergänzung einer verlässlichen dauerhaften Finanzierung der Bildungs-
aufgaben bilden.

2. Die Kompatibilität der Bildungssysteme der Bundesländer und ihre Akzep-
tanz untereinander sowie die gegenseitige Anerkennung von erreichten Ab-
schlüssen und die Fortsetzung einmal begonnener Bildungswege müssen ge-
sichert werden. Wenn die Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen
der Bundesländer nicht gewährleistet wird, wird der Bildungsföderalismus
zur Bildungsschranke und verspielt seine Akzeptanz. Einer stärker zu för-
dernden Vielfalt im Klassenzimmer oder Hörsaal müssen daher Vergleich-
barkeit und Durchlässigkeit der Bildungswege gegenüber stehen.

3. Der immer stärker durch wettbewerbliche Elemente geprägte Bildungsföde-
ralismus muss durch einen kooperativen Föderalismus abgelöst werden, in
dem Bund, Länder und Kommunen gemeinsam Aufgaben der Bildungs-
politik definieren und wahrnehmen. Dass sich einzelne Bundesländer aus
der Ausbildung von Fachkräften wie pädagogischem Personal zurückziehen
und stattdessen systematisch Absolventinnen und Absolventen aus anderen
Bundesländern abwerben, macht deutlich, dass eine länderübergreifende
Koordinierung von Bildungsaufgaben unverzichtbar ist.

4. Eine gute allgemeine und berufliche Ausbildung ist Voraussetzung für einen
erfolgreichen Start in eine berufliche Perspektive. Der hohe Anteil von
Schülerinnen und Schülern gerade aus sozial schlechter gestellten Eltern-
häusern oder unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die ohne Ab-
schluss die Schule verlassen, die nach der Schule keinen Ausbildungsplatz
erhalten und in Warteschleifen des Übergangssystems abgeschoben werden
oder die sich vergeblich um einen Studienplatz bewerben, kann nicht hin-
genommen werden. Um das grundgesetzlich verankerte Recht auf eine freie
Berufswahl zu verwirklichen, besteht länderübergreifend grundlegender
Reformbedarf, dem Bund und Länder nur gemeinsam begegnen können.

5. Der neuerdings von unterschiedlichen Akteuren favorisierte Vorschlag, bun-
desweit auf ein zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasien und einer weite-
ren Schulform zu orientieren, kann weder die sozialen Ungerechtigkeiten im
deutschen Schulsystem beseitigen noch kann die formale Einheitlichkeit der
Zweigliedrigkeit Fragen der inhaltlichen Vergleichbarkeit und Anerkennung
obsolet machen. Ein zweigliedriges Schulsystem in allen Bundesländern ist
daher keine geeignete Antwort auf die aktuellen bildungspolitischen Heraus-
forderungen.

6. Die mit der Föderalismusreform II in Artikel 74 Absatz 1 Nummer 33 des
Grundgesetzes (GG) geschaffene Kompetenz des Bundes, im Rahmen der
konkurrierenden Gesetzgebung die Hochschulzulassung sowie die Hoch-
schulabschlüsse zu definieren, ist eine wichtige Grundlage für Vergleichbar-
keit, Durchlässigkeit und Mobilität im Studium. Dass diese bislang nicht ge-
nutzt wurde ist unter anderem auf das in Artikel 72 Absatz 3 Nummer 6 GG
eingeführte Abweichungsrecht der Länder von entsprechenden Regelungen
zurückzuführen.

7. Die Herausforderung, allen Menschen unabhängig von ihrem Einkommen
und sozialen Status lebensbegleitendes Lernen zu ermöglichen, ist von Län-

dern und Kommunen nicht alleine zu realisieren. Bund und Länder müssen

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gemeinsam neue Rahmenbedingungen für die allgemeine und berufliche
Weiterbildung definieren und eine bedarfsgerechte Finanzierung der Weiter-
bildung sicherstellen, um den steigenden Bedürfnissen an eine kontinuierli-
che Qualifizierung gerecht zu werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem Bundestag unverzüglich einen Entwurf zur Änderung des Grundgeset-
zes vorzulegen, der folgende Punkte umfasst:

a) Das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der
Bildungspolitik wird aufgehoben.

b) Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Artikel 72 Absatz 3 Nummer 6
GG wird im Sinne einer verlässlichen und bundesweit einheitlichen
gesetzlichen Regelung von Hochschulzulassung und -abschlüssen ge-
strichen.

c) Um die Attraktivität von Wissenschaft als Berufsfeld zu erhöhen und die
Mobilität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu erleichtern,
erhält der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung Kompe-
tenzen im Bereich der Personalstrukturen an den Hochschulen.

d) Um einen bedarfsgerechten Ausbau der Studienkapazitäten zu ermög-
lichen, wird der Hochschulbau wieder als Gemeinschaftsaufgabe von
Bund und Ländern im Grundgesetz verankert;

2. ihre Verantwortung für die Schaffung eines integrierenden und leistungs-
fähigen Bildungssystems wahrzunehmen, indem sie mindestens in den fol-
genden Punkten Initiativen ergreift:

a) Die Finanzausstattung der Länder und der Kommunen ist deutlich zu ver-
bessern, damit diese ihren Aufgaben im Bildungsbereich umfassend und
auf hohem Niveau nachkommen können.

b) Die gemeinsame Finanzierung wichtiger Bildungsaufgaben ist durch eine
deutliche Aufstockung der Bildungsausgaben des Bundes zu ermöglichen
und abzusichern.

c) Ein Bundesgesetz über die Hochschulzulassung ist auf den Weg zu brin-
gen mit dem Ziel, das Recht auf ein Studium beim Zugang zum Bachelor
wie zum Master gesetzlich zu verankern und zu stärken, ein bedarfs-
deckendes Angebot an Studienplätzen als Aufgabe der öffentlichen
Hochschulen festzuschreiben sowie den Hochschulzugang für beruflich
Qualifizierte zu öffnen.

d) Ein Bundesgesetz über die Hochschulabschlüsse ist auf den Weg zu brin-
gen mit dem Ziel, eine länderübergreifende Vergleichbarkeit und Aner-
kennung von Studienleistungen sicherzustellen und damit die Grundlage
zu schaffen für ein durchlässiges Hochschulsystem und die Mobilität von
Studierenden sowie von Absolventinnen und Absolventen.

e) Ein Bundesgesetz über die Weiterbildung ist auf den Weg zu bringen, in
dem mindestens Rechtsansprüche auf allgemeine und berufliche Weiter-
bildung verankert und verbindliche jährliche Weiterbildungszeiten inner-
halb der Arbeitszeit sowie Rückkehrrechte nach längeren Weiterbil-
dungsphasen definiert werden;

3. in enger Abstimmung mit den Ländern

a) durch die gemeinsame Definition von Ausbauzielen des Bildungssystems
und eine Neugestaltung der Finanzierungsinstrumente dafür Sorge zu tra-

gen, dass nicht länger Anreize für die Bundesländer bestehen, systema-

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tisch Fachpersonal aus anderen Bundesländern abzuwerben und selbst in
der Bildung zu sparen,

b) im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Bildung und auf der Grundlage
der Erfahrungen aus der Bildungsberichterstattung als kooperatives Gre-
mium einen Bildungsrat zu berufen, in dem neben Vertreterinnen und
Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler sowie wichtige gesellschaftliche Akteure wie etwa die
Sozialpartner vertreten sind und der regelmäßig Empfehlungen für die in-
haltliche und strukturelle Ausgestaltung des Bildungssystems gibt,

c) die Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit der Bildungswege junger Men-
schen unabhängig von der jeweiligen Schulform und dem jeweiligen
Bundesland zu sichern. Dazu sind administrative Hürden beim Wechsel
in ein anderes Bundesland sowie beim Zuzug aus dem Ausland abzu-
bauen, die gemeinsam definierten Bildungsstandards in den Ländern zu
implementieren, die Vereinbarung über die Schularten der Sekundarstufe
grundsätzlich zu überarbeiten und die Schulen in die Lage zu versetzen,
unterschiedliche Erfahrungen und Kenntnisstände von Schülerinnen und
Schülern besser auszugleichen und zu integrieren,

d) eine flächendeckende Umsetzung der durch den Bund ratifizierten UN-
Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in der
Bildung voranzutreiben,

e) mit den Hochschulen verbindliche Vereinbarungen für eine deutliche
Aufstockung der Studienplätze mit Lehramtsoption zu schließen und die
Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern zwischen den Ländern zu har-
monisieren mit dem Ziel, dass gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer
in unterschiedlichen Schulformen und in allen Bundesländern tätig wer-
den können,

f) die Arbeitsbedingungen und die Vergütung bzw. Besoldung pädago-
gischen Personals länderübergreifend sowie über die verschiedenen Bil-
dungsbereiche hinweg zu harmonisieren, um den Grundsatz „gleicher
Lohn für gleichwertige Arbeit“ zur Geltung zu bringen,

g) in Abstimmung mit der Berufsberatung der Arbeitsagenturen und den
Kommunen flächendeckend ein öffentlich finanziertes System der Bil-
dungsberatung auf- bzw. auszubauen und

h) gemeinsam mit den Arbeitsagenturen und Kommunen flächendeckend
ein umfassendes und vielfältiges Weiterbildungsangebot in öffentlicher
Verantwortung sicherzustellen.

Berlin, den 8. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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