BT-Drucksache 17/5996

Gefährdung der Brücken zur Teilhabe im Quartier durch Kürzungen im Programm Soziale Stadt

Vom 26. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5996
17. Wahlperiode 26. 05. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Stephan Kühn, Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gefährdung der Brücken zur Teilhabe im Quartier durch Kürzungen im Programm
Soziale Stadt

Seit dem Haushaltsjahr 2011 sind nichtinvestive Maßnahmen im Rahmen der
Modellprojekte des Programms Soziale Stadt nicht mehr förderfähig. Darüber
hinaus sind die Programmmittel von über 100 Mio. Euro auf nunmehr 28,5 Mio.
Euro gekürzt worden. Ferner ist das Programm weitgehend auf bauliche Maß-
nahmen konzentriert worden. Dadurch stehen viele Projekte in benachteiligten
Stadtvierteln vor dem Aus und Brücken zur Teilhabe sind gefährdet.

In den Programmjahren 2006 bis 2010 galt per Haushaltsvermerk im Einzel-
plan 12 des Bundeshaushalts, dass Bundesmittel zugunsten des Programms
Soziale Stadt in Höhe von bis zu 45 Mio. Euro für Modellvorhaben in den
Gebieten der Sozialen Stadt auch für nichtinvestive Maßnahmen wie Erwerb der
deutschen Sprache, Verbesserung von Bildungsabschlüssen, Betreuung von
Jugendlichen sowie im Bereich der lokalen Ökonomie eingesetzt werden können.

Die Einführung der Modellvorhaben mit erweitertem Förderspektrum war eine
Konsequenz aus den Ergebnissen der Zwischenevaluierung des Programms
Soziale Stadt im Jahr 2004 und steht im Einklang mit dem angenommenen
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD „Stadtentwicklungspolitik ist
moderne Struktur- und Wirtschaftspolitik“ vom 20. Juni 2006 (Bundestags-
drucksachen 16/1890, 16/2004).

Laut dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS)
findet ab 2011 ein Ausgleich der Mittelkürzung und der Änderung des Förder-
schwerpunktes im Programm Soziale Stadt durch das ESF-Bundesprogramm
(ESF: Europäischer Sozialfonds) „Soziale Stadt – Bildung, Wirtschaft, Arbeit im
Quartier (BIWAQ)“ statt. BIWAQ wird durch das BMVBS bereits seit dem Jahr
2009 unterstützt. Ziel ist die Verzahnung von städtebaulichen Investitionsmaß-
nahmen für Soziale Stadt Programmgebiete mit arbeitsmarktpolitischen Instru-
menten zur Stabilisierung und ganzheitlichen Aufwertung von benachteiligten
Quartieren. Passgenaue arbeitsmarktpolitische Projekte sollen die Qualifikation
und berufliche Situation der Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort sowie die

lokale Ökonomie verbessern in Projekten zur Integration von Langzeitarbeits-
losen in Arbeit, von Jugendlichen in Ausbildung und Arbeit (inklusive der Ver-
besserung des Übergangs von der Schule in den Beruf) sowie zur Stärkung der
lokalen Ökonomie. Neu aufgenommen wurden Projekte zur Quartiersarbeit in
Form von gemeinnütziger Arbeit von Langzeitarbeitslosen im Quartier, unter
anderem solche, die Modellprojekte der „Bürgerarbeit“ des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales unterstützen oder ergänzen.

Drucksache 17/5996 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Für die Umsetzung des ESF-Bundesprogramms BIWAQ stehen in den Jahren
2008 bis 2015 insgesamt 184 Mio. Euro Finanzmittel – davon 124 Mio. Euro
aus dem Europäischen Sozialfonds – zur Verfügung. Die Umsetzung erfolgt in
zwei Förderrunden. Die zweite Förderrunde hat eine Laufzeit von 2011 bis Ok-
tober 2014. Insgesamt steuert das BMVBS über acht Jahre also 60 Mio. Euro
bei, das sind jährlich knapp 8 Mio. Euro. Diese kompensieren bei weitem nicht
den Wegfall der Finanzmittel für die nichtinvestiven Maßnahmen, die jährlich
bis zu 45 Mio. Euro ausmachten und in den Jahren 2008 bis 2010 zusätzlich zu
BIWAQ zur Verfügung standen.

Die für Stadtentwicklung zuständigen Minister der Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union haben sich mit der Leipzig-Charta unter deutscher EU-Ratspräsi-
dentschaft 2007 auf die integrierte Stadtentwicklung verständigt. In einem sol-
chen Prozess sollen zentrale städtische Politikfelder, namentlich Bildung und
Ausbildung, lokale Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie städtebauliche Aufwer-
tungsstrategien, räumlich, sachlich und zeitlich koordiniert werden. Besondere
Aufmerksamkeit soll benachteiligten Stadtquartieren gewidmet werden.

Vor dem Hintergrund der anstehenden Haushaltsberatungen zum Bundeshaus-
halt 2012 drängt sich die Frage auf, wie es mit dem Programm Soziale Stadt
weitergeht.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Plant die Bundesregierung die Fortführung des Programms Soziale Stadt im
Haushaltsjahr 2012?

2. Welche Planungen und Aktivitäten unternimmt die Bundesregierung für das
Jahr 2012 und/oder die Folgejahre bezüglich der Weiterentwicklung und der
Finanzausstattung des Programms Soziale Stadt?

3. In welche Richtung soll das Programm gegebenenfalls weiterentwickelt
werden und zu welchem Jahr?

4. Unternimmt die Bundesregierung derzeit oder zeitnah eine Evaluierung des
Programms Soziale Stadt, bzw. prüft sie die Erfolge und Ergebnisse des Pro-
gramms?

Wenn ja, wie sieht diese Prüfung aus bzw. wird sie aussehen, und wenn nein,
warum nicht?

5. Wird die Bundesregierung eine Befragung in den Soziale Stadt-Gebieten,
etwa bei den Quartiersmanagern, durchführen, um die neue Förderungs-
politik, d. h. ohne nichtinvestive Maßnahmen und mit geringerem Mittel-
ansatz, auf ihre Resultate und Zielführung zu überprüfen?

Wenn ja, wie sieht diese Prüfung aus bzw. wird sie aussehen, und wenn nein,
warum nicht?

6. Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus ihren bisherigen Aktivitäten
zur Weiterentwicklung oder Fortschreibung des Programms Soziale Stadt?

7. Führt oder führte die Bundesregierung im Nachgang der Mittelkürzung und
Änderung der inhaltlichen Ausrichtung im Programm Soziale Stadt Gesprä-
che mit den Ländern über die Fortführung der einzelnen Programmgebiete,
und welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zu diesem Sachverhalt
vor?

8. Führt oder führte die Bundesregierung im Nachgang der Mittelkürzung und
Änderung der inhaltlichen Ausrichtung im Programm Soziale Stadt Gesprä-
che mit den Kommunen über die Fortführung der einzelnen Programmge-
biete, und welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zu diesem Sach-

verhalt vor?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5996

9. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung darüber vor, wie Länder
bzw. Kommunen die Mittelkürzung und veränderte Ausrichtung des Pro-
gramms Soziale Stadt bewerten?

10. Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung daraus?

11. Wie bewertet die Bundesregierung die Aktivitäten und gesellschaftliche
Unterstützung des Bündnisses für eine Soziale Stadt des vhw Bundesver-
bandes für Wohnen und Stadtentwicklung e. V., des Deutschen Städtetages,
des GdW Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunter-
nehmen, des AWO Arbeiterwohlfahrt Bundesverbandes, der Schader-Stif-
tung und des Deutschen Mieterbundes, und wie gedenkt sie zu reagieren?

12. Plant die Bundesregierung ein neues Städtebauförderungsprogramm, das
die Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe zum Gegenstand hat, und
bezieht sich dieses Programm auf benachteiligte Stadtquartiere?

13. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, wie viele Pro-
grammgebiete des Programms Soziale Stadt durch die Mittelkürzung im
Haushaltsjahr 2011 nicht weiter fortbestehen werden?

14. In welchem Umfang erwartet die Bundesregierung die Beendigung von Pro-
grammgebieten des Programms Soziale Stadt für den Fall, dass die bereits
vom Deutschen Bundestag beschlossenen und ferner die darüber hinaus von
der Bundesregierung ab 2012 geplanten Kürzungen des Programms Soziale
Stadt nicht rückgängig gemacht oder anderweitig kompensiert werden?

15. Welche Maßnahmen ergreift und/oder erwägt die Bundesregierung, um die
Mittelkürzung von über 100 Mio. Euro auf 28 Mio. Euro im Haushaltsjahr
2011 im Programm Sozialen Stadt zu kompensieren?

16. Wie kompensiert die Bundesregierung jenseits der Finanzmittel für BIWAQ
den Wegfall der Förderung nichtinvestiver Maßnahmen im Erwerb der deut-
schen Sprache, bei der Verbesserung von Bildungsabschlüssen, bei der
Betreuung von Jugendlichen sowie im Bereich der lokalen Ökonomie?

17. Werden in der aktuell laufenden zweiten Förderrunde des Programms
BIWAQ Projekte gefördert, die bisher aus dem Programm Soziale Stadt ge-
fördert wurden oder die ab diesem Jahr aus dem Programm Soziale Stadt
gefördert werden sollten?

Wenn ja, welche?

18. Gibt es Planungen der Bundesregierung, das Förderprogramm BIWAQ in
der aktuell laufenden zweiten Förderrunde mit höheren Finanzmitteln aus-
zustatten?

Wenn ja, in welcher Höhe?

19. Gibt es Planungen der Bundesregierung, das Förderprogramm BIWAQ über
die zweite Förderrunde hinaus fortzusetzen und/oder mit höheren Finanz-
mitteln auszustatten?

Wenn ja, wie sehen diese aus, und wenn nein, warum nicht?

20. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass nicht nur in der inte-
grierten Stadtentwicklung, sondern auch im Bereich der Arbeitsförderung
erhebliche Mittelkürzungen vorgenommen wurden und in den kommenden
Jahren weitere Kürzungen geplant sind?

21. Welche Auswirkungen erwartet die Bundesregierung durch die geplante Re-
form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und die in diesem Zusammen-
hang beabsichtigte Beschränkung der öffentlich geförderten Beschäftigung

für benachteiligte Stadtviertel?

Drucksache 17/5996 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
22. Gibt es Überlegungen, diesen Entwicklungen entgegenzusteuern, und in
welche Richtung gehen diese Überlegungen?

23. Wie hat sich die Beantragung von Bürgerarbeitsplätzen seit der Einführung
der Bürgerarbeit entwickelt?

24. Wie wirkt sich nach Ansicht der Bundesregierung die bislang schleppende
Beantragung von Bürgerarbeitsplätzen auf die beabsichtige Verzahnung
von städtebaulichen Investitionsmaßnahmen für Soziale Stadt-Programm-
gebiete mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und hier insbesondere
mit Programmen zur öffentlich geförderten Beschäftigung aus?

25. Welche in der Pressemitteilung des BMVBS vom 12. November 2010 an-
gekündigten konzeptionellen Ansätze wurden oder werden im BMVBS er-
arbeitet, die die Förderung in Soziale Stadt-Quartieren unter Einbeziehung
arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen stärker bündeln und effektiver machen,
und wann ist mit der Veröffentlichung der Ergebnisse zu rechnen?

26. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, inwieweit die Förde-
rung im Programm Soziale Stadt bezüglich ihrer arbeitsmarktpolitischen
Wirkung, ihrer städtebaulichen Wirkung sowie der Wirkung auf die ganz-
heitliche Aufwertungsstrategie in den Maßnahmegruppen bewohnergetra-
gene Projekte, Strukturen zur Stärkung der lokalen Ökonomie, bedarfsge-
rechte Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten, Integration von Migrantinnen
und Migranten, Maßnahmen für eine sichere Stadt, Umweltentlastung, Ge-
sundheit, Mobilität und Stadtteilkultur mit dem Wegfall der nichtinvestiven
Maßnahmen und der Kürzung um rund drei Viertel im Haushaltsjahr 2011
effektiver und effizienter geworden ist (bitte nach Wirkungen in Teilberei-
chen und Maßnahmegruppen sowie nach investiven und nichtinvestiven
Maßnahmegruppen aufschlüsseln)?

27. Wie bewertet die Bundesregierung diese Erkenntnisse, und welche
Schlüsse zieht sie daraus?

28. Inwieweit berücksichtigt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung bei der Weiterentwicklung des Programms Soziale Stadt
die Leitlinien der Leizpig-Charta?

29. Inwieweit wird die Bundesregierung – neben der Befassung im Rahmen
des Dachprogramms „Soziales Wohnen“ sowie des Programms „Wohnen
für (Mehr-) Generationen – Gemeinschaft stärken, Quartier beleben“ –
ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung gemäß der UN-Behindertenrechts-
konvention nach Schaffung eines inklusiven Sozialraums im Rahmen des
Programms „Soziale Stadt“ nachkommen?

30. Inwieweit gibt es eine konkrete Zusammenarbeit zwischen den für die ge-
nannten Bundesprogramme zuständigen Bundesministerien, dem Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem BMVBS,
sowie der Unterarbeitsgruppe IV der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
Zukunft der Eingliederungshilfe aus Vertreterinnen und Vertretern der Ar-
beits- und Sozialministerien der Länder, unter Mitberatung des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales, in Bezug auf die Schaffung eines in-
klusiven Sozialraums?

Berlin, den 26. Mai 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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