BT-Drucksache 17/5977

Visumerteilung im Jahr 2010

Vom 26. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5977
17. Wahlperiode 26. 05. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Jens Petermann, Frank Tempel
und der Fraktion DIE LINKE.

Visumerteilung im Jahr 2010

In der Vergangenheit hatte sich die Bundesregierung geweigert, die Ableh-
nungsquoten im Visumverfahren bezogen auf einzelne Länder zu veröffent-
lichen, weil dies „nachteilige Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen zu
einzelnen Staaten haben und zudem Versuche des Visummissbrauchs begünsti-
gen“ könne (Bundestagsdrucksache 16/5546, Antwort der Bundesregierung zu
Frage 1). Womöglich sollten aber auch Rückschlüsse auf eine selektive Vi-
sumpraxis und Benachteiligungen von Staatsangehörigen bestimmter Länder
und eine entsprechende Kritik hieran vermieden werden. In der Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. machte die Bundesregierung im letz-
ten Jahr erstmalig differenzierte Angaben (Bundestagsdrucksache 17/2550), die
belegen, dass vor allem in ärmeren afrikanischen Ländern, aber auch in Ländern,
aus denen viele Asylsuchende kommen, Visumanträge besonders häufig abge-
lehnt werden.

Eine überdurchschnittliche Ablehnungsquote ist auch in Bezug auf die Türkei
festzustellen. Dies ist besonders bemerkenswert, weil in der juristischen Fach-
literatur mehrheitlich davon ausgegangen wird, dass türkische Staatsangehörige
aufgrund des EU-Assoziationsabkommens mit der Türkei jedenfalls zu touristi-
schen Zwecken eigentlich visumfrei einreisen können. Die weltweite Ableh-
nungsquote im Jahr 2009 betrug etwa 10 Prozent, in der Türkei war sie doppelt
so hoch. Doch während die Auslandsvertretungen in Istanbul und Izmir fast
durchschnittliche Werte aufwiesen, war die Ablehnungsquote in Ankara mit
28 Prozent umso höher. Dies kann vermutlich damit erklärt werden, dass hier,
geografisch bedingt, überdurchschnittlich viele ärmere Menschen ein Visum be-
antragen und dies in der Regel dann abgelehnt wird, weil ihnen eine „mangelnde
Rückkehrbereitschaft“ unterstellt wird. Hierfür genügt in der Praxis, dass die
Betroffenen nicht verheiratet sind und keine Kinder und/oder dass sie keine
bedeutenden regelmäßigen Einkünfte haben („mangelnde familiäre bzw. wirt-
schaftliche Verwurzelung“). An der fehlenden Nachvollziehbarkeit eines sol-
chen Vorwurfs für die Betroffenen hat sich auch durch die neu eingeführte
Begründungspflicht einer Ablehnung bei Kurzzeitvisa nichts Wesentliches
geändert, denn die „Begründung“ besteht zumeist aus dem bloßen Ankreuzen
des vorgegebenen Standardsatzes: „Ihre Absicht, vor Ablauf des Visums aus

dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auszureisen, konnte nicht festgestellt
werden“.

In einigen afrikanischen Ländern sind die Ablehnungsquoten besonders hoch,
beispielhaft (2009): Guinea 54 Prozent, Kongo 44 Prozent, Senegal 41 Prozent,
Ghana 37 Prozent, Kamerun 36 Prozent, Nigeria 34 Prozent. Ablehnungen wer-
den in diesen Ländern zudem häufig mit einem ungenügenden Urkundensystem

Drucksache 17/5977 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

bzw. Zweifeln an vorgelegten Dokumenten begründet. Die Ablehnungsquoten
sind auch in solchen Ländern hoch, aus denen viele Asylsuchende kommen, Af-
ghanistan (Kabul) 40 Prozent, Pakistan (Islamabad) 37 Prozent, Kosovo (Pris-
tina) 33 Prozent, und natürlich die Türkei.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Erfahrungen gibt es mit der Umsetzung der Verordnung
EG Nr. 810/2009 vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft
seit Inkrafttreten am 5. April 2010?

2. Welchen Aufwand und welche Schwierigkeiten bereitet den deutschen Aus-
landsvertretungen die Begründung einer ablehnenden Visumentscheidung,
und wie wird dies von der Bundesregierung bewertet?

a) Welchen ungefähren Anteil haben die unterschiedlichen Begründungsvor-
gaben nach dem vorgesehenen Standardformular jeweils (unglaubhafte
Angaben zum Aufenthaltszweck, fehlende Reiseversicherung, mangelnde
Rückkehrbereitschaft, Ausschreibung im Schengener Informationssys-
tem – SIS, Verwendung gefälschter Dokumente usw.), und welche internen
Erkenntnisse oder Einschätzungen gibt es hierzu, und wie wird dies von
der Bundesregierung bewertet?

b) Wie hat sich die Zahl der Remonstrationen und/oder Klagen wegen ableh-
nender Visumbescheide für Kurz- bzw. Langzeitaufenthalte in den Jahren
2008, 2009 und 2010 entwickelt (bitte differenzieren), und wie wird dies
von der Bundesregierung bewertet?

c) In welchem Umfang führten in den Jahren 2008, 2009 und 2010 (bitte dif-
ferenzieren) Remonstrationen zu einer Abänderung der ursprünglichen
Entscheidung und zur Visumerteilung?

d) In welchem Umfang wurden in den Jahren 2008, 2009 und 2010 (bitte dif-
ferenzieren) nach einer Klageerhebung Visa erteilt (berücksichtigt werden
sollen auch Fälle, in denen Visa infolge eines gerichtlichen Vergleichs
oder auch nach Klagerücknahme nach Zusicherung der Behörde zur
Visumerteilung erteilt wurden)

(bitte bei der Beantwortung aller obigen Unterfragen zunächst eine all-
gemeine Antwort geben, dann aber auch auf Besonderheiten in Bezug auf be-
stimmte Länder, Regionen oder Kontinente eingehen)?

3. Inwieweit hat die Bundesregierung evaluiert oder intern überprüft, ob Visum-
ablehnungen mit der Begründung einer unzureichend nachgewiesenen
„Rückkehrbereitschaft“ tatsächlich den Vorgaben der Rechtsprechung (vgl.
z. B. Berliner Verwaltungsgericht, Urteil vom 22. April 2010, VG 4 K
132.09) gerecht werden, d. h. auf einer abwägenden Einzelfallprüfung basie-
ren und nicht pauschal auf eine fehlende wirtschaftliche oder familiäre
Verwurzelung verweisen (vgl. hierzu auch Bundestagsdrucksache 17/2550,
Frage 9 ff.)?

4. Welche Erfahrungen wurden mit der biometrischen Datenerfassung von An-
tragstellerinnen und Antragstellern gemacht, welche Probleme haben sich
diesbezüglich aus Sicht der Bundesregierung herausgestellt, und welchen
Änderungsbedarf gibt es?

5. Wie verläuft aus Sicht der Bundesregierung der Aufbau des Visa-Informations-
systems (VIS), welche Probleme gibt es hierbei, und wie sind die weiteren
Schritte?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5977

6. Welche konkreten Erfahrungen gibt es mit der erleichterten Erteilung von
Jahres- und Mehrjahresvisa (bitte auf länder- und/oder kontinentspezifische
Besonderheiten eingehen), in welchem (auch ungefähren) Umfang werden
solche Visa seit April 2010 – im Gegensatz zu vorher – erteilt, welche Pro-
jekte und Erleichterungen in welchen Ländern oder generell gibt es oder
sind geplant, und wie bewertet die Bundesregierung die Entwicklung (bitte
bei der Beantwortung soweit möglich differenzieren nach Visumdauer und
Mehrfachvisa für ein, zwei oder drei Jahre)?

7. Welche aktuellen Erkenntnisse über einen Missbrauch der Visumbestim-
mungen liegen vor (welche Form des Missbrauchs in welchen Ländern und
in welchem Umfang), und welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregie-
rung?

8. Inwieweit und aufgrund welcher Umstände geht die Bundesregierung da-
von aus, dass die geplante „Visawarndatei“ zu einer Beschleunigung der
Visaverfahren führen wird?

9. Inwieweit geht die Bundesregierung davon aus, dass die geplante „Visa-
warndatei“ zu einer großzügigeren Prüf- und Erteilungspraxis führen wird,
weil die gesetzgeberische Annahme, dass die „Visawarndatei“ der Vermei-
dung von Missbrauch dient, bei der abwägenden Einzelfallentscheidung, ob
nationale Interessen an der Einhaltung der Visumbestimmungen das private
Interesse an der Verwirklichung der Reisefreiheit überwiegen, eine für die
Betroffenen positive Rolle spielen müsste?

10. Wie hoch war die Zahl der erteilten bzw. abgelehnten Visa im Jahr 2010
weltweit und in den einzelnen Ländern (bitte nicht nach Auslandsvertretun-
gen, sondern alphabetisch nach Ländern – und darin, soweit der Fall, nach
unterschiedlichen Auslandsvertretungen – differenziert darstellen und zu-
dem die Zahl der an den Grenzübergangsstellen erteilten Visa nennen; bitte
auch jeweils die relative Gesamtquote der Ablehnungen benennen sowie
die prozentuale Entwicklung im Vergleich zum Vorjahr und zum Jahr 2000;
zudem bitte die Zahl der Erteilungen und Ablehnungen länderbezogen nach
den Visakategorien des Visakodex differenzieren und innerhalb der Katego-
rie C nach einfachen und Mehrfachvisa sowie Geltungsdauer getrennt aus-
weisen)?

Berlin, den 26. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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