BT-Drucksache 17/5975

Verlust der Parteienmitgliedschaft wegen Freiheitsstrafe

Vom 26. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5975
17. Wahlperiode 26. 05. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jens Petermann, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Verlust der Parteienmitgliedschaft wegen Freiheitsstrafe

Das Parteiengesetz (PartG) enthält in § 10 Absatz 1 Satz 4 die Regelung, dass
Personen automatisch die Mitgliedschaft in einer politischen Partei verlieren,
wenn sie wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
einem Jahr verurteilt werden. Ebenso ist es solchen Personen nicht erlaubt, einer
Partei beizutreten. Dabei ist es unerheblich, ob die Freiheitsstrafe zur Bewäh-
rung ausgesetzt wird. Wörtlich heißt es in der Regelung: „Personen, die infolge
Richterspruchs die Wählbarkeit oder das Wahlrecht nicht besitzen, können nicht
Mitglieder einer Partei sein.“ Nach § 45 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs verliert
man seine Wählbarkeit bei Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Frei-
heitsstrafe von mindestens einem Jahr.

Historisch betrachtet entstammt die Regelung des § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG
dem auf das mittelalterliche Rechtsempfinden zurückgehenden Ehrenstrafrecht.
Der dahinterstehende Gedanke lautete, dass sich durch eine kriminelle Tat zu-
gleich die politische Unwürdigkeit des Täters zeige und er damit nicht ehrbar ge-
nug etwa zur Ausübung politischer Ämter oder der Mitgliedschaft in einer Partei
sei. Die Ehrenstrafe war damit eine Form des „bürgerlichen Todes“. Mit der
großen Strafrechtsreform der 50er- und 60er-Jahre sollte das Ehrenstrafrecht als
resozialisierungsfeindlich überwunden werden, da die aus der erlittenen Demü-
tigung folgende Verbitterung eines Verurteilten der Gesellschaft mehr schaden
als nützen würde.

Eine Begründung für die Regelung des § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG lautet, dass
nur derjenige Parteimitglied sein soll, der auch tatsächlich in ein öffentliches
Amt gewählt werden kann. Diese Argumentation übersieht, dass zum einem
eine Mehrzahl der lediglich eingeschriebenen Parteimitglieder gar keine Ambi-
tionen auf öffentliche Ämter haben und zum anderen das Parteiengesetz auch die
Mitgliedschaft Minderjähriger und Nichtdeutscher in Parteien gestattet, die
gleichfalls nicht in ein öffentliches Amt gewählt werden können. Zudem defi-
niert das Grundgesetz in Artikel 21 die Mitwirkung an der politischen Willens-
bildung des Volkes als primäre Aufgabe der Parteien. Eine solche Mitwirkung
an der Willensbildung kann durch Mitglieder von Parteien auch in Justizvoll-
zugsanstalten (JVA) stattfinden.

Die Regelung des § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG erscheint nicht praktikabel, da Par-
teien in der Regel nicht erfahren, ob eines ihrer Mitglieder zu einer Haftstrafe
verurteilt wird oder sich ein Eintrittswilliger im Strafvollzug befindet. Obwohl
die Mitgliedschaft des Verurteilten automatisch per Gesetz erlischt, werden die
Betroffenen in der Masse der Fälle weiterhin als Parteimitglieder behandelt. Das
heißt, ihr Mitgliedsbeitrag wird widerrechtlich weiter eingezogen und sie erhal-
ten weiterhin Einladungen zu Parteiveranstaltungen, auf denen sie zumindest

Drucksache 17/5975 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

theoretisch ihr Stimmrecht ausüben könnten. Aus Unkenntnis oder bewusster
Missachtung der Regelung des § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG unterhalten Parteien
in einigen Fällen sogar bewusst Kontakte zu Inhaftierten, die sie als Mitglieder
behandeln. So hatten Die Grünen in den 80er- und 90er-Jahren „informelle“
Ortsverbände in bayerischen JVA, die über Delegierte ihr Stimmrecht bei Partei-
veranstaltungen wahrnahmen (Jan Oelbermann: Automatischer Verlust der
Parteimitgliedschaft für verurteilte Kriminelle – Sinn und Unsinn einer solchen
Regelung, Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Internationales Parteien-
recht und Parteienforschung MIP 2011, 17. Jg., S. 153 bis 155)

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit hält die Bundesregierung § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG noch für zeit-
gemäß angesichts der Tatsache, dass das Ehrenstrafrecht bereits mit der gro-
ßen Strafrechtsreform der 50er- und 60er-Jahre als resozialisierungsfeindlich
eingestuft wurde?

2. Inwieweit hält die Bundesregierung § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG für prakti-
kabel?

a) Auf welchem Weg können Parteien nach Meinung der Bundesregierung
von einer Verurteilung ihrer Mitglieder zu einer mindestens einjährigen
Haftstrafe erfahren?

b) Inwieweit besteht nach Meinung der Bundesregierung von Seiten einer
zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilten Person
die Pflicht, im Falle einer Parteimitgliedschaft, die Partei über die Verur-
teilung zu informieren?

c) Inwieweit haben nach Meinung der Bundesregierung Parteien die Pflicht,
ihre Mitglieder über den § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG in Kenntnis zu
setzen?

d) Inwieweit machen Parteien sich strafbar, wenn sie in Kenntnis einer Ver-
urteilung eines ihrer Mitglieder zu einer Freiheitsstrafe von mindestens
einem Jahr dieses weiter als Mitglied behandeln bzw. ein Neumitglied
trotz einer solchen der Partei zuvor bekannt gewordenen Verurteilung
aufnehmen?

e) Wie beurteilt die Bundesregierung vom parteirechtlichen Gesichtspunkt
die Problematik, dass Parteien in Unkenntnis einer Verurteilung ihrer
Mitglieder zu einer mindestens einjährigen Haftstrafe diese weiterhin als
Mitglieder behandeln?

3. Inwieweit findet der § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG nach Kenntnis der Bundes-
regierung praktische Anwendung?

a) Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, in denen zu Freiheits-
strafen verurteilte Personen nach § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG ihre Partei-
mitgliedschaft verloren oder deswegen ein Parteieintritt abgelehnt
wurde?

b) Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Parteien bewusst ge-
gen § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG verstießen, und wie wurde damit recht-
lich umgegangen?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung aus parteirechtlicher Sicht die Praxis
der Grünen, die in den 80er- und 90er-Jahren informelle Ortsverbände in
JVA unterhielten?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5975

4. Hält die Bundesregierung ein politisches oder parteipolitisches Engagement
von Strafgefangenen vor dem Hintergrund der Resozialisierung für wün-
schenswert?

a) Wenn ja, welche Möglichkeiten eines politischen oder parteipolitischen
Engagements bestehen für Strafgefangene trotz des § 10 Absatz 1 Satz 4
PartG?

b) Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung?

5. Inwieweit hält die Bundesregierung eine Änderung oder Streichung von § 10
Absatz 1 Satz 4 PartG für wünschenswert?

a) Wenn ja, welche Initiativen gedenkt die Bundesregierung in welchem
Zeitraum dafür einzuleiten?

b) Welche parlamentarischen oder außerparlamentarischen Initiativen zur
Änderung oder Streichung von § 10 Absatz 1 Satz 4 PartG gab es in der
Vergangenheit und warum scheiterten diese?

6. Welche Möglichkeiten haben die politischen Parteien nach Kenntnis der
Bundesregierung, um ihrem grundgesetzlichen Auftrag des Beitrages zur
politischen Willensbildung auch unter Straf- und Untersuchungsgefangenen
nachzukommen?

a) Inwieweit haben die politischen Parteien die Möglichkeit, Informations-
und Wahlkampfveranstaltungen auch innerhalb von JVA durchzuführen?

b) Inwieweit können sich Strafgefangene zu Parteigliederungen bzw. Sym-
pathisantengruppen politischer Parteien zusammenschließen?

c) Inwieweit haben die politischen Parteien die Möglichkeit, Unter-
suchungs- und Strafgefangene per Post zu informieren und in Wahlkämp-
fen zu umwerben?

d) Inwieweit dürfen die JVA-Bediensteten Informationssendungen und
Wahlwerbung von politischen Parteien an Untersuchungs- und Strafge-
fangene zensieren oder zurückhalten?

Berlin, den 26. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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