BT-Drucksache 17/5741

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das erste Quartal 2011

Vom 5. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5741
17. Wahlperiode 05. 05. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens Petermann,
Kersten Steinke, Frank Tempel, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik für das erste Quartal 2011

Die von der Fraktion DIE LINKE. regelmäßig erfragten ergänzenden Informa-
tionen zur Asylstatistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) sollen Aspekte näher beleuchten, die von der offiziellen monatlichen
Statistik ausgeblendet werden.

So gab es im Jahr 2010 nicht nur 41 332 Asylverfahren und etwa 10 000 Flücht-
lingsanerkennungen. Es wurden zudem über 11 000 Verfahren eingeleitet, mit
denen der Flüchtlingsstatus bereits anerkannter Flüchtlinge noch einmal über-
prüft wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4627). Dies ist nach deutschem
Recht drei Jahre nach der Anerkennung obligatorisch. In über 2 500 Fällen führte
2010 ein solches Verfahren zum Widerruf vorheriger Anerkennungen, etwa
wegen geänderter Bedingungen im Herkunftsland, betroffen waren überwie-
gend irakische Flüchtlinge. Die Widerrufsquote betrug 2010 zwar nur 16,4 Pro-
zent, und diese behördlichen Widerrufe wurden bei einer gerichtlichen Anfech-
tung auch nur zu knapp 25 Prozent bestätigt. Widerrufe sind für die Betroffenen
– politisch verfolgte und häufig traumatisierte Flüchtlinge – jedoch unabhängig
vom Verfahrensausgang sehr belastend und beschäftigen Behörden und Gerichte
in arbeitsaufwändigen Verfahren.

Die deutsche Widerrufspraxis ist ungeachtet aller Harmonisierungsbestrebun-
gen in der EU europaweit einzigartig restriktiv. Kein anderes Land kennt ob-
ligatorische Widerrufsprüfungen nach einer bestimmten Zeitdauer, und nur in
Frankreich gibt es noch Widerrufe in nennenswertem Umfang (doch selbst diese
betragen gerade einmal 2 Prozent der deutschen Zahlen). In Deutschland gab es
im Zeitraum 2005 bis 2010 über 100 000 Asylwiderrufsverfahren und 38 500
Asylwiderrufe. Damit gab es beinahe so viele Widerrufe wie Anerkennungen
(knapp 41 000). Unter anderem deshalb sinkt die Zahl der in Deutschland leben-
den anerkannten Flüchtlinge seit Jahren. Ende 2010 waren es nur gut 115 000
mit einem Flüchtlingsstatus, Ende 1997 lebten noch über 200 000 Asylberech-
tigte und anerkannte Flüchtlinge in Deutschland.

Im Jahr 2010 wurde in über 20 000 Fällen Klage gegen eine ablehnende Asyl-
entscheidung erhoben. Nur 36,2 Prozent dieser Klagen wurden von den Gerich-
ten abgelehnt. Afghanische Asylsuchende wurden mit 41,2 Prozent aller Ent-

scheidungen in besonders hohem Maße durch die Gerichte nachträglich als
Flüchtlinge anerkannt (312 Personen von Januar bis November 2010), in weite-
ren 46,3 Prozent gab es „sonstige Verfahrenserledigungen“ (häufig: Klagerück-
nahmen nach Zusage einer Anerkennung), nur 12,5 Prozent der klagenden Asyl-
suchenden aus Afghanistan wurden abgewiesen.

Drucksache 17/5741 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Bei 22,8 Prozent aller Asylgesuche im Jahr 2010 war das Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge (BAMF) der Auffassung, dass ein anderes Land der Euro-
päischen Union nach der EU- Dublin-II-Verordnung zuständig sei. Das Land,
das dabei mit Abstand am häufigsten ersucht wurde, Asylsuchende aus Deutsch-
land zu übernehmen (knapp 2 500 Ersuchen), war ausgerechnet das völlig über-
forderte Griechenland. Besonders brisant: Während nach Angaben der euro-
päischen Statistikbehörde Eurostat Asylsuchende im Jahr 2009 in Deutschland
zu 36,5 Prozent als schutzbedürftig anerkannt wurden, lag diese Quote in
Griechenland bei nur 0,1 Prozent.

37,4 Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2010 waren minder-
jährige Kinder.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch war die Gesamtschutzquote (Anerkennungen nach § 16a des
Grundgesetzes, nach § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)/der
Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und von Abschiebungshindernissen
nach § 60 Absatz 2, 3, 5 und 7 AufenthG) in der Entscheidungspraxis des
BAMF im ersten Quartal 2011, und wie lauten die jeweiligen Vergleichs-
werte des vorherigen Quartals (bitte in absoluten Zahlen und in Prozent an-
geben, bitte auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und der Art der
Anerkennung differenzieren: Asylberechtigung – staatliche/nichtstaatliche
Verfolgung –, Flüchtlingsschutz – staatliche/nichtstaatliche Verfolgung –,
subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 2 und 5 AufenthG – unmenschliche Be-
handlung –, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 3 AufenthG – Todesstrafe –,
subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG – bewaffnete Kon-
flikte –, subsidiärer Schutz nach § 60 Absatz 7 Satz 1 AufenthG – sonstige
existenzielle Gefahren?

2. Wie viele Widerrufsverfahren wurden im ersten Quartal 2011 eingeleitet, und
wie lautet der Vergleichswert des vorherigen Quartals (bitte Gesamtzahlen
angeben und nach den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn
wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

3. Wie viele Entscheidungen in Widerrufsverfahren mit welchem Ergebnis gab
es in den vorgenannten Zeiträumen (bitte Gesamtzahlen angeben und nach
den verschiedenen Formen der Anerkennung und den zehn wichtigsten Her-
kunftsländern differenzieren, bitte auch die jeweiligen Widerrufsquoten be-
nennen)?

4. Wie lang war die durchschnittliche Verfahrensdauer im Jahr 2010 (bzw. so-
weit bekannt) bis zu einer behördlichen, wie lange war sie bis zu einer rechts-
kräftigen Entscheidung (das heißt inklusive eines Gerichtsverfahrens, bitte
auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern differenzieren)?

5. Wie viele Verfahren im Rahmen der Dublin-II-Verordnung wurden im ersten
Quartal 2011 eingeleitet, und wie lautet der Vergleichswert des vorherigen
Quartals (bitte in absoluten Zahlen und in Prozentzahlen die Relation zu allen
Asylerstanträgen sowie die Quote der auf EURODAC-Treffern (EURO-
DAC: Datenbank für Fingerabdrücke von Asylbewerbern) basierenden Ver-
fahren und die Quote der Verfahren nach „illegalem“ Grenzübertritt ohne
Asylgesuch angeben)?

a) Welches waren in den benannten Zeiträumen die zehn am stärksten betrof-
fenen Herkunftsländer, und welches die zehn am stärksten angefragten
EU-Mitgliedstaaten (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen ange-
ben)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5741

b) Wie viele Dublin-Entscheidungen mit welchem Ergebnis (Zuständigkeit
eines anderen EU-Mitgliedstaats bzw. der Bundesrepublik Deutschland,
Selbsteintritt nach Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-II-Verordnung (DublinV),
humanitäre Fälle nach Artikel 15 DublinV) gab es in den benannten Zeit-
räumen?

c) Wie viele Überstellungen nach der DublinV wurden in den benannten
Zeiträumen vollzogen (bitte in absoluten Werten und in Prozentzahlen an-
geben und auch nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und EU-Mit-
gliedstaaten – in jedem Fall auch Griechenland – differenzieren)?

d) Wie hoch war der Anteil der in Zuständigkeit der Bundespolizei durch-
geführten Dublin-Verfahren bzw. Überstellungen?

6. Wie viele Asylanträge wurden im ersten Quartal 2011 (bitte auch den Ver-
gleichswert des vorherigen Quartals nennen) nach § 14a Absatz 2 des Asyl-
verfahrensgesetzes von Amts wegen für hier geborene (oder eingereiste) Kin-
der von Asylsuchenden gestellt, wie viele Asylanträge wurden in den
genannten Zeiträumen von Kindern bzw. für Kinder unter 16 Jahren bzw. von
Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren bzw. von unbegleiteten minderjäh-
rigen Flüchtlingen gestellt (bitte jeweils in absoluten Zahlen und in Prozent-
zahlen in Relation zur Gesamtzahl der Asylanträge sowie die Gesamtzahl der
Anträge unter 18-Jähriger und sich überschneidende Teilmengen angeben),
und wie hoch war die Gesamtschutzquote bei unbegleiteten Minderjährigen
bzw. bei unter 18-Jährigen?

7. Wie lautet die Statistik zu Rechtsmitteln und Gerichtsentscheidungen im Be-
reich Asyl für das Jahr 2010, und welche Angaben zur Dauer des gericht-
lichen Verfahrens lassen sich machen (bitte wie in der Antwort auf Bundes-
tagsdrucksache 17/4627 zu Frage 7 darstellen und die Vergleichswerte des
Vorjahres nennen)?

a) Weshalb sieht das Bundesamt keinen Änderungsbedarf in der Entschei-
dungspraxis in Bezug auf afghanische Flüchtlinge, die im Zeitraum Januar
bis November 2010 nach einer Klage gegen eine behördliche Ablehnung
zu 41,2 Prozent (und damit fast vier Mal so oft wie im Durchschnitt) durch
gerichtliche Entscheidungen als schutzbedürftig anerkannt wurden (46,3
Prozent Verfahrenserledigungen, nur 12,5 Prozent Ablehnungen), was auf
eine erhöhte Fehlerquote beim Bundesamt oder/und auf von den Gerich-
ten nicht geteilte allgemeine Lageeinschätzungen hindeutet (Nachfrage zu
der Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/4627 zu Frage 7a)?

b) Hat sich die Bewertung des BAMF bezüglich Widerrufen bei türkischen
Flüchtlingen mit der Begründung einer angeblich dauerhaft und grund-
legend geänderten Sachlage in der Türkei inzwischen bei den Gericht
„durchgesetzt“ (vgl. Antwort auf Bundestagsdrucksache 17/4627 zu
Frage 7b), und wie rechtfertigt das BAMF solcherart begründete Wider-
rufe in großer Zahl, wenn ausweislich der Statistik bei Gerichtsentschei-
dungen nur knapp 18 Prozent der Widerrufe bei türkischen Flüchtlingen
bestätigt werden?

c) Wieso sieht das BAMF keine Veranlassung, seine Widerrufsentscheidungs-
praxis in Bezug auf Flüchtlinge aus dem Togo zu ändern, wenn die Gerichte
bei Klagen gegen solche Widerrufe zu 76,2 Prozent zu dem Ergebnis kom-
men, dass diese zu Unrecht ausgesprochen wurden (bitte begründen; Nach-
frage zu den Antworten auf Bundestagsdrucksachen 17/3744 und 17/4627,
jeweils zu Frage 7c)?

Drucksache 17/5741 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
8. Wie ist zu erklären, dass die Zahl der Asylgesuche im Februar und März
2011 (3 300 bzw. 3 500) jeweils unterhalb des Werts vom Januar (3 750)
lag, obwohl die Bundesrepublik Deutschland seit Mitte Januar 2011 auf
Überstellungen nach Griechenland verzichtet und ein solcher Überstel-
lungsstopp nach in der Vergangenheit geäußerter Ansicht einiger politischer
Beobachter und auch des Bundesministeriums des Innern zu einem sprung-
haften Anstieg der Asylbewerberzahlen hätte führen müssen?

9. Wie waren die Schutzquoten und Zahl der Schutzgesuche bei Asylsuchen-
den aus Tunesien, Ägypten, Marokko, Syrien, Jemen, Katar, Saudi Arabien
und Libyen im Jahr 2010, und wie sind die Quoten und die Zahl der Asyl-
gesuche aus diesen Ländern derzeit?

10. Würde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine gesetzgeberische
Initiative zur Abschaffung obligatorischer Asylwiderrufsprüfungen drei
Jahre nach der Anerkennung begrüßen (und wenn ja, in welcher konkreten
Gestalt), vor dem Hintergrund, dass

a) es in keinem anderen europäischen Land solche nach einer bestimmten
Zeit obligatorischen Widerrufsprüfungen oder Widerrufe in einer auch
nur ansatzweise vergleichbaren Zahl gibt und Deutschland damit im an-
geblich harmonisierten EU-Asylsystem eine absolute Sonderstellung
einnimmt,

b) hierdurch freiwerdende Arbeitskapazitäten für eine schnellere Bearbei-
tung neuer Asylanträge genutzt werden könnten und nicht mehr eigent-
lich für die Integration zuständige Regionalkoordinatoren hilfsweise zur
Asylprüfung eingesetzt werden müssten,

c) es im Jahr 2010 in nur 16,4 Prozent der entschiedenen Fälle zu einem
Widerruf kam und wiederum nur etwa 25 Prozent der angefochtenen Be-
scheide gerichtlich bestätigt wurden, so dass es im Ergebnis zu ver-
gleichsweise wenigen Fällen eines Widerrufs und in noch weniger Fällen
zu einer Ausreiseverpflichtung kommt (da auch nach einem Widerruf ein
Aufenthalt auf anderer Rechtsgrundlage erteilt werden kann), das heißt
dass aufwändige und die Betroffenen gleichwohl sehr belastende Verfah-
ren zumeist nur der formellen „Statusklärung“ dienen,

und wie ist die Haltung der Bundesregierung hierzu (bitte differenziert und
in Auseinandersetzung mit den konkreten Unterfragen beantworten)?

Berlin, den 3. Mai 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.