BT-Drucksache 17/574

Entschädigungs-, Schadensersatz- und Reparationsforderungen wegen NS-Unrechts in Griechenland, Italien und anderen ehemals von Deutschland besetzten Staaten

Vom 27. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/574
17. Wahlperiode 27. 01. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen,
Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, Harald Koch, Petra Pau, Jens Petermann,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Entschädigungs-, Schadensersatz- und Reparationsforderungen wegen
NS-Unrechts in Griechenland, Italien und anderen ehemals von Deutschland
besetzten Staaten

Weil es die Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte versäumt hat, alle
NS-Opfer angemessen zu entschädigen und den von der Wehrmacht besetzten
Staaten Reparationen zu leisten, sieht sie sich zunehmend juristischen Forde-
rungen auf internationaler Ebene gegenüber. In Griechenland und Italien haben
die obersten Gerichtshöfe die Bundesrepublik Deutschland zu Zahlungen in
Millionenhöhe verurteilt.

Ende 2009 hat zudem der polnische Oberste Gerichtshof die Entschädigungs-
klage eines Mannes zugelassen, der als Fünfjähriger schwer verletzt ein Massa-
ker von Wehrmachtstruppen in der polnischen Stadt Szczecyn überlebt hat. Da-
bei hat sich das Gericht Pressemeldungen zufolge auf die Rechtsprechung in
Italien bezogen.

In Italien sind bereits Zwangsvollstreckungsverfahren gegen deutsches Staats-
eigentum angelaufen. Unter anderem ist eine Sicherungshypothek auf das
Grundstück der Villa Vigoni eingetragen. Ein Verfahren, mit dem die Bundes-
regierung die Löschung dieser Hypothek beantragt hat, ist vom Landgericht
Como im Dezember 2009 ausgesetzt worden, mit dem Hinweis, dass das Ober-
landesgericht in Florenz ohnehin schon die italienische Vollstreckungsformel
bestätigt habe.

Zudem wurden Forderungen in Höhe von 25 Mio. Euro gepfändet, die die
Deutsche Bahn gegenüber den Italienischen Eisenbahnen geltend macht (im
Wesentlichen Fahrkarten-Forderungen). Am 8. Januar 2010 hat vor dem Voll-
streckungsgericht in Rom das Verfahren zur Abgabe der Drittschuldnererklä-
rung stattgefunden. Es geht bei diesem Verfahren um die Entschädigung für ein
Massaker der SS im Jahr 1944 in Distomo/Griechenland. Die vom Landgericht
Livadia den Klägern zugestandene Entschädigung beträgt heute (mit Zinsen)
rund 51 Mio. Euro. Nachdem die Bundesregierung die Vollstreckung des Ur-
teils in Griechenland durch Einflussnahme auf die dortige Regierung verhindert
hat, haben die italienischen Gerichte das Urteil in Italien für vollstreckbar er-
klärt. Außerdem sind in Italien bereits Forderungen italienischer NS-Opfer
nach Entschädigung anerkannt worden.

Statt diese rechtskräftigen Urteile anzuerkennen, hat die Bundesregierung vor
dem Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage gegen Italien eingereicht.
Nach Informationen der Fragesteller hat die italienische Regierung am
23. Dezember 2009 vor dem Internationalen Gerichtshof eine Widerklage ein-
gereicht mit dem Ziel, eine Feststellung zu erreichen, dass die Bundesrepublik

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Deutschland dem italienischen Staat Reparationen leisten muss für die Schä-
den, die in der Zeit der deutschen Besatzung zwischen 1943 und 1945 verur-
sacht worden sind.

Darüber hinaus haben die Fragesteller erfahren, dass es in Griechenland Vor-
bereitungen für parlamentarische sowie juristische Schritte gibt, um die Rück-
zahlung der sogenannten Zwangsanleihe von 1942 zu erreichen. Die Naziregie-
rung hatte damals von der griechischen Nationalbank einen Kredit in Höhe von
rund 7,5 Mrd. Reichsmark erpresst, der niemals zurückgezahlt wurde. Die For-
derungen dürften sich mit Zinsen heute auf einen zwei- bis dreistelligen
Milliardenbetrag belaufen. Diese Forderungen sind nach Auffassung griechi-
scher Juristen und Historiker nicht erloschen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass die italienische Regierung beim
IGH in Den Haag eine sogenannte Widerklage gegen die Bundesrepublik
Deutschland eingereicht hat, und welche Angaben zu deren Ziel kann sie
machen?

a) Inwiefern trifft es zu, dass Italien anstrebt, Deutschland solle Reparations-
zahlungen aufnehmen, die der Bundesrepublik Deutschland seit 1953 im
Rahmen der Londoner Schuldenkonferenz gestundet wurden?

b) Wurde der Bundesregierung dieser Klagesatz zwischenzeitlich vom IGH
zugestellt oder auf anderem Wege übermittelt?

c) Ist die Bundesregierung bereit, den Wortlaut des Schriftsatzes zu veröf-
fentlichen (bitte ggf. im Anhang beilegen), und wenn nein, warum nicht?

d) Ist die Bundesregierung bereit, ihre (erweiterte) Klagebegründung im
Verfahren gegen Italien vor dem IGH im Wortlaut zu veröffentlichen
(bitte ggf. im Anhang beilegen), und wenn nein, warum nicht?

2. Welchen Kenntnisstand hat die Bundesregierung über den finanziellen Um-
fang der Reparationsansprüche, den Italien für die aus der Besatzungszeit
entstandenen Schäden sowie für Massaker und andere Menschenrechtsver-
letzungen geltend machen könnte?

a) Auf welche Gesamthöhe belaufen sich die Forderungen natürlicher Per-
sonen, soweit sie bereits zum jetzigen Zeitpunkt vor italienischen Gerich-
ten gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben worden sind?

b) Auf welche Summen belaufen sich die Forderungen natürlicher Perso-
nen, die von italienischen Gerichten bereits rechtskräftig entschieden
worden sind (bitte einzeln angeben)?

3. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass es hin-
sichtlich italienischer NS-Opfer von Seiten der Bundesrepublik Deutschland
zu wenig Anstrengungen für eine juristisch, politisch und humanitär ange-
messene Entschädigung gegeben hat und inwieweit will sie Anstrengungen
unternehmen, um Konfliktlösungen herbeizuführen, die ein jahrelanges und
politisch schädliches Verfahren vor dem IGH vermeiden könnten?

4. Auf welche Summe belaufen sich die Verbindlichkeiten der Bundesrepublik
Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches in Zusammenhang
mit der Zwangsanleihe bei der griechischen Nationalbank von 1942 bei
Zugrundelegung des üblichen Gegenwertkurses von Reichsmark zu Euro
und Hinzurechnung des Inflationsfaktors (die Aktualität dieser Verbindlich-
keiten vorausgesetzt)?

a) Inwiefern sind der Bundesregierung Bestrebungen in Griechenland be-
kannt, von der Bundesrepublik Deutschland die Rückzahlung dieser
Zwangsanleihe zu fordern?

b) Wie beurteilt die Bundesregierung die Rückzahlungspflicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/574

c) Hat sie in dieser Sache Gespräche mit der griechischen Regierung auf-
genommen, und wenn ja, mit welchem Ziel, zu welchen Daten haben
Gespräche stattgefunden, und wer hat die Bundesrepublik Deutschland
hierbei vertreten, und welche Vorschläge hat die Bundesregierung hier-
bei der griechischen Regierung zur Vermeidung einer weiteren Klage
vor dem IGH gemacht?

5. Welche rechtliche Bedeutung kommt heute dem „Vertrag zur Regelung aus
Krieg und Besatzung entstandener Fragen“ von 1990 zu, insbesondere den
darin enthaltenen Übergangsbestimmungen bis zum Abschluss eines Frie-
densvertrages?

a) Welche Schritte hat die Bundesregierung seit Vertragsschluss unternom-
men, um den Vertragszweck umzusetzen?

b) Gehört eine Verwertung von deutschem Vermögen im Ausland zur Zah-
lung von Besatzungsschäden nach Auffassung der Bundesregierung in
den Regelungsbereich dieses Vertrages, und wenn nein, warum nicht?

6. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Fragesteller, dass ihre Be-
schwerde gegen die in Zusammenhang mit den Distomo-Urteilen erfolgte
Beschlagnahmung des Deutsche-Bahn-Guthabens in Italien gegen den
„Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen“ ver-
stößt, insbesondere gegen dessen Bestimmung, die Bundesrepublik
Deutschland werde „keine Einwendungen gegen die Maßnahmen erheben,
die gegen das deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt
worden sind oder werden sollen, das beschlagnahmt worden ist für Zwecke
der Reparation oder Restitution oder auf Grund des Kriegszustandes“, und
wenn nein, warum nicht?

7. Auf welche Summen belaufen sich die Kosten, die seit 1995 in der Distomo-
Sache für Gerichts-, Verfahrens- und Anwaltskosten auf Seiten der Bundes-
republik Deutschland entstanden sind (inkl. sämtlicher Verfahren in Grie-
chenland und Italien inkl. der Vollstreckungsverfahren) (bitte nach einzelnen
Gerichtsverfahren vor griechischen und italienischen Gerichten sowie dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte getrennt darstellen)?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, dass es über das
Distomo-Verfahren hinaus zu weiteren Zwangsvollstreckungen gegen
Auslandsvermögen der Bundesrepublik Deutschland kommt („Anschluss“
an Vollstreckungsverfahren durch andere Kläger), insbesondere aufgrund
des rechtskräftig gewordenen Urteils wegen des Massakers von Civitella
(die Bundesrepublik Deutschland wurde zur Entschädigungszahlung von
rund 1 Mio. Euro verurteilt), und inwiefern sucht die Bundesregierung das
Gespräch mit den Prozessbevollmächtigten weiterer Kläger, um weitere
Pfändungen in Italien zu vermeiden?

9. Wie stellt sich aus Sicht der Bundesregierung das Verfahren des
W. Natoniewski in Polen gegen die Bundesrepublik Deutschland dar, und
wie beabsichtigt sie hierauf zu reagieren?

10. Wie vereinbart die Bundesregierung ihre Weigerung, die italienischen und
griechischen Entschädigungsansprüche anzuerkennen und umzusetzen, mit
dem Grundsatz der Staatenverantwortlichkeit für völkerrechtswidrige
Handlungen, wie ihn die UN-Völkerrechtskommission im Entwurf der
Konvention zur „Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidrige
Handlungen“ vorgeschlagen hat, und wie ist die Position der Bundesregie-
rung zu diesem Konventionsentwurf?

Berlin, den 27. Januar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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