BT-Drucksache 17/5539

Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Standstill-Klauseln des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union mit der Türkei

Vom 12. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5539
17. Wahlperiode 12. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic
und der Fraktion DIE LINKE.

Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den
Standstill-Klauseln des Assoziierungsabkommens der Europäischen Union
mit der Türkei

Der Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwick-
lung der Assoziation (ARB 1/80) sieht in Artikel 13 ein Verschlechterungsver-
bot (Standstill-Klausel) vor, d. h. die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
dürfen „keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt“ ge-
genüber türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen einführen.
Vergleichbares regelt Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziie-
rungsabkommen in Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit.

Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist geklärt,
dass der Zugang zum Arbeitsmarkt auch ein Aufenthaltsrecht bedingt (Sevince-
Urteil aus dem Jahr 1990). Somit darf es auch keine neuen Beschränkungen bei
der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder andere „Beschränkungen der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit“ geben, „die die materiell- und/oder verfahrensrechtli-
chen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöri-
ger im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates betreffen“, so auch die Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bun-
destagsdrucksache 17/3393 zu Frage 22. Und weiter: „Dabei beschränkt sich
die Stillhalteklausel in ihrem persönlichen Anwendungsbereich nicht nur auf
bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates integrierte türkische Staatsan-
gehörige, sondern sie soll gerade für die türkischen Staatsangehörigen gelten,
die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Auf-
enthalt nach Artikel 6 Absatz 1 ARB 1/80 genießen“. Der EuGH stellte mit
dem so genannten Toprak-Urteil vom 9. Dezember 2010 (C-300/09 und C-301/
09) klar, dass die Verschlechterungsverbote dynamisch auszulegen sind, d. h.
sie gelten nicht nur bezogen auf das Datum ihres Inkrafttretens, sondern auch in
Bezug auf seitdem erfolgte Begünstigungen. Im Hinblick auf das Ziel der
schrittweisen Verwirklichung der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer, der
Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs dürfen einmal
gewährte arbeits-, visums-, aufenthaltsrechtliche oder andere relevante Erleich-
terungen nicht mehr zurückgenommen werden.

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung sind etliche aufenthaltsrechtliche
Verschärfungen der vergangenen Jahre mit verbindlichem Europarecht unver-
einbar und auf türkische Staatsangehörige jedenfalls nur bedingt anwendbar.
Während die Bundesregierung dies in Bezug auf die jüngst beschlossene Ver-
längerung der Mindestehebestandszeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
grundsätzlich eingeräumt hat (vgl. Bundestagsdrucksache 17/4623, Antwort zu
Frage 1), bestreitet sie die Anwendung der Standstill-Klauseln auf andere

Drucksache 17/5539 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

gesetzliche Verschärfungen, etwa die Einführung von Sprachnachweisen als
Voraussetzung für den Ehegattennachzug, die Verpflichtung zur Integrations-
kursteilnahme, die Beschränkung der Dauer einer Aufenthaltserlaubnis auf ein
Jahr bis Sprachkenntnisse eines bestimmten Niveaus nachgewiesen wurden
oder auch die Einführung des Visumzwangs für touristische Zwecke und Besu-
che. Die Bundesregierung setzt sich seit Jahrzehnten für eine möglichst restrik-
tive Auslegung des Assoziationsrechts ein, doch der EuGH weist ihre Stellung-
nahmen und Argumente in seinen Urteilen regelmäßig zurück (z. B. in den
wichtigen Urteilen zu Toprak, Soysal, Abatay, Birden, im Urteil C-92/07 vom
29. April 2010 und bereits im Demirel-Urteil aus dem Jahr 1987). Stück für
Stück muss Deutschland durch den EuGH so zur Beachtung des Assoziations-
rechts gezwungen werden (vgl. hierzu: Ünal Zeran in ASYLMAGAZIN 11/2010,
S. 363ff., Thomas Oberhäuser in ANA-ZAR 1/2011, S. 1f. und Jan Tobias
Behnke in ANA-ZAR 1/2008, S. 1f.). Der Republikanische Anwältinnen- und
Anwälteverein e. V. hat am 14. Oktober 2010 die EU-Kommission aufgefor-
dert, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland
einzuleiten, weil die deutsche Praxis den europarechtlichen Vorgaben zu den
Standstill-Klauseln „unter anderem im Bereich des Ausweisungsschutzes, des
Familiennachzugs, der Visafreiheit oder des Gebührenrechts“ nicht gerecht
werde.

Der 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeab-
kommens im Oktober 2011 böte die Gelegenheit, die deutsche Rechtslage und
Praxis endlich den europarechtlichen Anforderungen anzupassen.

Die Bundesregierung ist allerdings nicht einmal dazu bereit, Auskunft darüber
zu geben, welche Bestimmungen im Lichte der neueren Rechtsprechung des
EuGH mit den Standstill-Klauseln unvereinbar sind (vgl. Bundestagsdruck-
sache 17/4623, Antworten zu den Fragen 1, 3, 5 und 7). Hierzu bedürfte es
eines Günstigkeitsvergleichs der aktuellen Rechtslage mit der Rechtslage und
den Verwaltungsregelungen seit Inkrafttreten der Standstill-Klauseln. Die Bun-
desregierung behauptet, diese Informationen ergäben sich aus „allgemein zu-
gänglichen Quellen“ (a. a. O.). Sie überlässt es damit im Ergebnis den ein-
zelnen Ausländerbehörden, einen solchen umfassenden Rechtsvergleich vor-
zunehmen, um Verstöße gegen verbindliches Europarecht zu erkennen und zu
vermeiden. Eine aus Anlass der Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
vorgenommene Länderumfrage hat nach Auskunft der Bundesregierung
(a. a. O., Antwort zu Frage 1) ergeben, dass das Toprak-Urteil des EuGH „jen-
seits von § 31 AufenthG“ angeblich keinerlei Auswirkungen auf deutsches
Recht habe – was bezweifelt werden muss.

Soweit für die Beantwortung von einzelnen Fragen aufwändigere Recherchen
oder Überlegungen erforderlich sein sollten, räumt die Fragestellerin der Bun-
desregierung hiermit vorsorglich eine längere Beantwortungsfrist ein.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Da die Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/4623 zu den Fragen
1, 3, 5 und 7 sinngemäß geantwortet hat, dass es außer der Verlängerung der
Mindestehebestandszeit nach § 31 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG)
keine Bestimmung im Aufenthalts-, Visums- und Arbeitsrecht gebe, die vor
dem Hintergrund des Toprak-Urteils des EuGH gegen die Standstill-Klau-
seln des Assoziierungsrechts verstoßen würde, und da sie weiterhin „mit
dem gebotenen Respekt“ behauptete, dass sich die Rechtsentwicklung seit
Inkrafttreten der Standstill-Klauseln „aus allgemein zugänglichen Quellen
ergeben“ würde,

a) aufgrund welcher Annahmen geht sie davon aus, dass die Ausländer-
behörden, die zu prüfen haben, ob gesetzliche Regelungen „durch vorran-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5539

gig anwendbare assoziationsrechtliche Bestimmungen überlagert“ wer-
den (ebd., zu Frage 1), zu einem solch komplexen Rechtsvergleich auf-
grund allgemein zugänglicher Quellen und ohne Hilfe und Anwendungs-
hinweise des Bundesministeriums des Innern in der Lage sind, oder
vertritt sie eine andere Auffassung hierzu (und wenn ja, welche),

b) hält sie es nicht für sinnvoll und geboten, dass das Bundesministerium
des Innern (und/oder das Bundesministerium der Justiz) einen Günstig-
keitsvergleich der Rechtsentwicklung seit Inkrafttreten der Standstill-
Klauseln vornimmt und das Ergebnis dieser Untersuchung den Auslän-
derbehörden mitteilt bzw. in Form z. B. von Verwaltungshinweisen vor-
gibt, damit nicht alle Ausländerbehörden einzeln diesen komplexen
Rechtsvergleich vornehmen müssen, so dass es bundesweit vermutlich
auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen würde (bitte begründen),

c) bedeutet dies, dass sie den auf Bundestagsdrucksache 17/4623 angefrag-
ten Günstigkeitsvergleich bereits vorgenommen hat und der Fragestelle-
rin aber das Ergebnis nicht mitteilen möchte, und wenn ja, mit welcher
Begründung, und wie lautet das Ergebnis dieser Untersuchung,

d) bedeutet dies, dass sie den angefragten Günstigkeitsvergleich nicht vor-
genommen hat oder nicht vornehmen möchte, und wenn ja, wie wäre dies
damit zu vereinbaren, dass ein solcher Günstigkeitsvergleich zwingend
erforderlich ist, um feststellen zu können, ob deutsches Recht gegen ver-
bindliches Assoziationsrecht verstößt,

bitte – wie stets – alle Unterfragen getrennt beantworten und begründen?

2. Ist die Bundesregierung tatsächlich der Auffassung, wie es ihre Antworten
zu den Fragen 1, 3, 5 und 7 auf Bundestagsdrucksache 17/4623 nahelegen,
dass das Toprak-Urteil des EuGH zur dynamischen Auslegung der Stand-
still-Klauseln von der verschärften Regelung nach § 31 AufenthG abgese-
hen keinerlei Auswirkungen auf deutsches Recht hat?

a) Wenn ja, wie begründet sie diese Auffassung und hat sie insbesondere
den zur Beantwortung dieser Frage notwendigen Günstigkeitsvergleich
der Rechtsentwicklung seit Inkrafttreten der Standstill-Klauseln vorge-
nommen, und wenn nein, warum nicht?

b) Wenn nein, welche Verschärfungen verstoßen ihrer Auffassung nach ge-
gen die Standstill-Klauseln des Assoziationsrechts und welcher Hand-
lungsbedarf resultiert hieraus (bitte wie auf Bundestagsdrucksache 17/
4623 zu Frage 3 untergliedert beantworten)?

c) Wenn ja, wie glaubhaft ist dies vor dem Hintergrund, dass die Bundesre-
gierung bis zum Toprak-Urteil fälschlich behauptet hat, dass die Stand-
still-Klauseln nicht dynamisch auszulegen seien (vgl. Rn. 48 des Toprak-
Urteils), denn vor diesem Hintergrund wäre es nach Ansicht der Bundes-
regierung im Ergebnis (von § 31 AufenthG abgesehen) ohne Belang, ob
die Standstill-Klauseln dynamisch oder statisch ausgelegt würden (bitte
ausführen)?

Bitte – wie stets – alle Unterfragen getrennt und begründet beantworten.

3. Wie, wann und wo informiert die Bundesregierung Bundes-, Landes- und
Ausländerbehörden über die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum EU-
Assoziationsrecht in Bezug auf türkische Staatsangehörige und ihre Aus-
wirkungen auf die Rechtsanwendung?

a) Wie und was genau hat sie über die Auswirkungen des Toprak-Urteils be-
richtet, und welchen letzten Stand haben die diesbezüglichen Informatio-
nen, Verwaltungshinweise, Anwendungshinweise usw.)?

Drucksache 17/5539 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

b) Welchen letzten Stand haben insbesondere die Allgemeinen An-
wendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Beschluss
Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei, und inwieweit wird dort das
Toprak-Urteil des EuGH berücksichtigt (bitte begründen)?

c) Wie begründet es die Bundesregierung, falls über die jüngsten Entschei-
dungen des EuGH zum Assoziationsrecht EWG-Türkei und insbesondere
über das Toprak-Urteil die maßgeblichen Behörden nicht informiert wur-
den?

d) Ist es zutreffend, dass die Allgemeinen Anwendungshinweise des BMI
zum ARB 1/80 auf dem Stand 2. Mai 2002 stehengeblieben sind, mit der
Folge, dass insbesondere zu Artikel 13 ARB 1/80, aber auch zu anderen
Fragen eine völlig veraltete Rechtsauffassung wiedergegeben wird, und
wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung die Sinnhaftigkeit solcher
völlig veralteter Anwendungshinweise, und was wird sie unternehmen,
um diesen Zustand der unzureichenden Information von Ausländerbehör-
den zu beenden?

e) Was genau haben die auf Bundestagsdrucksache 17/4623 in der Antwort
zu Frage 1 angekündigten Erörterungen im Rahmen der Ausländerrefe-
rentenbesprechung zum Toprak-Urteil bzw. darüber hinaus zur aktuellen
Rechtsprechung des EuGH zum Assoziationsrecht EU-Türkei ergeben?

f) Wie oft finden Ausländerreferentenbesprechungen mit welchen Teilneh-
menden zu welchen Themen statt, wann trifft sich diese Runde zu wel-
chen Themen das nächste Mal, was waren die wesentlichen Themen und
Ergebnisse der Besprechungen der Jahre 2009, 2010 und 2011?

g) Wieso wird in den Anwendungshinweisen des BMI zum Assoziations-
recht unter Nummer 2.2.2. bei der Bestimmung des Arbeitnehmerstatus
auf die Grenze der Sozialversicherungspflichtigkeit abgestellt, obwohl
sich dies nicht aus der Rechtsprechung des EuGH ableiten lässt und die
Bundesregierung selbst auf Bundestagsdrucksache 17/4623 in der Ant-
wort zu Frage 9 eine andere, der Rechtsprechung des EuGH entspre-
chende Antwort gibt (es ist leicht zu errechnen, dass z. B. eine Beschäfti-
gung mit 10 Wochenstunden bei niedriger Bezahlung keine Sozialversi-
cherungspflicht auslöst, diese nach der Rechtsprechung des EuGH aber
eindeutig als ausreichend angesehen werden kann – wenn weitere Bedin-
gungen erfüllt sind –, um einen Arbeitnehmerstatus im Sinne des Assozi-
ationsrechts zu begründen)?

4. Wie begründet die Bundesregierung ihre auf Bundestagsdrucksache 17/4623
in der Antwort zu Frage 1 geäußerte Auffassung, die Öffnungsklausel in § 4
Absatz 1 Satz 1 AufenthG würde – statt ausdrücklicher Gesetzesänderungen
– „mit Blick auf die kraft Europarechts unmittelbare Anwendbarkeit“ der
„assoziationsrechtlichen Vorschriften und ihre richterliche Auslegung durch
den EuGH“ genügen, um eine Anwendung der Rechtsprechung des EuGH
zum Assoziationsrecht sicherzustellen, und welche Erfahrungen aus der Be-
hörden- und Gerichtspraxis liegen ihr hierzu vor?

a) Wäre es angesichts der komplexen Rechtsprechung des EuGH zum Asso-
ziationsrecht, angesichts des erforderlichen Vergleichs der jeweiligen
Rechtsbestimmungen seit Inkrafttreten der Standstill-Klauseln bis heute
und angesichts der hieraus resultierenden umfangreichen Ausnahme-
bestimmungen für (assoziationsberechtigte) türkische Staatsangehörige
gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen nicht sinnvoll, diese Sonder-
regelungen aus Gründen der Klarheit, Einheitlichkeit und Effektivität des
Rechts in einem eigenen Gesetz oder in einem eigenen Kapitel im Auf-
enthaltsgesetz nachvollziehbar festzuschreiben, vergleichbar den Rege-
lungen zur EU-Freizügigkeit (bitte begründen, und falls die Bundesregie-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5539

rung darlegen sollte, dass dies angesichts zu erwartender weiterer Ent-
scheidungen des EuGH nicht sinnvoll sei, bei der Begründung bitte
berücksichtigen, dass dieser Einwand einer zu erwartenden gerichtlichen
Klärung offener Rechtsfragen für jedes Rechtsgebiet gilt)?

b) Inwieweit hält es die Bundesregierung umgekehrt für sinnvoll, die Rege-
lungen für Drittstaatsangehörige (mit Ausnahmen) dem Recht für türki-
sche Staatsangehörige anzupassen, da Letztere die größte Gruppe von
Migrantinnen und Migranten in Deutschland darstellen und Ungleich-
behandlungen unter Drittstaatsangehörigen und unübersichtliche Sonder-
regelungen vermieden werden sollten?

c) Inwieweit ist der Verzicht auf klare Gesetzesregelungen und der Verweis
der Bundesregierung auf die Öffnungsklausel in § 4 Absatz 1 Satz 1
AufenthG zur Sicherstellung der Anwendung verbindlichen Assozia-
tionsrechts und der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH zu
den Standstill-Klauseln, die eine vergleichende Betrachtung des Rechts
zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfordert, mit dem Gebot der Klarheit
von Normen vereinbar, wonach es allen Betroffenen möglich sein sollte,
sich ein eigenes Bild von ihrer Rechtslage machen zu können (vgl.
BVerfGE 110, 33 (53); NJW 2004, 221 und GG-Kommentar Grzeszick in
Maunz-Düring, Artikel 20 GG, Randnummer 50ff.)?

d) Inwieweit ist die Erhebung von Gebühren für eine Aufenthaltserlaubnis
nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AufenthG angesichts des Umstands, dass für
eine Freizügigkeitsbescheinigung für Unionsangehörige keine Gebühren
erhoben werden, vereinbar mit einerseits dem Verschlechterungsverbot
nach Artikel 13 ARB 1/80 (vgl. z. B. Sahin-Urteil), andererseits mit dem
Diskriminierungsverbot nach Artikel 9 des Assoziierungsabkommens
EWG-Türkei (bitte begründen)?

e) Inwieweit ist es mit dem Verschlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB
1/80 und dem Diskriminierungsverbot nach Artikel 9 des Assoziierungs-
abkommens EWG-Türkei vereinbar, eine (zumal gebührenpflichtige)
verlängerungsbedürftige Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Absatz 1 Satz 1
AufenthG zu fordern, obwohl es sich beim Aufenthaltsrecht infolge des
Assoziierungsabkommens EWG-Türkei um ein im Grundsatz unbefriste-
tes Aufenthaltsrecht handelt und für die Bescheinigung eines Aufent-
haltsrechts von Unionsangehörigen keine Gebühren erhoben werden (§ 2
Absatz 6 des Freizügigkeitsgesetzes/EU)?

5. Ist es zutreffend, dass der EuGH im Toprak-Urteil zu Rn. 46 das Vorbringen
der niederländischen Regierung, das Verschlechterungsverbot nach Artikel
13 ARB 1/80 gelte nicht für Rechte ausländischer Ehegatten in Bezug auf
Familienzusammenführung, zurückgewiesen hat (wenn nein, bitte begrün-
den)?

a) Wieso lässt sich vor diesem Hintergrund „den Ausführungen des EuGH
nach Auffassung der Bundesregierung nicht entnehmen“, dass es eine
Stillhalteverpflichtung in Bezug auf die Rechte von Familienangehörigen
bei der Familienzusammenführung gibt (Bundestagsdrucksache 17/4623,
Antwort zu Frage 8), zumal es auch in der von der Bundesregierung in
Bezug genommenen Rn. 45 des Toprak-Urteils heißt, dass die Stillhalte-
klausel nach Artikel 13 ARB 1/80 „gerade für die türkischen Staatsange-
hörigen gelten soll, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung
und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses
genießen“, und diese Formulierung gerade keinen Anhaltspunkt dafür
gibt, Familienangehörige, die nach dem eindeutigen Wortlaut des Artikels
13 ARB 1/80 dem Verschlechterungsverbot, das nach der Rechtspre-

Drucksache 17/5539 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

chung des EuGH auch für die erstmalige Aufnahme gilt, unterfallen, hier-
von auszunehmen (bitte ausführlich begründen)?

b) Wie begründet die Bundesregierung ihre in der Antwort zu Frage 1 auf
Bundestagsdrucksache 17/4623 geäußerte Auffassung, die Erhöhung der
Mindestehebestandszeit unterfalle dem Verschlechterungsverbot nach
Artikel 13 ARB 1/80 nur bei solchen nachgezogenen Ehegatten, die zum
Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft einer Er-
werbstätigkeit nachgegangen sind, obwohl der EuGH z. B. im Sahin-Ur-
teil vom 17. September 2009 eindeutig klargestellt hat, dass das Ver-
schlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80 Familienangehörige ein-
bezieht und dies ausdrücklich „nicht von der Ausübung einer Beschäfti-
gung abhängt“ (Rn. 51)?

c) Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, die Erhöhung der
Mindestehebestandszeit unterfalle dem Verschlechterungsverbot nach
Artikel 13 ARB 1/80 nur bei solchen nachgezogenen Ehegatten, die zum
Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft einer
Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, obwohl der EuGH z. B. im Sahin-
Urteil vom 17. September 2009 weiterhin klargestellt hat, dass das Ver-
schlechterungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80 „nicht auf türkische
Migranten beschränkt ist, die eine Beschäftigung als Arbeitnehmer aus-
üben“ (Rn. 50)?

d) Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, die Erhöhung der
Mindestehebestandszeit unterfalle dem Verschlechterungsverbot nach
Artikel 13 ARB 1/80 nur bei solchen nachgezogenen Ehegatten, die zum
Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft einer Er-
werbstätigkeit nachgegangen sind, obwohl alle Sachverständigen, die
sich in der Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages
vom 14. März 2011 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Bun-
destagsdrucksache 17/4401 zu dieser Frage geäußert haben, betonten,
dass das Verschlechterungsverbot für die Familienangehörigen nicht von
deren Beschäftigung abhängig sei?

Bitte alle Unterfragen – wie stets – getrennt und in Auseinandersetzung mit
der konkret benannten Rechtsprechung beantworten.

6. Wieso „sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, eine wertende Ge-
samtbilanz der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zu ziehen“ (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/4623 Antwort zu Frage 11), obwohl nach unbestrittenen
Angaben des Rechtsanwalts Ejder Köse (vgl. Internetportal migazin.de vom
17. Dezember 2010) von 39 Verfahren des EuGH im Zusammenhang mit
dem EWG-Türkei-Assoziierungsabkommen 38 zugunsten türkischer Staats-
bürger entschieden wurden, was stark darauf hindeutet, dass das Abkommen
durch die Mitgliedstaaten offenkundig von Beginn an viel zu restriktiv aus-
gelegt wurde und wird (denn sonst wäre es nicht zu so vielen entsprechen-
den Urteilen des EuGH im Sinne der Betroffenen gekommen, selbst wenn
die konkrete Zahl der Verfahrensausgänge leicht abweichend sein sollte)?

7. Wieso „sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, eine wertende Ge-
samtbilanz der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zu ziehen“ (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/4623, Antwort zu Frage 11), obwohl ihre Stellungnah-
men und Rechtsauffassungen in Verfahren um die Auslegung des Assozia-
tionsrechts vom EuGH regelmäßig zurückgewiesen werden (vgl. nur die Ur-
teile zu Toprak, Soysal, Abatay, Birden, Demirel, Urteil C-92/07 vom
29. April 2010 u. a.), was auf ein grundlegend verfehltes, zu restriktives Ver-
ständnis des EWG-Türkei-Assoziierungsrechts hindeuten könnte?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5539

8. Wieso legt die Bundesregierung – etwa im Rahmen von Verwaltungs- und
Anwendungshinweisen und in Bund-Länder-Besprechungen zur Sicher-
stellung einer effektiven Anwendung des Europarechts – das Assoziierungs-
recht angesichts ihrer Erfahrungen mit der Rechtsprechung des EuGH nicht
grundsätzlich oder im Zweifelsfall im Sinne der türkischen Betroffenen aus
– d. h. auch entsprechend des Ziels des Abkommens, den späteren Beitritt
der Türkei zur EU durch stetige Erweiterung der Niederlassungs-, Dienst-
leistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erleichtern –, auch um den
Eindruck zu vermeiden, die Bundesrepublik Deutschland müsse durch im-
mer wieder neue Urteile des EuGH zur Rechtstreue gegenüber türkischen
Staatsangehörigen gezwungen werden?

9. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass es im Sahin-Urteil
des EuGH vom 17. September 2009 gar nicht darum ging festzustellen, ob
die strittige Gebührenerhöhung in den Niederlanden eine „neue Beschrän-
kung“ im Sinne des Artikels 13 ARB 1/80 darstellte, weil das vorlegende
Gericht bereits festgestellt hatte, dass dies so ist (vgl. Rn. 45 und 66 des Ur-
teils), und wenn nein, bitte begründen?

a) Stimmt die Bundesregierung weiterhin der Auffassung zu, dass im Sa-
hin-Urteil festgestellt wurde, dass die Erhörung von Gebühren grund-
sätzlich einen Verstoß gegen Artikel 13 ARB 1/80 darstellen kann (dies
ergibt sich bereits aus dem Tenor des Urteils), und wenn nein, bitte be-
gründen?

b) Stimmt die Bundesregierung schließlich der Auffassung zu, dass es im
Sahin-Urteil also nur darum ging zu klären, inwieweit eine nach
Artikel 13 ARB 1/80 an sich unzulässige Verschlechterung der Gebüh-
renregelung in solchen Fallkonstellationen (ausnahmeweise) zulässig
sein kann, in denen es andernfalls zu einer günstigeren Position türki-
scher Staatsangehöriger im Vergleich zu Unionsangehörigen käme, was
gegen Artikel 59 des Zusatzprotokolls zum Abkommen verstoßen
würde (vgl. Rn. 67ff. des Sahin-Urteils, deutlicher noch im Urteil C-92/
07 vom 29. April 2010, Rn. 63), und wenn nein, bitte begründen?

c) Mit welcher Begründung bestreitet die Bundesregierung vor diesem
Hintergrund, dass die Erhöhung der Gebühren infolge der Einführung
des elektronischen Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige (vgl. Bun-
destagsdrucksache 17/4623, Antwort zu Frage 15) in Bezug auf assozia-
tionsberechtigte türkische Staatsangehörige einen Verstoß gegen Artikel
13 ARB 1/80 darstellt, da hiermit unstrittig neue Beschränkungen einge-
führt werden, die Unionsangehörige gar nicht betreffen – sondern nur
Drittstaatsangehörige –, so dass es erst gar nicht zu der im Sahin-Urteil
wegen des Artikels 59 des Zusatzprotokolls notwendig gewordenen Ab-
wägung kommt, ob die Erhöhung der Gebühren im Vergleich zu den
von Gemeinschaftsangehörigen unter gleichartigen Umständen verlang-
ten unverhältnismäßig ist?

Bitte – wie stets – alle Unterfragen getrennt beantworten.

10. Wie begründet die Bundesregierung – unabhängig von ihren vorherigen
Antworten zur Auslegung des Sahin-Urteils – ihre Behauptung auf Bun-
destagsdrucksache 17/4623 (Antwort zu Frage 15), wonach die Erhöhung
der Gebühren z. B. für die Erteilung einer mehr als einjährigen Aufent-
haltserlaubnis für türkische Staatsangehörige von 20,45 Euro im Jahr 1977
auf dann künftig bis zu 130 Euro als verhältnismäßig angesehen werden
könnte im Vergleich zu den für Unionsangehörige gebührenfrei erteilten
Freizügigkeitsbescheinigungen, obwohl die Differenz der Gebühren für
türkische Staatsangehörige bzw. Unionsangehörige mit 130 Euro ungefähr
so hoch wäre wie die vom EuGH als europarechtswidrig gerügten 139

Drucksache 17/5539 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Euro und obwohl der EuGH Argumente eines (angeblich) größeren Bear-
beitungsaufwands bzw. einer Kostendeckung der Gebühren zur Rechtferti-
gung höherer Gebühren im Zusammenhang der Standstill-Klausel eindeu-
tig und mehrfach zurückgewiesen hat (z. B. im Urteil C-92/07 vom
29. April 2010, Rn. 65f.)?

11. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an ihrer
Antwort zu Frage 15 auf Bundestagsdrucksache 17/4623 fest, die von tür-
kischen Staatsangehörigen verlangten Gebühren seien im Vergleich zu den
von Unionsangehörigen erhobenen Gebühren als verhältnismäßig anzuse-
hen, obwohl der EuGH in seinem Urteil C-92/07 vom 29. April 2010 in
Rn. 75 den Begriff „Unverhältnismäßigkeit“ insofern klarer definiert hat,
als dass bereits Gebühren, die „um mehr als zwei Drittel“ über „den von
Unionsangehörigen für die Ausstellung entsprechender Dokumente ver-
langten Gebühren“ liegen, unverhältnismäßig seien, da ein solcher Unter-
schied „nicht als gering betrachtet werden“ könne und zudem eine Verhält-
nismäßigkeit lediglich „etwas“ höherer Gebühren (im Vergleich zu Unions-
angehörigen) nur „in bestimmten Sonderfällen“ gegeben sein könne, und
inwieweit berücksichtigt die Bundesregierung dabei, dass ein Aufenthalts-
recht infolge des Assoziationsrechts vergleichbar dem Freizügigkeitsrecht
zunächst unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder
einer formellen Bescheinigung hierüber besteht?

12. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an ihrer
Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundestags-
drucksache 17/413 fest, angesichts des Umstands, dass das von ihr dort
vorgebrachte Argument, in den Niederlanden sei eine Gebühr neu einge-
führt worden während in Deutschland die Gebühren lediglich („moderat“)
erhöht worden seien, im Hinblick auf das vom EuGH bekräftigte absolute
Verbot jeglicher neuer Beschränkungen offenkundig unzulässig ist (im
EuGH-Urteil vom 9. Dezember 2010 wird zu Rn. 54 klargestellt, dass das
Verschlechterungsverbot des Artikels 13 ARB 1/80 sich „auf sämtliche
neuen Hindernisse für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit er-
streckt“, es mithin egal ist, ob eine Gebühr neu erhoben oder eine beste-
hende Gebühr erhöht wird)?

(Wiederholung der Frage 15b, die auf Bundestagsdrucksache 17/4623 nicht
konkret beantwortet wurde; insbesondere kann der Hinweis auf die Bun-
destagsdrucksache 17/413 keine Antwort auf die gestellte Frage bieten)?

13. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an ihrer
Antwort zu Frage 35 auf Bundestagsdrucksache 17/2816 (auf die sie auf
Bundestagsdrucksache 17/4623 zu Frage 15 erneut Bezug genommen hat)
fest, angesichts des Umstands, dass der EuGH im Soysal-Urteil eindeutig
bestimmt hat, dass die von der Europäischen Gemeinschaft geschlossenen
völkerrechtlichen Übereinkommen Vorrang vor den Rechtsakten des abge-
leiteten Gemeinschaftsrechts haben, so dass das Verschlechterungsverbot
des Artikels 13 ARB 1/80 nicht mit der Begründung außer Kraft gesetzt
werden kann, die Erhöhung von Gebühren sei eine Folge des entsprechend
einer EU-Verordnung einzuführenden neuen (elektronischen) Aufenthalts-
titels – zumal (dies jedoch nur am Rande) in der Verordnung (EG) Nr. 380/
2008 vom 18. April 2008 keine Vorgaben zur Gebührenhöhe gemacht wer-
den?

14. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung an ihrer
Auffassung fest, die in Deutschland seit 1980 erheblich gestiegenen und
weiter steigenden Gebühren für Aufenthaltserlaubnisse seien mit dem As-
soziationsrecht EWG-Türkei vereinbar, obwohl der EuGH z. B. im Urteil
C-92/07 vom 29. April 2010 in einem vergleichbaren Fall nicht nur einen
Verstoß gegen Artikel 13 ARB 1/80 geprüft (und festgestellt) hat, sondern

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/5539

– entgegen des anders lautenden Vorbringens der Bundesrepublik Deutsch-
land – bei türkischen Staatsangehörigen bzw. Arbeitnehmern und ihren Fa-
milienangehörigen auch einen Verstoß gegen die Diskriminierungsverbote
nach Artikel 10 ARB 1/80 bzw. Artikel 9 des Assoziierungsabkommens als
gegeben ansah, weil der Unterschied zu den Gebühren, die für Unionsange-
hörige erhoben wurden, nicht „gering“ war (vgl. Rn. 42f. und 75f. des Ur-
teils)?

15. Was folgt nach Ansicht der Bundesregierung grundsätzlich und was folgt
im Konkreten aus der Klarstellung des EuGH im Urteil C-92/07 vom
29. April 2010 (Rn. 67ff.), dass die allgemeinen Diskriminierungsverbote
aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Artikel 9 des Assoziierungs-
abkommens bzw. nach Artikel 10 ARB 1/80 grundsätzlich eine Gleich-
behandlung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit
Unionsangehörigen in den Bereichen Freizügigkeit, Niederlassungs- und
Dienstleistungsfreiheit fordern, etwa in Bezug auf Beschränkungen beim
Ehegattennachzug, Verpflichtungen zur Integrationskursteilnahme usw.,
die für Unionsangehörige nicht gelten?

16. Inwieweit ist die Anforderung des § 9 Absatz 2 Nummer 7 AufenthG nach
„ausreichenden Kenntnissen der deutschen Sprache“, was nach Entwürfen
eines zweiten EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes als dem Niveau B1 GER
entsprechend definiert werden soll, für die Erteilung einer Niederlassungs-
erlaubnis bei türkischen Staatsangehörigen vereinbar mit dem Verschlech-
terungsverbot nach Artikel 13 ARB 1/80, da § 24 Absatz 1 Nummer 4 des
bis 2005 gültigen Aufenthaltsgesetzes für die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis (die nach § 101 Absatz 1 AufenthG als Niederlas-
sungserlaubnis fortgalt) lediglich eine mündliche Verständigung auf einfa-
che Art in deutscher Sprache verlangte (bitte ausführlich begründet darle-
gen)?

17. Inwieweit und mit welcher Begründung hält die Bundesregierung die seit
2005 bestehende Möglichkeit zur Verpflichtung zu einer Integrationskurs-
teilnahme mit dem Verschlechterungsverbot des Artikels 13 ARB 1/80 im
Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH für vereinbar (verneinend:
HK-AuslR Oberhäuser zu 3.1. ARB1/80, Artikel 13, Rn. 13; Gutmann,
GK-AufenthG IX-1, Artikel 13 Rn. 61 m. w. N.), und inwieweit ist diese
Möglichkeit zur Verpflichtung mit den Diskriminierungsverboten nach Ar-
tikel 9 des Assoziierungsabkommens bzw. nach Artikel 10 ARB 1/80 ver-
einbar, die grundsätzlich eine Gleichbehandlung von assoziationsberech-
tigten türkischen Staatsangehörigen und Unionsangehörigen verlangen
(vgl. Urteil C-92/07 vom 29. April 2010)?

18. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von einem Urteil des Verwal-
tungsgerichts Rotterdam vom 12. August 2010, wonach türkische Staatsan-
gehörige nicht zur Integrationskursteilnahme verpflichtet werden können,
weil dies ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Gründen der
Staatsangehörigkeit nach Artikel 9 des Assoziierungsabkommens sei?

19. Inwieweit und mit welcher Begründung ist das von der früheren Bundesre-
gierung zur (umstrittenen) Anwendung des Soysal-Urteils lediglich auf Be-
reiche der aktiven Dienstleistungserbringung vorgebrachte Argument, der
gemeinschaftsrechtlich geprägte Begriff der Dienstleistungsfreiheit sei
nicht ohne weiteres in den assoziationsrechtlichen Zusammenhang über-
tragbar (vgl. Bundestagsdrucksache 16/13327 Antwort der Bundesregie-
rung zu Frage 1), nach Ansicht der jetzigen Bundesregierung aufrecht zu
erhalten, nachdem der EuGH im Urteil C-92/07 vom 29. April 2010 zu der
Rn. 66ff. das Argument der Niederlande zurückgewiesen hat, „das grundle-
gende Ziel der Europäischen Union, einen Binnenmarkt einzurichten, die
Unionsbürgerschaft einzuführen und die Freizügigkeit der Bürger inner-

Drucksache 17/5539 – 10 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

halb der Union zu gewährleisten, könne nicht ‚unbegrenzt‘ auf türkische
Staatsangehörige angewandt werden“ und unterschiedliche Gebühren für
die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen könnten deshalb nicht damit ge-
rechtfertigt werden, „dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlas-
sungs- oder die Dienstleistungsfreiheit in der Union den türkischen Staats-
angehörigen nicht ebenso umfassend zugute kämen wie den Unionsbür-
gern“ (a. a. O., Rn. 70) – unter Berücksichtigung des Umstands, dass der
EuGH im besagten Urteil Verstöße gegen die Verschlechterungsverbote zu-
gleich als nach dem Assoziationsrecht unzulässige Diskriminierungen be-
wertet hat und der EuGH in ständiger Rechtsprechung (seit dem Sahin-Ur-
teil, Rn. 65) befindet, dass die Stillhalteverpflichtungen des Artikels 41
Absatz 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen bzw. des Artikels 13 ARB
1/80 „gleichartig sind“ und „dasselbe Ziel verfolgen“ und deshalb Ausle-
gungen durch den EuGH der einen Klausel auf die jeweils andere übertrag-
bar sind (vgl. z. B. Urteil C-92/07 vom 29. April 2010, Rn. 49, Toprak-Ur-
teil, Rn. 54)?

20. Auf welche konkreten Urteile oder Beschlüsse des Berliner Verwaltungs-
gerichts bezieht sich die Bundesregierung (bitte mit Aktenzeichen und kur-
zer Inhaltsangabe benennen; der auf der Bundestagsdrucksache 16/13327
in der Antwort zu Frage 1 von der Bundesregierung benannte Beschluss
– VG 34 L 114.09 V – ist der Fragestellerin bekannt), wenn sie in der Ant-
wort auf die Schriftliche Frage 11 auf Bundestagsdrucksache 17/5121 der
Abgeordneten Aydan Özog˘uz behauptet, ihre Rechtsauffassung zur Be-
grenzung der Auswirkungen des Soysal-Urteils auf die aktive Dienstleis-
tungserbringung sei „in mehreren Entscheidungen des Verwaltungsgerichts
Berlin bestätigt“ worden, da als einzige Entscheidung bei einer entspre-
chenden Suche in Rechtsprechungsdatenbanken mit den Stichworten „So-
ysal“ und „VG Berlin“ der Beschluss VG 19 V 61/08 vom 25. Februar
2009 benannt wird und dieser Beschluss der Rechtsauffassung der Bundes-
regierung eher widerspricht, da es dort ausdrücklich heißt, dass nach Auf-
fassung der Kammer „vieles dafür“ spricht, „dass neben der Freiheit des
Dienstleistungserbringers […] auch die passive Dienstleistungsfreiheit
[…] von Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls erfasst ist (ebenso: VG
Darmstadt […], Dienelt […], Funke-Kaiser […], Welte […], Weh […],
Gutmann […], wohl auch: VGH Bad.-Württemberg […])“ (Seite 3 der Be-
gründung), und die Ablehnung des Gerichts sich darauf bezog, dass es
nach Ansicht des Gerichts nicht um einen „touristischen Aufenthalt“, son-
dern um einen „Besuchsaufenthalt bei Verwandten“ gegangen sei?

21. Inwieweit berücksichtigt die Bundesregierung bei Ihrer Bezugnahme auf
Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin, dass das Oberverwal-
tungsgericht Berlin-Brandenburg mit dem Beschluss 12 M 25.09 vom
6. Oktober 2009 den oben genannten Beschluss VG 19 V 61/08 insofern
abgeändert hat, als dass Prozesskostenhilfe gewährt wurde, weil der Antrag
des türkischen Staatsangehörigen auf visumfreie Einreise hinreichende
Aussicht auf Erfolg biete und die Frage, ob und unter welchen Vorausset-
zungen türkische Staatsangehörige für Besuchszwecke oder als Touristen
vor dem Hintergrund der Stillhalteklauseln ein Visum benötigen oder nicht,
offen und nicht ohne weiteres zu beantworten sei?

a) Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass das für Visumver-
fahren in Deutschland maßgeblich zuständige Oberverwaltungsgericht
damit die Frage, ob türkischen Staatsangehörigen eine visumfreie Ein-
reise zu touristischen oder Besuchszwecken möglich ist oder nicht, für
offen hält (wenn nein, bitte in Auseinandersetzung mit dem genannten
Beschluss begründen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 11 – Drucksache 17/5539

b) Wenn ja, welche Konsequenzen folgen hieraus in Bezug auf die Frage
der Verhältnismäßigkeit und Zulässigkeit von freiheitsbeschränkenden
Maßnahmen oder Strafverfahren (bitte beide Aspekte getrennt beant-
worten) im Zusammenhang mit der Einreise und strittigen Visumpflicht
türkischer Staatsangehöriger?

c) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von obergerichtlichen Ent-
scheidungen zur konkreten Umsetzung des Soysal-Urteils?

22. Wird sich die Bundesregierung zur Begründung ihrer Rechtsauffassung,
eine Visumfreiheit bestünde nur im Rahmen der aktiven Dienstleistungs-
freiheit, auch weiterhin pauschal auf „Entscheidungen des Verwaltungs-
gerichts Berlin“ berufen, und wenn ja, wie begründet sie das in Auseinan-
dersetzung mit dem zuvor Ausgeführten?

23. Inwieweit teilt die Bundesregierung das von der vorherigen Bundesregierung
auf Bundestagsdrucksache 16/13327 in der Antwort zu Frage 1 verwandte
Argument (ähnlich auch das Verwaltungsgericht Berlin 34 L 114.09 V),
dass die „maßgebliche Belastungswirkung der Visumpflicht“ vom EuGH im
Soysal-Urteil mit dem „zusätzlichen und wiederholten Verwaltungs- und
finanziellen Aufwand“ begründet worden und die „Belastungswirkung der
Visumpflicht für Personen, die Deutschland etwa zu touristischen Zwecken
aufsuchen, […] nicht mehr derjenigen der Kläger im [Soysal-Verfahren]
vergleichbar“ sei (diese waren Fernkraftfahrer mit regelmäßigen Grenzüber-
schreitungen), vor dem Hintergrund, dass der EuGH in der von der vorheri-
gen Bundesregierung in Bezug genommenen Rn. 55 des Soysal-Urteils
nicht nur auf einen erhöhten Aufwand infolge der Visumbeantragung ab-
stellt (allerdings unabhängig von der Häufigkeit der Grenzübertritte), son-
dern als (verbotene) Beeinträchtigung der Ausübung der Dienstleistungs-
freiheit insbesondere auch die Versagung eines Visums benennt, wodurch
die Ausübung dieser Freiheit gänzlich verhindert wird (bitte begründen)?

24. Inwieweit teilt die Bundesregierung die (auch vom Amtsgericht Hannover
im Urteil vom 7. Januar 2011 – 285 Ds 7911 Js 100048/19 – dargelegte)
Auffassung, dass eine Einreise türkischer Staatsangehöriger zu touristi-
schen Zwecken jedenfalls nicht strafbar sei, da von einem rechts- und
sprachunkundigen türkischen Staatsangehörigen nicht verlangt werden
könne, dass er die mögliche Strafbarkeit seines Tuns erkennt oder erkennen
musste, wenn die Frage der visumfreien Einreise schon von deutschen
Juristen unterschiedlich beantwortet werde – dahingestellt sein lassend, ob
ein Tatbestands- oder ein Verbotsirrtum vorlag (bitte begründen)?

25. Inwieweit und in welchen Punkten vertritt das Bundesministerium der Justiz
mit welchen Argumenten bei der Frage der Reichweite bzw. notwendiger
Folgeänderungen aufgrund der Standstill-Klauseln des Assoziierungsrechts
EWG-Türkei insbesondere nach dem Toprak-Urteil eine andere Auffassung
als das Bundesministerium des Innern?

Berlin, den 12. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.