BT-Drucksache 17/5537

Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziierungsabkommen der Eropäischen Union mit der Türkei auf das Aufenthaltsrecht - Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/4623 -

Vom 12. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5537
17. Wahlperiode 12. 04. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Petra Pau
und der Fraktion DIE LINKE.

Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
zum Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei
auf das Aufenthaltsrecht
– Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/4623 –

Aus Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes ergibt sich das Frage- und Informa-
tionsrecht des Deutschen Bundestages, an dem auch die einzelnen Abgeordne-
ten und die Fraktionen teilhaben. Diesem Frage- und Informationsrecht korres-
pondiert eine entsprechende Antwortpflicht der Bundesregierung (BVerfGE 13,
123, ständige Rechtsprechung). Wie der Sächsische Verfassungsgerichtshof in
seinem Beschluss vom 5. November 2009 – Vf. 133-I-08 ausführt, „verfügt [die
Regierung] über Mittel für eine umfassende Sammlung, Sichtung und Aufberei-
tung der für die Bewältigung der Staatsaufgaben erforderlichen Informationen.
Das Fragerecht soll den Abgeordneten die Teilhabe an diesen Informationen er-
möglichen (SächsVerfGH, Beschluss vom 18. Oktober 2001 – Vf. 29-I-01).“
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Beschluss vom 1. Juli
2009 – 2 BvE 5/06 festgestellt, dass „alle Informationen mitzuteilen [sind], über
die die Bundesregierung verfügt oder die sie mit zumutbarem Aufwand in Er-
fahrung bringen kann“. Der Aufwand, der bei der Beantwortung entsteht, darf
nicht unverhältnismäßig groß sein, jedoch kann er durchaus bis zu einer Woche
Arbeitszeit in Anspruch nehmen (Lennartz/Kiefer, DÖV 2006, S. 192). Das
BVerfG hat in dem zitierten Beschluss der Bundesregierung im Rahmen des Zu-
mutbaren sogar Rekonstruktionspflichten hinsichtlich länger zurückliegender
Vorgänge auferlegt. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die Kapazitäten ein-
zurichten, um diese Informationen bereitzustellen (Lennartz/Kiefer, DÖV 2006,
S. 192; so auch der VerfGH NW, Urteil vom 4. Oktober 1993 – 15/92). Ist es ihr
unmöglich, eine Kleine Anfrage innerhalb der in der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages vorgesehenen Frist zu beantworten, kann sie auf eine Fristver-
längerung hinwirken (BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 2009 – 2 BvE 5/06).

In der Bundestagsdrucksache 17/4623 verweist die Bundesregierung in ihrer
Antwort zu den Fragen 3, 5, 7, 11 und 19 der Kleinen Anfrage der Fraktion
DIE LINKE. anstelle einer ausführlichen Antwort auf allgemein zugängliche
Quellen.
Zwar halten es einige Landesverfassungsgerichte grundsätzlich für zulässig,
wenn die Regierung in geeigneten Fällen auf öffentlich zugängliche Quellen
verweist, „besonders auf Untersuchungen und Erörterungen im Parlament sowie
auf frühere Antworten zu parlamentarischen Anfragen“ (BayVerfGH, Entschei-
dung vom 26. Juli 2006 – Vf. 11-IVa-05; vgl. auch VerfGH NW, Urteil vom
4. Oktober 1993 – 15/92). Zum einen betont der Bayerische Verfassungsgerichts-

Drucksache 17/5537 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

hof dabei aber, dass es gegebenenfalls den Anfragenden obliegt nachzufragen,
wenn eine Antwort nicht ausreichend erscheint. Zum anderen wird aus der Auf-
zählung deutlich, dass die Bundesregierung auf konkrete Quellen hinweisen
muss. Der Verweis auf Datenbanken, Bibliotheken etc. ist zu unbestimmt. Auch
Lennartz und Kiefer verlangen beim Verweis auf öffentlich zugängliche Quel-
len, dass die Bundesregierung einen präzisen Fundstellennachweis nennt
(DÖV 2006, S 194).

In den von der Bundesregierung aufgeführten Quellen sind die gesuchten Infor-
mationen nicht ohne erheblichen Aufwand zu finden (vgl. Vogelsang, ZRP
1988, 5, 8, der verlangt, dass die Fragen ohne weiteres aus allgemein zugängli-
chen Quellen – wie Zeitungsberichten – beantwortet werden können müssen).
In der Datenbank Juris sind die entsprechenden – auch die außer Kraft getrete-
nen – Gesetze zwar auffindbar und mit einer Änderungshistorie versehen. Da es
hier aber um eine Vielzahl von Gesetzen, einschlägigen Paragraphen und Än-
derungen geht, sind diese Änderungen nur unter großem Aufwand nachvoll-
ziehbar. Des Weiteren ist Juris im Gegensatz zum Bundesgesetzblatt keine der
Allgemeinheit zugängliche Quelle. Für interessierte Bürgerinnen und Bürger ist
die Informationsbeschaffung anhand des Bundesgesetzblattes, das nicht über
eine Änderungshistorie verfügt, noch aufwändiger als für die Abgeordneten,
die auf Juris zurückgreifen können. In der repräsentativen Demokratie dient das
parlamentarische Frage- und Informationsrecht aber gerade auch dazu, die Bür-
gerinnen und Bürger zu informieren und ihnen so die Teilnahme am demokra-
tischen Entscheidungsprozess zu ermöglichen (Teubner, Parlamentarische In-
formationsrechte, S. 41; vgl. auch BVerfG Teilurteil vom 5. August 1966 –
1 BvR 586/62 u. a. zur Presse als Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen
dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung). Durch
das Fragerecht wird eine öffentliche Aussprache gewährleistet, es ist Teil des
politischen Diskurses (ThürVerfGH, Urteil vom 4. April 2003 – 8/02; Brenner,
Reichweite und Grenzen des parlamentarischen Fragerechts, S. 17). Dass
Kleine Anfragen auch für die Öffentlichkeit bestimmt sind, wird ferner daran
deutlich, dass sie in Form von Drucksachen allgemein zugänglich sind.

Es kommt hinzu, dass die Fragen auf Bundestagsdrucksache 17/4623 sich nicht
nur auf die jeweilige Gesetzeslage bezogen, sondern umfassender auf „aufent-
halts- oder arbeitsrechtliche Bestimmungen“ bzw. die „jeweilige Rechtslage (auf
gesetzlicher und untergesetzlicher Ebene)“. Die Berücksichtigung von – nicht
ohne weiteres öffentlich zugänglichen – Verwaltungsvorschriften und in der
Praxis geübten (vorläufigen) Anwendungshinweisen und Rundschreiben der
Vergangenheit ist deshalb erforderlich, weil nach der Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofs (EuGH) alle neuen materiell- und/oder verfahrensrecht-
lichen Beschränkungen im Rahmen der assoziationsrechtlichen Standstill-Klau-
seln verboten sind.

Schließlich ergibt sich vorliegend eine Antwortpflicht der Bundesregierung aus
dem Umstand, dass die Bundesregierung sowieso angehalten ist, einen Güns-
tigkeitsvergleich anzustellen und die Ausländerbehörden darüber in Kenntnis
zu setzen, um das Unionsrecht effektiv umsetzen zu können (Artikel 4 Absatz 3
des Vertrages über die Europäische Union – EUV). Dann kann und muss sie
aber auch die Fragestellerin darüber informieren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen, von denen tür-
kische Staatsangehörige betroffen waren bzw. sind, wurden nach dem 1. De-
zember 1980 in Deutschland in der Weise verschärft, dass eine nach dem
1. Dezember 1980 erfolgte Erleichterung wieder zurückgenommen wurde;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5537

bitte differenzieren nach:

a) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis,

b) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis,

c) Rücknahme von Erleichterungen beim Familiennachzug,

d) Rücknahme von Erleichterungen bei der Visumvergabe,

e) Rücknahme von Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang,

f) Rücknahme von Gebührenerleichterungen für eine Aufenthalts- oder
Arbeitserlaubnis,

g) sonstige Rücknahmen von aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Erleichte-
rungen?

2. Welche aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Bestimmungen, von denen tür-
kische Staatsangehörige betroffen waren bzw. sind, wurden zwischen dem
1. Dezember 1976 und dem 1. Dezember 1980 in der Weise verschärft, dass
eine nach dem 1. Dezember 1976 erfolgte Erleichterung wieder zurückge-
nommen wurde;

bitte differenzieren nach:

a) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis,

b) Rücknahme von Erleichterungen für die Erteilung einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis,

c) Rücknahme von Erleichterungen beim Familiennachzug,

d) Rücknahme von Erleichterungen bei der Visumvergabe,

e) Rücknahme von Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang,

f) Rücknahme von Gebührenerleichterungen für eine Aufenthalts- oder
Arbeitserlaubnis,

g) sonstige Rücknahmen von aufenthalts- oder arbeitsrechtlichen Erleichte-
rungen?

3. Wie war die jeweilige Rechtslage (auf gesetzlicher und untergesetzlicher
Ebene, bitte jeweils auch konkrete Rechtsgrundlagen benennen) in Deutsch-
land gegenüber türkischen Staatsangehörigen zu den Daten 1. Dezember
1976, 1. Dezember 1980, 1. Januar 1991, 1. Januar 2005 und aktuell in Be-
zug auf

a) die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis,

b) die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis,

c) die Gewährung des Familiennachzugs (Ehegatten/Kinder),

d) die Erteilung eines Visums zu Besuchs- bzw. touristischen Zwecken,

e) die Erteilung eines Arbeitsmarktzugangs/einer Arbeitserlaubnis,

f) die Gebühren für die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthalts-
bzw. einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis?

4. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, dass bis Ende 2010 ins-
gesamt 39 Verfahren im Zusammenhang mit dem Assoziationsabkommen
vor dem EuGH geführt und davon 38 zugunsten türkischer Staatsangehöriger
entschieden wurden, wie Ejder Köse, Rechtsanwalt in dem Verfahren C-300/
301/09 dem Internetportal migazin.de (vom 17. Dezember 2010) berichtete,

und wenn nein, wie verhält es sich nach der Auffassung der Bundesregierung
(bitte im Detail darlegen)?

Drucksache 17/5537 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
a) Wie bewertet die Bundesregierung diese eindeutige Bilanz (bitte auch be-
antworten, wenn sie sich nicht exakt aber in der Tendenz wie in der Aus-
gangsfrage darstellt)?

b) Wie ist die Bilanz bei Verfahren türkischer Staatsangehöriger vor dem
EuGH in Bezug auf das Assoziationsabkommen, die gegen die Bundes-
republik Deutschland gerichtet waren (Verfahren bitte im Detail auffüh-
ren), und in wie vielen bzw. welchen Verfahren, in denen sie nicht direkt
Beteiligte war, hatte die Bundesregierung Erklärungen abgegeben, und
welche bzw. wie viele hiervon wurden vom EuGH geteilt bzw. zurück-
gewiesen?

c) Ist die oben geschilderte Rechtsprechungsbilanz in Bezug auf das Asso-
ziationsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei nach Ansicht
der Bundesregierung ein Ausdruck dafür, dass die sich aus dem Assozia-
tionsabkommen ergebenden Rechte für türkische Staatsangehörige von
den Mitgliedstaaten der EU nur sehr zögerlich, unzureichend oder un-
willig gewährt werden (bitte begründen)?

5. Welche Kenntnisse zur Rechtsprechung in Deutschland (bitte möglichst kon-
kret mit Angabe von Urteilsaktenzeichen usw. beantworten) hat die Bundes-
regierung in Bezug auf die Umsetzung und Berücksichtigung

a) des Soysal-Urteils des EuGH vom 19. Februar 2009 zur Visumpflicht,

b) des Sahin-Urteils des EuGH vom 17. September 2009 zu Gebühren für
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis,

c) des Urteils C-92/07 des EuGH vom 29. April 2010 zur Anwendung der
Stillstands-Klausel auf Gebühren auch bei der erstmaligen Aufnahme in
einen Mitgliedstaat der EU,

d) des Toprak-Urteils des EuGH vom 9. Dezember 2010 zur dynamischen
Anwendung der Standstill-Klauseln,

und wie bewertet sie diese, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hier-
aus?

Berlin, den 12. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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