BT-Drucksache 17/5523

Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen stärken

Vom 12. April 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5523
17. Wahlperiode 12. 04. 2011

Antrag
der Abgeordneten Raju Sharma, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Ulla Jelpke,
Petra Pau, Jens Petermann, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg
und der Fraktion DIE LINKE.

Grundrechte der Beschäftigten von Kirchen und kirchlichen Einrichtungen
stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland und ihre Wohlfahrtsver-
bände sind ein tragender Pfeiler des Sozial- und Gesundheitssektors in
Deutschland. Kirchliche Krankenhäuser, Kindergärten, Einrichtungen der
Jugendhilfe, der Pflege für alte Menschen und Menschen mit Behinderung so-
wie Jugend- und Altenheime tragen durch ihr soziales Engagement im Dienste
am Nächsten maßgeblich zur dezentralen Grundversorgung der Bevölkerung
im Bereich Pflege, Gesundheit und Soziales bei. Mit insgesamt ca.
1,3 Millionen Beschäftigten sind die christlichen Kirchen und ihre sozialen
Einrichtungen die größten Arbeitgeber in Deutschland.

Seit einigen Jahren schließen sich jedoch immer mehr Träger sozialer Einrich-
tungen im Bereich der Diakonischen Werke und des Deutschen Caritasverban-
des zu Großeinrichtungen mit tausenden Beschäftigten zusammen. Sie verste-
hen sich als Unternehmen der Sozialbranche und agieren als Wettbewerber auf
einem Konkurrenzmarkt. Sie streben Wachstum und beherrschende Markt-
anteile an. Die Rechtsform solcher Träger ist in zunehmender Zahl die von Ka-
pitalgesellschaften. Sie haben sich zu Interessenverbänden wie dem Verband
diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) oder der Arbeitsgemein-
schaft caritativer Unternehmen (AcU) zusammengeschlossen. Der VdDD ist
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beigetreten
und Mitglied in dessen Vorstand. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie
und Caritas haben sich von der Bindung an die Tarife des öffentlichen Dienstes
gelöst und Vergütungsordnungen beschlossen, die von diesen Tarifen unabhän-
gig sind. Die neuen Vergütungsordnungen sollen Wettbewerbsvorteile erzielen,
indem das Vergütungsniveau abgesenkt wird. Infolge dessen liegt das Vergü-
tungsniveau in der Diakonie inzwischen deutlich unter dem Niveau des Tarif-
vertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) oder des Tarifvertrages für den So-
zial- und Erziehungsdienst. Im Protokoll der Kirchenkonferenz der Evangeli-
schen Kirche in Deutschland (EKD) vom 30. Juni 2005 ist festgehalten, dass
die EKD und die Diakonie den Wechsel vom Bundes-Angestelltentarifvertrag
zum TVöD dazu nutzen solle, ein eigenständiges Tarifsystem zu entwickeln,
dass im Gesamtergebnis 5 Prozent unter dem des TVöD bleiben soll. Noch
weiter gehende Kostensenkungen streben kirchliche Einrichtungen durch Aus-
gründungen von Betriebsteilen an, durch niedrig bezahlte Leiharbeit, durch be-
triebliche Gehaltsabsenkungen und andere Formen der Personalkostenreduk-
tion zu Lasten der Beschäftigten.

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Ungeachtet des ökonomischen Wandels im Sozial- und Gesundheitssektor und
der veränderten Stellung der Einrichtungen und Träger der konfessionellen
Wohlfahrtsverbände werden die Beschäftigten von Kirchen und sonstigen Reli-
gionsgesellschaften, deren karitativen und erzieherischen Einrichtungen sowie
konfessionellen Wohlfahrtsverbänden bislang nur sehr eingeschränkt vom kol-
lektiven und individuellen Arbeitsrecht erfasst: Betriebliche Mitbestimmungs-
rechte, das Recht zur Bildung arbeitsrechtlicher Koalitionen (Gewerkschaften)
und das Tarifvertragsrecht gelten lediglich eingeschränkt, das durch Artikel 9
Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) grundrechtlich gewährleistete Recht des Ar-
beitskampfs (Streik) soll nach der überwiegenden Rechtsprechung ebenfalls
nur beschränkt zur Anwendung kommen. Beschäftigten der Kirchen, kirchli-
chen Einrichtungen und konfessionellen Wohlfahrtsträger kann unter Berufung
auf weitreichende Loyalitätsobliegenheiten, die sich auch auf ihr außerdienstli-
ches Verhalten erstrecken sollen, einfacher als im öffentlichen Dienst und in
privaten Unternehmen gekündigt werden. Dies soll nicht nur für den verkün-
dungsnahen Bereich – also bei Priestern, Pastorinnen und Pastoren, Pfarrerin-
nen und Pfarrern sowie anderen Beschäftigten, die unmittelbar im Bereich der
Vermittlung, Verkündung oder praktischen Umsetzung einer Religion tätig sind
– gelten, sondern auch für Tätigkeitsfelder, in denen kirchliche Einrichtungen
im Wettbewerb mit anderen Anbietern stehen. Die noch über den Tendenz-
schutz, der (auch gewinnorientierten) Betrieben mit geistig-ideeller Ausrich-
tung größere Handlungsspielräume eröffnet, hinausgehende Privilegierung der
Kirchen führt zu einer Wettbewerbsverzerrung auf dem Rücken der Beschäftig-
ten. Wollen sie ihre individuellen Rechtsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis
gerichtlich durchsetzen, führt der Rechtsweg zunächst über Kirchenarbeits-
gerichte, bevor sie die staatliche Gerichtsbarkeit in Anspruch nehmen können
(BGH NJW 2003, 2097). Alles in allem sind die Beschäftigten von Kirchen
und sonstigen Religionsgesellschaften sowie deren karitativen und erzieheri-
schen Einrichtungen damit Beschäftigte zweiter Klasse.

Gerechtfertigt werden die strukturellen Benachteiligungen von Beschäftigten
der Kirchen und sonstigen Religionsgesellschaften gegenüber Beschäftigten
der öffentlichen Hand und privater Unternehmen von kirchlicher Seite und Tei-
len der Judikatur regelmäßig mit den sogenannten Kirchenartikeln der Weima-
rer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 (Artikel 136 bis 139 und
141 WRV), die durch Artikel 140 GG in das Grundgesetz aufgenommen wur-
den. Namentlich Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV sichere
kirchlichen Arbeitgebern ein Selbstbestimmungsrecht darüber, was zu den ei-
genen Angelegenheiten gehöre, ohne dass es dafür letztlich auf kollidierende
Grundrechte der kirchlichen Beschäftigten ankäme. Dieses Verständnis der ver-
fassungsrechtlichen Grundlagen des Verhältnisses des Staates zu den Kirchen
verkennt indes sowohl die völkerrechtlichen Vorgaben als auch die gegenüber
denen der Weimarer Reichsverfassung veränderten gesellschaftlichen und
rechtlichen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland der Gegen-
wart. Im Hinblick auf Artikel 1 Absatz 2 GG hat auch die Auslegung der
„Kirchenartikel“ menschenrechtsfreundlich zu erfolgen. Maßgebliche Bedeu-
tung kommt insofern Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention
(EMRK) zu: Im September 2010 hat der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte (EGMR) (Urteil vom 23. September 2010, Beschwerde-Nr. 1620/
03) die Kündigung eines als Organist und Chorleiter tätigen Angestellten der
katholischen Kirche für unrechtmäßig erklärt, weil sein kirchlicher Arbeitgeber
bei seiner Kündigung wegen „Ehebruchs“ und „Bigamie“ gegen das Recht auf
Achtung des Privat- und Familienlebens aus Artikel 8 EMRK verstoßen habe.
Ungeachtet des Verstoßes gegen die Grundordnung der katholischen Kirche für
den kirchlichen Dienst hätten die Arbeitsgerichte nicht sorgfältig genug
zwischen den Rechten des Beschwerdeführers aus Artikel 8 EMRK und dem
Selbstbestimmungsrecht des kirchlichen Arbeitgebers aus Artikel 140 GG

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5523

i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV abgewogen. Bereits im Lichte dieses men-
schenrechtlichen Schutzstandards der Rechte der Beschäftigten der Kirchen,
kirchlichen Einrichtungen und sonstigen Religionsgesellschaften aus der
EMRK bedarf das überkommene innerstaatliche Rechtsverständnis daher einer
grund- und menschenrechtsfreundlichen Korrektur. Bestätigt und verstärkt wird
dieser Korrekturbedarf durch die veränderten rechtlichen und gesellschaftli-
chen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart:
Unter dem Grundgesetz sind Kirchen und kirchliche Einrichtungen keine
staats- und grundrechtsfreie Sphäre mehr. Der aus dem Sozialstaatsgebot fol-
gende Auftrag an den demokratischen Gesetzgeber, „für einen Ausgleich der
sozialen Gegensätze und damit für eine gerechtere Sozialordnung zu sorgen“
(BVerfGE 22, 180, 204; 94, 241, 263; 97, 169, 185; 110, 412, 445), erstreckt
sich grundsätzlich auch auf den Bereich kirchlicher Beschäftigungsverhält-
nisse. Dort bestehen dieselben strukturellen Interessengegensätze zwischen der
Arbeitgeberseite und den Beschäftigten wie in allen anderen Bereichen des Ar-
beitslebens auch. Dies durch den Begriff der „christlichen Dienstgemeinschaft“
zu verschleiern ist nicht sachgerecht. Insbesondere das Argument, in kirch-
lichen Einrichtungen bestünde kein Interessenkonflikt zwischen Arbeitgeberin-
nen bzw. Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen bzw. Arbeitnehmern, weil sich
beide Seiten dem gleichen religiösen Ziel verpflichtet hätten, überzeugt nicht.
Überall, wo Menschen lohnabhängig beschäftigt sind, um ihren Lebensunter-
halt finanzieren zu können, befinden sie sich in einem strukturellen Abhängig-
keitsverhältnis, das zwangsläufig auch mit unterschiedlichen Interessen einher-
geht. Da sich Kirchen und kirchliche Einrichtungen wie „normale“ Arbeitgeber
verhalten, Leiharbeit einführen, Betriebe ausgliedern und Löhne drücken kön-
nen, müssen sich die Beschäftigten dagegen auch effektiv wehren können.

Im Einzelnen schlägt sich die strukturelle Benachteiligung Beschäftigter der
Kirchen und kirchlichen Einrichtungen auf den folgenden Feldern nieder:

1. Wesentliche Elemente des kollektiven Arbeitsrechts, insbesondere die be-
trieblichen Mitbestimmungsrechte sowie das Streikrecht der Beschäftigten
der Kirchen und kirchlichen Einrichtungen sind gegenüber denen der Be-
schäftigten der öffentlichen Hand und den von privaten Betrieben unterent-
wickelt:

– Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) findet unbeschadet deren
Rechtsform keine Anwendung auf Religionsgesellschaften und ihre kari-
tativen und erzieherischen Einrichtungen. Ebenso wenig ist das Gesetz
über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten (SprAuG) auf Kir-
chen und Religionsgesellschaften sowie deren karitative und erzieheri-
sche Einrichtungen anwendbar. Infolgedessen haben sie lediglich einge-
schränkte Informations- und Beratungsrechte, Widerspruchsrechte bei
beabsichtigter Kündigung und Mitbestimmungsrechte bei personellen
Einzelmaßnahmen wie Einstellung, Versetzung oder Umgruppierung.

– Beschäftigte von Religionsgesellschaften und deren karitativen und er-
zieherischen Einrichtungen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts
nach Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 5 WRV sind, können
keine Personalräte gründen, da laut dessen § 112 auch das Bundesperso-
nalvertretungsgesetz (BPersVG) auf sie nicht anwendbar ist. Auch das
Drittelbeteiligungsgesetz (DrittelbG) und das Mitbestimmungsgesetz
(MitbestG) sind auf von Kirchen und Religionsgesellschaften getragene
große Privatunternehmen nicht anwendbar. Im kirchlichen Bereich gibt
es zwar allgemeine Richtlinien, die Grundbedingungen für Arbeitsver-
hältnisse festlegen. Zur innerbetrieblichen Verhandlung von Arbeitsbe-
dingungen haben die Kirchen sogenannte Arbeitsrechtliche Kommissio-
nen eingerichtet, die mit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite besetzt
sind. Die Zutrittsvoraussetzungen zu den Arbeitsrechtlichen Kommissio-

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nen und die dort geltenden Beschlussverfahren und Verhandlungsbedin-
gungen werden den Arbeitnehmervertretern aber durch Beschlüsse der
kirchlichen Leitungsinstanzen – beim Caritasverband der Delegiertenver-
sammlung, beim Diakonischen Werk der EKD e. V., der Diakonischen
Konferenz – auferlegt. Die soziale Mächtigkeit von Diakonie und Caritas
als Arbeitgeber geht damit über die soziale Mächtigkeit von Arbeitgebern
anderer Bereiche noch hinaus. Den kirchlich Beschäftigten werden kol-
lektive gewerkschaftliche Mittel hingegen vorenthalten. Im Rahmen des
Systems der Arbeitsrechtlichen Kommissionen können sie ihre Koalition
nicht frei bilden. Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften zur Regu-
lierung der allgemeinen Arbeitsbedingungen ihrer Beschäftigten auf
überbetrieblicher Ebene werden von den kirchlichen Arbeitgebern fast
ausnahmslos abgelehnt. Das als „Dritter Weg“ bezeichnete kirchliche
Mitarbeitervertretungsrecht bietet damit ein wesentlich geringeres
Schutzniveau für die Beschäftigten als in „normalen“ Privatunternehmen.
Es schließt die Gewerkschaften als Teil der Betriebsverfassung von der
betrieblichen Mitbestimmung aus. Seine Regelungen sind konfessionell
ungleich und regional zersplittert. Anders als im öffentlichen Dienst und
im Privatsektor verhandeln die kirchlichen Arbeitgeber mit Beschäftig-
ten, die in einem Anstellungsverhältnis zu ihnen stehen, nicht dieselbe
Erfahrung und das Know-how mitbringen wie Gewerkschaftsfunktionäre
und sich auch nicht – wie diese – hauptamtlich der Interessenvertretung
widmen. „Der ,Dritte Weg‘, welcher im Bereich kirchlicher Einrichtun-
gen an die Stelle von Tarifvertrag und Arbeitskampf treten und eine kon-
sensuale Regelung der Arbeitsbedingungen ermöglichen soll, [kann des-
halb] in seiner gegenwärtigen Ausprägung nicht als geeignet angesehen
werden, der Arbeitnehmerseite vergleichbare Chancen zur Durchsetzung
ihrer Forderungen zu vermitteln, wie sie im außerkirchlichen Bereich auf
der Grundlage des staatlichen Arbeitsrechts mit Tarifvertrag und Arbeits-
kampf zur Verfügung stehen“ (LAG Hamm, Urteil vom 13. Januar 2011,
Az. 8 Sa 788/10, Rn. 108; vgl. auch ArbG Hamburg, Urteil vom 18. März
2011, Az. 14 Ca 223/10, Rn. 88/89).

– Der Ausschluss von über einer Million Menschen in Deutschland von
grundlegenden Beschäftigtenrechten ist grundgesetzlich ungerechtfertigt.
Entsprechende frühe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts,
wonach der pauschale Ausschluss durch das in Artikel 140 GG i. V. m.
Artikel 137 Absatz 3 WRV („Jede Religionsgesellschaft ordnet und ver-
waltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des
für alle geltenden Gesetzes.“) verfassungsrechtlich gewährleistete Selbst-
bestimmungsrecht der Religionsgesellschaften vorgegeben sei (BVerfGE
46, 73, 94; dazu Richardi, BetrVG-Komm, § 118 Rn. 188; Dütz, NZA
2008, 1383, 1385), sind angesichts zwingender Vorgaben der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention sowie des veränderten systematischen
Zusammenhangs, in dem die durch Artikel 140 GG dem Grundgesetz in-
korporierten sogenannten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung
(WRV) im Gesamtkontext des Grundgesetzes auszulegen sind, inzwi-
schen nicht mehr haltbar. Da das Verhältnis Staat–Kirche einem fortwäh-
renden Wandel der rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingun-
gen unterliegt, sind die Schranken des kirchlichen Selbstbestimmungs-
rechts vor dem Hintergrund dieser Veränderungen „anders zu interpre-
tieren als vormals“ (Morlok, Die korporative Religionsfreiheit und das
Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV ein-
schließlich s. Schranken, in: Heinig/Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht
oder Religionsverfassungsrecht, 2007, 185, 196 f.). Maßgeblich ist inso-
fern der individualrechtliche Ansatz des Grundgesetzes (Morlok, ebd.,
192). Er drückt sich vor allem in der herausgehobenen systematischen

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Stellung der Grundrechte im Grundgesetz aus und fordert einen Schutz
der Grundrechte auch gegenüber nichtstaatlichen Organisationen. Der
Einzelne darf von der Organisation, der er angehört, nicht überwältigt
werden (Morlok, ebd., 192).

Der organisierten Religionsbetätigung im Spannungsfeld zu den individuel-
len Freiheitsrechten der Beschäftigten bei Religionsgesellschaften und deren
Einrichtungen wäre durch die Einbeziehung kirchlicher Arbeitgeber in die in
den Gesetzen zum kollektiven Arbeitsrecht enthaltenen Regelungen zu so-
genannten Tendenzbetrieben ausreichend Rechnung getragen. Die bisheri-
gen Regelungen (vgl. etwa § 118 Absatz 1 BetrVG) sehen für sogenannte
Tendenzbetriebe ebenfalls eine Beschränkung der Beschäftigten-Mitwir-
kungsrechte vor, indem sie die Anwendung der gesetzlichen Regelungen
ausschließen, „soweit die Eigenart des Betriebs oder Unternehmens“ es er-
fordert. Dies ist kritisch zu hinterfragen. Inwieweit der Tendenzschutz ver-
ändert oder abgeschafft werden sollte, ist in einem gesonderten Verfahren zu
erarbeiten. In diesem ersten Schritt muss der Schutz der unternehmerischen
Freiheiten kirchlicher Arbeitgeber mindestens auf das Niveau von Tendenz-
betrieben reduziert werden. Der derzeitige, völlige Anwendungsausschluss
eröffnet den kirchlichen Arbeitgebern demgegenüber über den Tendenz-
schutz hinaus weite Handlungsspielräume, obwohl kirchliche Einrichtun-
gen, aufgrund ihrer religiösen Motive neben der Gewinnerzielungsabsicht
oder primär ebenfalls eine geistig-ideelle Ausrichtung haben und daher qua-
litativ nicht anders zu bewerten sind, als diejenigen Betriebe, die bisher dem
Tendenzschutz unterfallen.

Auch bei dem durch Artikel 9 Absatz 3 GG gewährleisteten Recht, zur Wah-
rung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden,
sind die Beschäftigten kirchlicher Einrichtungen und sonstiger Religionsge-
sellschaften gegenüber Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und privater
Unternehmen strukturell benachteiligt. Zwar können sich Kirchenbeschäf-
tigte in Gewerkschaften organisieren und kirchliche Einrichtungen zu Ar-
beitgeberverbänden zusammenschließen. Dies ist jedoch aufgrund der ins-
gesamt schwachen Stellung, die sie gegenüber der Arbeitgeberseite haben,
bisher nur in sehr geringem Umfang geschehen. Eine entscheidende Rolle
spielt dabei, dass Beschäftigten von Kirchen und deren Einrichtungen das
aus Artikel 9 Absatz 3 GG abgeleitete Streikrecht von der Rechtsprechung
weitgehend abgesprochen wird. Maßgeblich dafür soll wiederum das Selbst-
bestimmungsrecht der Religionsgesellschaften aus Artikel 140 GG i. V. m.
Artikel 137 Absatz 3 WRV sein. So untersagte etwa das Arbeitsgericht Bie-
lefeld im März 2010 erstinstanzlich der Gewerkschaft ver.di, die Beschäftig-
ten des Evangelischen Krankenhauses in Bielefeld zur Arbeitsniederlegung
aufzurufen mit dem Argument, das Selbstbestimmungsrecht gebiete es, „den
Kirchen und Trägern kirchlicher Einrichtungen bei der Gestaltung der sozia-
len Ordnung einen Weg offen zu halten, der die Wahrnehmung der Aufga-
ben in einer eigenständigen Organisation nach eigenen Verfahrensregelun-
gen ermöglicht“ (Urteil vom 3. März 2010, Az. 3 Ca 2958/09). Erst das
Landesarbeitsgericht Hamm stellte in seiner kassierenden Entscheidung
vom 13. Januar 2011 klar, dass „auch unter Berücksichtigung der verfas-
sungsrechtlich garantierten Autonomie der Religionsgesellschaften sowie
der kirchlich geprägten Eigenheiten und besonderen Aufgabenstellung ein
vollständiger Ausschluss von Arbeitskampfmaßnahmen, welcher auch Ar-
beitnehmer in Randbereichen und Hilfsfunktionen des Krankenhausbetriebs
umfassen soll, über das rechtlich gebotene Maß hinaus[geht] und damit zu
einer übermäßigen Beeinträchtigung der ebenfalls verfassungsrechtlich ge-
stützten Rechtsposition der Beklagten und ihrer bei der Klägerin zu 1 als Ar-
beitnehmer beschäftigten Mitglieder“ führt (Urteil vom 13. Januar 2011,
Az. 8 Sa 788/10, Rn. 108).

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Am ehesten wird das Arbeitsgericht Hamburg dem Verhältnis des kirch-
lichen Selbstbestimmungsrechts aus Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137
WRV und dem Grundrecht der kirchlichen Beschäftigten auf Arbeitskampf-
maßnahmen aus Artikel 9 Absatz 3 GG gerecht. Im Fall des streikenden
Marburger Bundes betonte es in seinem Urteil vom 1. September 2010 (Az.
28 Ca 105/10): „Im Rahmen der vorzunehmenden Güterabwägung (…) er-
gibt sich, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht einen derartigen
Vorrang genießt, dass jeglicher Streik und jegliche sonstige Form der Ar-
beitsniederlegung als Voraussetzung für den geltend gemachten Anspruch,
unzulässig und damit verboten und zu unterlassen sind: (…) Die Koalitions-
freiheit genießt einen hohen Rang in der Wertordnung des Grundgesetzes.
Die Tarifautonomie gilt auch im kirchlichen Bereich (…). Grundsätzlich ist
von dem strukturell unterlegenen Arbeitnehmer auszugehen. Der Arbeitge-
ber diktiert die Arbeitsbedingungen. Er ist im Vergleich zum Arbeitnehmer,
der auf Arbeit angewiesen ist, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, der
,Mächtigere‘. Erst durch einen Streik oder eine sonstige Arbeitsniederlegung
bzw. Arbeitskampfmaßnahme wird ein Machtgleichgewicht hergestellt (…).
Das Gebot der christlichen Nächstenliebe steht einem Streik ebenfalls nicht
grundsätzlich entgegen. Arbeitskampfmaßnahmen und auch der Streik stel-
len keinen ,Krieg‘ dar und tragen auch nicht zwangsläufig Aggressionen in
die Einrichtungen des Klägers hinein. Sie dienen dazu, Arbeitnehmer auf
Augenhöhe mit ihrem Arbeitgeber verhandeln zu lassen.“ Das Urteil wurde
vom Landesarbeitsgericht Hamburg am 23. März 2011 bestätigt (Az. 2 Sa
83/10).

Richtigerweise steht der effektive Schutzgehalt des kirchlichen Selbstbe-
stimmungsrechts aus Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV
unabhängig von der Eingehung eines Tarifvertrages nicht zur freien Disposi-
tion der Anspruchsträger. Lediglich bei der Bestimmung des Schutzbereichs
des Artikels 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV, ist das Selbstver-
ständnis der Kirchen und sonstigen Religionsgesellschaften davon, was zu
ihrem religiösen Sendungsauftrag gehört, ein entscheidender Gesichtspunkt.
In der sich anschließenden Abwägung mit dem Grundrecht der Koalitions-
freiheit ist das kirchliche Selbstverständnis demgegenüber nur noch insoweit
berücksichtigungsfähig, wie es auf der Seite des Artikels 140 GG i. V. m.
Artikel 137 Absatz 3 WRV als Faktor bei dem schonenden Ausgleich mit
dem Recht aus Artikel 9 Absatz 3 GG einfließt. Über die Gewichtung ihres
Selbstbestimmungsrechts aus Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3
WRV im Verhältnis zur Koalitionsfreiheit der Beschäftigten und das Ergeb-
nis der Abwägung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts mit der Koali-
tionsfreiheit vermögen weder die als Arbeitgeber fungierenden Kirchen und
sonstigen Religionsgesellschaften noch die lediglich zur Rechtsanwendung
berufenen Gerichte zu disponieren. Es ist vielmehr zuvörderst Aufgabe des
grundrechtskonkretisierenden Gesetzgebers, im Lichte der besonderen Be-
deutung der Koalitionsfreiheit für einen gerechten Ausgleich der kollidie-
renden Verfassungsgüter zu sorgen. Er muss gewährleisten, dass das Recht,
„zur Wahrung der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Ver-
einigungen zu bilden“, das nach Artikel 9 Absatz 3 GG ausdrücklich „für
jedermann und für alle Berufe gewährleistet ist“, auch gegenüber kirch-
lichen Arbeitgebern wirkungsvoll geltend gemacht werden kann.

2. Auch im Individualarbeitsrecht hat das immer noch vorherrschende, vorkon-
stitutionell inspirierte Missverständnis des Selbstbestimmungsrechts der
Kirchen aus Artikel 140 GG i. V. m. Artikel 137 Absatz 3 WRV fatale Aus-
wirkungen. Entscheidungen staatlicher Gerichte, die das Kündigungsschutz-
gesetz bei einer Kündigung unter Hinweis auf das kirchliche Selbstbestim-
mungsrecht nur im Lichte seiner Ausstrahlungswirkung anwenden, verkür-
zen die Grundrechte der Beschäftigten in unzulässiger Weise. So soll etwa

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5523

eine Kündigung nach § 1 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) „sozial
gerechtfertigt“ sein, wenn die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer im
Rahmen außerdienstlichen Verhaltens ohne Sachbezug zur ausgeübten Tä-
tigkeit kirchliche Loyalitätsobliegenheiten verletzt. Als gerechtfertigt ange-
sehen wurden aufgrund dessen etwa Kündigungen wegen „Bigamie“, eines
„außerehelichen“ Verhältnisses, Ehescheidung, Wiederheirat, Kirchenaus-
tritt oder wegen eines „unehelichen“ Kindes. Unterschiede bei den Anforde-
rungen an die Loyalitätspflichten werden lediglich nach der Stellung und
Funktion der Beschäftigten gemacht sowie danach, ob die Arbeitsstelle ver-
kündungsnah oder -fern ist: Je näher die Arbeitsstelle am Verkündungsauf-
trag angesiedelt ist, desto strengere Anforderungen sollen an die Beschäftig-
ten gestellt werden können. Auch diese Rechtsprechungspraxis bedarf zu ei-
nem wirksameren Schutz der Grundrechte der bei den Kirchen und ihren
Einrichtungen Beschäftigten dringend einer Einhegung durch den verfas-
sungskonkretisierenden Gesetzgeber, da sie dem Selbstbestimmungsrecht
der Kirchen gegenüber den kollidierenden Grundrechtspositionen der be-
troffenen Beschäftigten im Zuge der gebotenen Abwägung einseitig den
Vorrang einräumt. Maßgabe für den verfassungskonkretisierenden Gesetz-
geber muss dabei sein, dass Grundrechtseinbußen kirchlicher Beschäftigter
nicht weiter gehen dürfen als im Hinblick auf Artikel 140 GG i. V. m.
Artikel 137 Absatz 3 WRV zwingend geboten. Ungerechtfertigt ist insbe-
sondere eine schematische Privilegierung des Selbstbestimmungsrechts der
Kirche. Jenseits des Bereichs der verkündungsnahen Tätigkeitsfelder im en-
geren Sinne müssen die religiösen Motive des kirchlichen Arbeitgebers, die
nach der bisherigen Rechtsprechung das Vorliegen eines sozialen Kündi-
gungsgrundes begründen können sollten, grundsätzlich hinter den grund-
rechtlich geschützten Interessen der betroffenen Beschäftigten zurücktreten.

Schließlich ist von der strukturellen Benachteiligung auch die deutsche
Antidiskriminierungsgesetzgebung erfasst: Das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz (AGG) hebt Diskriminierungsverbote in seinem § 9 für Reli-
gionsgesellschaften auf, wenn ihr Selbstverständnis betroffen ist. § 9 AGG
wird von den Gerichten zwar bereits gegenwärtig teils auch richtlinienkon-
form ausgelegt und die Privilegierung der Religionsgesellschaften dement-
sprechend nur bei verkündungsnahen Beschäftigten zugelassen. Dessen un-
geachtet widerspricht die Formulierung des § 9 AGG den verbindlichen
Vorgaben der Europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG, zu
deren Umsetzung das Gesetz erlassen wurde. Artikel 4 Absatz 2 der Richt-
linie stellt gerade heraus, dass das Diskriminierungsverbot nicht allein mit
dem Hinweis auf das Selbstverständnis der Religionsgesellschaften ausge-
schlossen werden kann. Vielmehr muss sich die Unvereinbarkeit des Verhal-
tens Beschäftigter mit dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgesell-
schaft, aus der dann weitreichende Konsequenzen wie Kündigung, Nichtein-
stellung oder Versetzung folgen können, aus dessen Funktion erklären. Die
Verletzung von Loyalitätsobliegenheiten im Rahmen des Privatlebens sind
bei Beschäftigten, die unmittelbar am sogenannten Sendungsauftrag der Kir-
che mitwirken, anders zu behandeln als beispielsweise bei Ärztinnen und
Ärzten in kirchlichen Krankenhäusern oder Erzieherinnen und Erziehern in
entsprechenden Einrichtungen. Um eine einheitliche Rechtsprechung herzu-
stellen und Rechtsklarheit für die Betroffenen zu schaffen, ist auch insoweit
eine Gesetzesänderung geboten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem

a) der generelle Ausschluss der Religionsgesellschaften und ihrer karitati-
ven und erzieherischen Einrichtungen unbeschadet deren Rechtsform von

Drucksache 17/5523 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
der Anwendbarkeit der einzelgesetzlichen Regelungen zum kollektiven
Arbeitsrecht aufgehoben wird,

b) durch entsprechende Änderung des Kündigungsschutzgesetzes klarge-
stellt wird, dass eine Kündigung wegen außerdienstlichen Verhaltens nur
dann sozial gerechtfertigt nach § 1 KSchG sein kann, wenn das betref-
fende Verhalten einen unmittelbaren Bezug zur dienstlichen Aufgabe auf-
weist,

c) im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung und der Rechtsklarheit
für die Betroffenen im Hinblick auf Artikel 4 Absatz 2 der europäischen
Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG eindeutig klargestellt wird, dass
die Aufhebung von Diskriminierungsverboten durch § 9 AGG in Bezug
auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffent-
lichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grund-
sätzen oder Weltanschauungen beruht, nur soweit geht, wie die Religion
oder die Weltanschauung der betreffenden Person nach der Art der ausge-
übten Tätigkeit eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte beruf-
liche Anforderung darstellt;

2. dafür Sorge zu tragen, dass das Streikrecht aus Artikel 9 Absatz 3 GG auch
für Beschäftigte von Kirchen, kirchlichen Einrichtungen und sonstigen Reli-
gionsgesellschaften gewährleistet wird.

Berlin, den 12. April 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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