BT-Drucksache 17/5320

Lage von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen in Italien

Vom 31. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5320
17. Wahlperiode 31. 03. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Sevim Dag˘delen, Petra Pau, Jens Petermann,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Lage von Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen in Italien

Nachdem in den vergangenen Jahren regelmäßig die Defizite des griechischen
Asylsystems Gegenstand öffentlicher Debatten, parlamentarischer Initiativen
und gerichtlicher Auseinandersetzungen waren, rückt nun die Lage von Asyl-
suchenden und anerkannten Flüchtlingen in Italien stärker in den Fokus. Dies
liegt nicht zuletzt an der großen Zahl von Flüchtlingen und Migranten, die der-
zeit auf der italienischen Insel Lampedusa anlanden. Das dortige Aufnahmela-
ger ist ständig überfüllt, der Transfer auf das Festland verläuft nach Ansicht des
UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR nur schleppend. Obwohl die Caritas Italien
2500 Aufnahmeplätze angeboten hatte, wurden diese von der Regierung nicht
in Anspruch genommen (KNA, 22. März 2011).

Die Aufnahmesituation für Asylsuchende und selbst anerkannte Flüchtlinge in
Italien ist grundsätzlich miserabel, wie ein Bericht der Flüchtlingsorganisation
PRO ASYL belegt („Zur Situation von Flüchtlingen in Italien“, online unter
www.proasyl.de). Die Asylsuchenden werden in der Regel zunächst in Erstauf-
nahmeeinrichtungen (CARA) untergebracht, die sie nach Ende des Asylverfah-
rens, spätestens aber nach sechs Monaten, verlassen müssen. Zugleich existiert
ein Aufnahmesystem (SPRAR), das sowohl für die anerkannten Flüchtlinge als
auch für diejenigen, die ihr Verfahren weiterbetreiben, gilt. Dieses System ver-
fügt jedoch nur über 3 000 Plätze – angesichts von 17 000 Asylsuchenden im
Jahr 2009 offensichtlich deutlich zu wenig. Asylsuchende können die Erst-
aufnahmeeinrichtungen und die Ressourcen des Aufnahmesystems nur sechs
Monate nutzen, danach sind sie auf sich gestellt. Eine soziale Mindestsicherung
(wie in Deutschland durch das Asylbewerberleistungsgesetz) steht ihnen nicht
zur Verfügung. Regelmäßig werden die Asylsuchenden daher aus den Unter-
künften entlassen, ohne dass diese zuvor Arbeit und ein Obdach gefunden ha-
ben. Viele der Betroffenen leben deshalb in besetzten Häusern oder auf Bra-
chen. Da sie dort nicht gemeldet sein können, haben sie keinen Zugang zur
staatlichen Gesundheitsversorgung und keine, für das Asylverfahren notwen-
dige, ladungsfähige Adresse. Von Obdachlosigkeit und fehlendem Zugang zur
Gesundheitsversorgung und sonstigen Sozialleistungen sind aber auch aner-
kannte Schutzberechtigte betroffen. Menschen, bei denen mindestens Hinweise
auf eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegen und die dringend psy-

chologische oder psychiatrische Behandlung benötigten, haben dazu aufgrund
der geltenden Regelungen keinen Zugang.

Von dieser Situation sind auch Asylsuchende betroffen, die im Rahmen des
Dublin-Systems von anderen EU-Staaten nach Italien überstellt werden (aus
Deutschland im Jahr 2010: 395 Überstellungen, vgl. Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., 17/4627, Frage 5c). Sie

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bleiben häufig ohne Aufenthaltspapiere, weil sie diese an der Stelle ihrer Ein-
reise, wo auch ihre Passpapiere verblieben sind – häufig in Süditalien, neu be-
schaffen müssten. Die Betroffenen können sich nach den Angaben des Berichts
von PRO ASYL aber die Fahrt dorthin und die Gebühren für die erneute Aus-
stellung von Aufenthaltspapieren nicht leisten.

Mittlerweile haben einige Gerichte, sowohl Verwaltungsgerichte in Deutsch-
land als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), mehr-
fach entschieden, Asylantragstellern Rechtsschutz gegen eine Überstellung
nach Italien zu gewähren. Dies betrifft auch Asylsuchende, deren Ersteinreise-
land Griechenland war und die dennoch von deutschen Behörden nach Italien
überstellt werden (im Falle Griechenlands sind die Überstellungen im Dublin-
Verfahren für das Jahr 2011 ausgesetzt).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Sind der Bundesregierung die in dem genannten Bericht von PRO ASYL ge-
schilderten Zustände im italienischen Asyl- und Aufnahmesystem bekannt,
und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Überstellungspraxis
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rahmen von
Dublin-Verfahren?

2. Werden angesichts der geschilderten und bekanten Zustände im italieni-
schen Asylsystem auch besonders verletzliche Gruppen – unbegleitete Min-
derjährige, Alleinerziehende, Kranke und traumatisierte Menschen – nach
Italien überstellt, und wenn ja, mit welcher Begründung?

3. Werden von der Bundesrepublik Deutschland auch Menschen mit psychia-
trischem Behandlungsbedarf nach Italien überstellt, obwohl dort nach Anga-
ben des genannten Berichts lediglich fünf Plätze tatsächlich zur Verfügung
stehen, die Dublin-Rückkehrern faktisch nicht zur Verfügung stehen?

4. Ist der Bundesregierung die Problematik bekannt, dass nach Rom überstellte
Asylsuchende ihr Asylverfahren faktisch nicht weiterbetreiben können, weil
sie nicht in Besitz von Aufenthaltspapieren kommen (siehe Vorbemerkung)?

5. Ist der Bundesregierung die Problematik bekannt, dass über Griechenland in
die EU eingereiste Asylsuchende häufig erst in Italien im Fingerabdrucksys-
tem EURODAC erfasst werden und deshalb dorthin zurückgeführt werden
sollen, obwohl Italien nicht das Ersteinreiseland in die EU ist?

6. Wird die tatsächliche Reiseroute von Asylsuchenden in einer solchen Fall-
konstellation überhaupt noch geprüft, wenn ein EURODAC-Treffer vorliegt,
und wenn ja, wie?

7. Überstellt die Bundesrepublik Deutschland Asylsuchende in EU-Mitglied-
staaten, in denen erstmalig ein EURODAC-Treffer vermerkt wurde, auch
wenn Zweifel daran bestehen, ob dies tatsächlich das Ersteinreiseland im
Sinne der Dublin-Verordnung ist – oder sogar in Kenntnis des Umstands,
dass dies nicht der Fall ist, wenn der „Dublin-Zweitstaat“ einer Überstellung
zustimmt –, und wenn ja, in welchem Umfang und wie begründet sie dies
rechtlich vor dem Hintergrund, dass eine solche Praxis nicht mit Artikel 5 ff.
der Dublin-Verordnung vereinbar ist (so z. B. auch das Verwaltungsgericht
Ansbach – AN 11 E 300089 – B. v. 9. März 2011)?

8. Ist es im Sinne der Dublin-Verordnung, wenn in solchen Konstellationen
Asylsuchende erst über Monate zwischen den Dublin-Staaten hin- und her-
geschoben werden, bevor sie erstmals ein Asylverfahren betreiben können?

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9. Welche Vereinbarungen wurden auf EU-Ebene zu der Frage, wie mit Auf-
enthalten in mehreren EU-Mitgliedstaaten nach einer Ersteinreise über
Griechenland und einer Asyl-Zuständigkeit in solchen Fällen umgegangen
werden soll, besprochen bzw. vereinbart, und wie hat sich die Bundesregie-
rung hierzu positioniert und verhalten?

10. Weshalb plant die Bundesregierung auch infolge des so genannten M.S.S.-
Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom
21. Januar 2011 immer noch nicht, das seit 2007 geltende Verbot der auf-
schiebenden Wirkung von Rechtsmitteln im Dublin-Verfahren zurückzu-
nehmen, obwohl der Bevollmächtigte der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland in einer Stellungnahme vom 8. Februar 2011 in der verbunde-
nen Rechtssache beim Europäischen Gerichtshof C-411/10 und C-493/10
Wolfgang Graf Vitzthum ausführt, dass bei der Durchführung des Unions-
rechts (hier: Dublin-Verfahren) die „Rechtsprechung des EGMR zu beach-
ten“ ist und dabei auf das genannte M.S.S.-Urteil, das einen effektiven
Rechtsschutz mit aufschiebender Wirkung im Dublin-Verfahren fordert,
ausdrücklich hingewiesen wird (Rn. 57)?

11. Wie ist der gesetzliche Ausschluss einer aufschiebenden Wirkung von
Rechtsmitteln im Dublin-Verfahren mit der genannten Stellungnahme des
Bevollmächtigen der Bundesregierung vom 8. Februar 2011 vereinbar, wo-
nach auch aus der EU-Grundrechtecharta folgt, dass im Asylverfahren ein
„wirksamer Rechtsbehelf bei einem Gericht“ bzw. eine „wirksame Be-
schwerde“ und „unabhängige und genaue Prüfung“ (der Behauptung einer
drohenden unmenschlichen Behandlung, etwa nach einer Dublin-Überstel-
lung) gewährleistet sein muss (Rn. 69)?

12. Inwieweit ist vor diesem Hintergrund die deutsche Drittstaaten-Regelung
insgesamt mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar, zumal in der genannten
Stellungnahme des Bevollmächtigten der Bundesregierung vom 8. Februar
2011 ausgeführt wird, dass Überstellungen in Staaten „ausgeschlossen“
sind, wenn aufgrund glaubwürdiger Berichte konkrete Anhaltspunkte dafür
vorliegen, dass es erhebliche Mängel im Asylsystem des betreffenden Staa-
tes gibt, so dass dieser EU-Mitgliedstaat nicht mehr als „sicherer Staat“
angesehen werden kann (Rn. 84 f.)?

13. Wie ist die Behauptung der Bundesregierung, eine Änderung der gesetzli-
chen Regelungen zum Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Rechts-
mitteln im Dublin-Verfahren sei wegen des einjährigen Überstellungs-
stopps nach Griechenland zumindest derzeit nicht erforderlich, damit ver-
einbar, dass die Rechtsproblematik z. B. in Bezug auf Italien weiterhin
höchst aktuell ist?

14. Wie ist die derzeitige Praxis bei der Zustellung von Überstellungsbeschei-
den generell, und mit welcher Begründung werden gegebenenfalls immer
noch solche Bescheide erst unmittelbar bei der Überstellung ausgehändigt,
so dass häufig faktisch keine Rechtsmittel mehr eingelegt werden können?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die in dem Bericht von PRO ASYL ge-
nannte Kritik, dass Dublin-Rückkehrer keine bevorzugte Behandlung im
Asyl- und Aufnahmesystem erfahren, sondern im Gegenteil größte Schwie-
rigkeiten haben, ein Obdach zu finden (nur 12 Prozent werden in ein SPRAR-
Projekt vermittelt, siehe S. 23 des Berichts), und welche Konsequenzen zieht
sie hieraus für ihre Überstellungspraxis?

16. Was ist der Bundesregierung zu den Schwierigkeiten bekannt, dass im
Dublin-Verfahren zurücküberstellte Asylsuchende keine Hilfe bei der Wie-
derbeschaffung von Aufenthaltspapieren erhalten und deshalb vor allem

besonders verletzliche Personen ohne Aufenthaltspapiere und damit in der

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Illegalität leben müssen, und welche Konsequenzen zieht sie hieraus für
ihre Überstellungspraxis?

17. Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr für nach Italien rücküber-
stellte Asylsuchende, dass sie aufgrund der verbreiteten Obdachlosigkeit
keine zustellungsfähige Adresse haben und weder ein Verfahren gegen das
BAMF wegen ihrer Überstellung nach Italien, noch das Asylverfahren in
Italien selbst ordnungsgemäß betreiben können, und welche Konsequenzen
zieht sie hieraus für ihre Überstellungspraxis?

18. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Vorwurf der
Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht (www.
beobachtungsstelle.ch/fileadmin/user_upload/pdf_diverse/Berichte/Bericht
_DublinII-Italien.pdf), zumindest einzelne Asylkommissionen in Italien
lehnten Asylgesuche von Asylsuchenden aus Staaten, mit denen Italien
Rückübernahmeabkommen geschlossen hat, ohne weitere Prüfung ab, wie
bewertet sie diese Information, und welche Schlussfolgerungen zieht sie
hieraus?

19. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu den ebenfalls in
diesem Bericht geäußerten Vorwürfen an Italien, dass zuständige Behörden
mit einem besonders hohen Aufkommen an Asylanträgen diese einfach
nicht annähmen oder extrem lange nicht behandelten, wie bewertet sie
diese Information, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

20. Ist der Bundesregierung bekannt, ob die dargestellten Mängel im italieni-
schen Asylsystem auf europäischer Ebene bereits thematisiert wurden, und
wenn ja, von wem und in welcher Form, und welche Schlussfolgerungen
wurden hieraus gezogen?

21. Spielt die Lage des italienischen Asylsystems bei den Überlegungen der
Bundesregierung zum Umgang mit Flüchtlingen aus Libyen eine Rolle, bei
denen das UN-Flüchtlingshilfswerk von einem vorübergehenden Schutz-
bedarf ausgeht?

Wird sich die Bundesregierung an einer Verteilung von Schutzbedürftigen
beteiligen, die über Italien oder Malta in die EU gelangen (bitte auch die
Alternativen ausführen)?

Berlin, den 31. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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