BT-Drucksache 17/5286

Europapolitische Position der Bundesregierung zu Fragen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

Vom 25. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5286
17. Wahlperiode 25. 03. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Marieluise Beck (Bremen), Maria Klein-Schmeink,
Tom Koenigs, Agnes Malczak, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europapolitische Position der Bundesregierung zu Fragen der Sozial-
und Arbeitsmarktpolitik

Im Jahr 2011 werden auf Ebene der Europäischen Union maßgebliche Weichen-
stellungen für die Zukunft der wirtschafts- und finanzpolitischen Koordinierung
vorgenommen. Mit dem Europäischen Semester soll nun ein neuer Prozess der
Koordinierung unter den Mitgliedstaaten beschritten werden. Die Bundesregie-
rung wird dazu im April 2011 sowohl ihr Stabilitätsprogramm als auch ihr
Nationales Reformprogramm (NRP) an die EU-Kommission übermitteln.

Die Beteiligung des Deutschen Bundestages an den einzelnen Verfahrensschrit-
ten kann aus Sicht des Parlaments nicht zufriedenstellend verlaufen sein. In den
Fachausschüssen, in denen eine rechtzeitige und angemessene Vorberatung ein-
zelner Aspekte der Position der Bundesregierung hätte erfolgen müssen, wurden
die Abgeordneten nicht ausreichend informiert. Dies gilt insbesondere für jene
Aspekte des Europäischen Semesters, die in den Zuständigkeitsbereich des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales fallen.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat unter anderem im Ausschuss für
Arbeit und Soziales einen Bericht zur Haltung der Bundesregierung zu den
„Makroökonomischen und fiskalpolitischen Leitlinien“ im Rahmen des Euro-
päischen Semesters angefordert. Die Abgeordneten wollten vor dem Rat der
Europäischen Union in der Zusammensetzung Wirtschaft und Finanzen
(ECOFIN-Rat), der am 15. Februar 2011 stattgefunden hat, über die aus Sicht
der Bundesregierung wesentlichen Aspekte unterrichtet werden. Der Bericht im
Ausschuss für Arbeit und Soziales vom 9. Februar 2011 ließ aber wesentliche
konkrete Fragen zum Europäischen Semester und zu den geplanten Maßnahmen
unbeantwortet. Diese Fragen werden hier erneut gestellt und ergänzt.

Der Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission bildet zusammen mit seinen
drei Anhängen (dem Fortschrittsbericht zu Europa 2020, dem Makroökono-
mischen Bericht und dem Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts)
die Grundlage für die Makroökonomischen Leitlinien und später für die länder-

spezifischen Empfehlungen. Dort werden unter anderem Maßnahmen vorge-
schlagen, die im Kern den Bereich Arbeit und Soziales betreffen.

Mittlerweile hat der ECOFIN-Rat am 15. Februar 2011 getagt und makroökono-
mische sowie haushaltspolitische Leitlinien verabschiedet, die ebenfalls für den
Bereich Arbeit und Soziales von Relevanz sind.

Drucksache 17/5286 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

Makroökonomische Ungleichgewichte

1. Welche Rolle spielt aus Sicht der Bundesregierung die Bundesrepublik
Deutschland bei der Entstehung makroökonomischer Ungleichgewichte in
der Europäischen Union?

2. Welche wirtschaftspolitischen Auswirkungen hätte es aus Sicht der Bundes-
regierung, wenn die makroökonomischen Ungleichgewichte in der jetzigen
Form in der Europäischen Union bestehen bleiben oder sogar noch zuneh-
men würden?

3. Welche sozialpolitischen Auswirkungen hätte es aus Sicht der Bundesregie-
rung, wenn die makroökonomischen Ungleichgewichte in der jetzigen
Form in der Europäischen Union bestehen bleiben oder sogar noch zuneh-
men würden?

4. Welche währungspolitischen Auswirkungen hätte es aus Sicht der Bundes-
regierung, wenn die makroökonomischen Ungleichgewichte in der jetzigen
Form in der Europäischen Union bestehen bleiben oder sogar noch zuneh-
men würden?

Lohnpolitische Koordinierung

5. Wie könnte aus Sicht der Bundesregierung eine lohnpolitische Koordinie-
rung auf europäischer Ebene ausgestaltet werden, und wie verbindlich
müssten die dort vereinbarten Maßnahmen für die Mitgliedstaaten der EU
sein?

6. Setzt sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene dafür ein, dass auch
Überschussländer einen Beitrag zum Abbau der makroökonomischen Un-
gleichgewichte leisten müssen?
Wenn ja, welchen Beitrag wäre die Bundesregierung bereit zu leisten?
Wenn nein, warum nicht?

7. Ist die Bundesregierung bereit, Maßnahmen zur Steigerung des Lohn-
niveaus zu ergreifen, um damit zum Abbau makroökonomischer Ungleich-
gewichte beizutragen und ihrer Verantwortung für den europäischen
Wirtschafts- und Währungsraum gerecht zu werden?
Wenn ja, welche?
Wenn nein, warum nicht?

8. In welcher Verantwortung sieht die Bundesregierung die Tarifparteien beim
Abbau von Leistungsbilanzdefiziten, und wie bewertet die Bundesregie-
rung die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland in der ver-
gangenen Dekade im Vergleich zur Lohnentwicklung im Euroraum?

9. Nimmt die Bundesregierung davon Abstand, Defizitländern die Abschaf-
fung von Lohnindexierungssystemen zu empfehlen?
Wenn nein, warum nicht?

Reaktion der Bundesregierung auf Empfehlungen der EU-Kommission im Jah-
reswachstumsbericht

10. Sieht die Bundesregierung die Empfehlung der EU-Kommission im Jahres-
wachstumsbericht, „Leistungen für Arbeitslose durch Befristung der Unter-
stützung so zu gestalten, dass sich die Wiederaufnahme der Arbeit lohnt“,
als erfüllt an?
Wenn ja, warum?

Wenn nein, welche Maßnahmen sollen ergriffen werden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/5286

11. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der EU-Kommission im Jahres-
wachstumsbericht, wonach die Arbeitsschutzvorschriften reformiert wer-
den müssen, um den vermeintlich „übermäßigen Schutz von Beschäftigten
mit unbefristeten Verträgen zu reduzieren“?
Wenn ja, an welcher Stelle sieht sie Handlungsbedarf, und welche Maßnah-
men wird die Bundesregierung ergreifen?
Wenn nein, warum nicht?

12. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der EU-Kommission, dass der
Schwerpunkt der Beschäftigung von Zeitverträgen und prekären Arbeits-
verhältnissen auf unbefristete Arbeitsverträge verlagert werden sollte?
Wenn ja, welche Maßnahmen wird sie ergreifen?
Wenn nein, warum nicht?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund der in Frage 12
genannten Einschätzung der EU-Kommission die empirisch messbare
Entwicklung, wonach unbefristete Arbeitsverhältnisse im Vergleich zu be-
fristeten Beschäftigungsverhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland
abnehmen?

Fragen zum ECOFIN-Rat

14. Ist die Bundesregierung bereit, vor dem Hintergrund der Beschlüsse des
ECOFIN-Rates vom 15. Februar 2011 – wonach in Mitgliedstaaten mit
hohem Leistungsbilanzüberschuss die politischen Maßnahmen darauf ab-
zielen sollten, Strukturreformen zu ermitteln und gegebenenfalls durchzu-
führen, mit denen ein Beitrag zur Stärkung der Inlandsnachfrage geleistet
wird – Maßnahmen zur Steigerung des Lohnniveaus zu ergreifen?
Wenn ja, wie sehen diese aus?
Wenn nein, warum nicht?

15. Teilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Einschätzung des
ECOFIN-Rates, dass auch für am Rand des Arbeitsmarkts stehende Arbeit-
nehmende und Arbeitnehmende mit Zeitverträgen ein angemessener Schutz
zu gewährleisten ist, falls es zu einer Überprüfung und ggf. Reform der je-
weiligen nationalen Arbeitsmarktinstrumente sowie der jeweiligen nationa-
len Vorschriften zum Arbeitnehmerschutz kommt?
Wenn ja, worin sieht sie Handlungsbedarf für die Bundesrepublik Deutsch-
land?
Wenn nein, warum nicht?

Ziel der Armutsbekämpfung im Nationalen Reformprogramm zur EU-2020-
Strategie

16. Hält die Bundesregierung an dem Ziel fest, die Armut in Europa um 20 Mil-
lionen Personen zu reduzieren?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

17. Warum beschränkt sich die Bundesregierung bei der Auswahl der Instru-
mente zur Bekämpfung von Armut auf den Abbau von Arbeitslosigkeit, hat
doch ein mehrdimensionales Verständnis von Armut auch die Verringerung
der relativen Einkommensarmut sowie der materiellen Benachteiligung in
verschiedenen Lebensbereichen zum Ziel?

Drucksache 17/5286 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

18. Hält die Bundesregierung das deutsche Ziel im Entwurf des Nationalen Re-
formprogramms zur EU-2020-Strategie, die Zahl der von Armut und so-
zialer Ausgrenzung bedrohten Personen um 660 000 Personen zu reduzie-
ren, für ausreichend?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

19. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das quantitative Ziel
Deutschlands mindestens viermal höher liegen müsste, wenn das EU-weite
Ziel der Armutsreduktion um 20 Millionen Personen gemäß der von Armut
und sozialer Exklusion betroffenen Menschen auf die Mitgliedstaaten ver-
teilt wird?
Wenn nein, wie groß müsste nach Auffassung der Bundesregierung die
Größe der Armutsreduktion in Deutschland sein, um das Ziel einer Armuts-
reduktion von 20 Millionen Personen in der EU zu erreichen?

20. Wie hoch muss die Armutsreduktion in den anderen Ländern der EU sein,
um das EU-weite Ziel der Armutsreduktion um 20 Millionen Personen zu
erreichen (bitte nach Ländern aufschlüsseln)?

21. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das Ziel die Armut in der EU
um 20 Millionen Personen zu reduzieren erreicht werden kann, wenn das
größte Mitgliedsland die Armut nur um 660 000 Personen reduzieren will?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

22. Wie schätzt die Bundesregierung die Reaktionen der anderen Mitgliedslän-
der auf den deutschen Vorschlag ein, die Armut nur um 660 000 Personen
zu reduzieren?

23. Wie begründet die Bundesregierung den Ausschluss eines EU-weiten „bur-
den sharing“, also einer mathematisch berechneten Lastenverteilung der
Armutsreduktionsziele?

24. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es gerecht ist, wenn andere
EU-Länder, darunter auch solche, die ggf. stärker von der Wirtschafts- und
Finanzkrise getroffen wurden, einen höheren Beitrag (im Verhältnis zur Be-
völkerungszahl und/oder zur Wirtschaftskraft) zu einer EU-weiten Reduzie-
rung der Armut beitragen müssen als Deutschland?
Wenn ja, warum?
Wenn nein, warum nicht?

25. Misst die Bundesregierung den von der Bundesrepublik Deutschland ge-
meldeten Zielen im Nationalen Reformprogramm eine Signalfunktion für
bevölkerungsärmere EU-Staaten bei?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, ist sie der Ansicht, dass dieser Vorbildfunktion durch den Entwurf
des Nationalen Reformprogramms entsprochen wird?

Weitere Ziele im Nationalen Reformprogramm zur EU-2020-Strategie

26. Hält die Bundesregierung das Ziel einer Beschäftigungsquote von Personen
im Alter von 20 bis 64 Jahren von 75 Prozent in Deutschland für ausrei-
chend, und ist ggf. vorgesehen, dieses Ziel angesichts der von anderen EU-
Staaten berichteten Zielen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im Laufe
des Entscheidungsprozesses noch zu korrigieren?
Wenn ja, in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/5286

27. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich Länder mit höheren
Beschäftigungsquoten in der EU höhere Ziele setzen sollten, um die Ge-
samtziele in der EU zu erreichen?
Wenn nein, warum nicht?

28. Welche Beschäftigungsziele wird sich die Bundesrepublik Deutschland in
ihrem Nationalen Reformprogramm für die in der EU-2020-Strategie be-
nannten Gruppen von gering qualifizierten Arbeitnehmern und Menschen
mit Migrationshintergrund setzen?

29. Hält die Bundesregierung das Ziel, die Schulabbrecherquote auf unter
10 Prozent zu senken für ausreichend, und ist vorgesehen dieses Ziel ange-
sichts der von anderen EU-Staaten berichteten Zielen im Rahmen einer Ge-
samtbetrachtung im Laufe des Entscheidungsprozesses noch zu korrigieren
und eine größere Senkung anzustreben?
Wenn ja, in welcher Form?
Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 25. März 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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