BT-Drucksache 17/5145

Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum und die Reaktionen von Bundesregierung und Europäischer Union

Vom 15. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5145
17. Wahlperiode 15. 03. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Niema Movassat, Thomas Nord, Petra Pau,
Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Flüchtlingssituation im Mittelmeerraum und die Reaktionen
von Bundesregierung und Europäischer Union

Die Aufstände der Bevölkerungen in einigen nordafrikanischen und arabischen
Staaten sind derzeit in aller Munde. Nach langen Jahren der engen wirtschaftli-
chen und politischen Kooperation mit den nun wankenden oder schon gestürzten
Regimes werden die Revolten allgemein begrüßt. Angesichts des bevorstehen-
den Sturzes zum Beispiel des Gaddafi-Regimes in Libyen fällt es nun offensicht-
lich leicht, harsche Kritik an der Menschenrechtslage zu äußern. Zuvor waren
solche Äußerungen von Seiten der Bundesregierung und der sie tragenden Par-
teien zumindest öffentlich unterblieben, milliardenschwere Investitionen der
deutschen Wirtschaft und der Zugriff auf das libysche Erdöl sollten nicht gefähr-
det werden. Die nun zur Schau gestellte Inbrunst, mit der das Regime zum
Gewaltverzicht aufgerufen wird, mutet angesichts der zuvor herrschenden
Sprachlosigkeit in Sachen Menschenrechte geradezu widersinnig an.

Flüchtlinge gehören zu den Gruppen, die in Libyen in besonderer Weise Objekte
staatlicher Willkür und Rechtlosigkeit waren und vermutlich auch weiterhin
sind. Nachrichten über die Situation in den zahlreichen über das Land verstreu-
ten Haftzentren für illegalisierte Migrantinnen und Migranten liegen kaum vor.
Noch ist nicht klar, ob sie im Falle einer zeitweisen oder dauerhaften Instabilität
im Land verstärkt versuchen werden, nach Europa zu gelangen. Nach den von
der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX (Europäische Agentur für
die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) vorgelegten Zahlen kam
es – u. a. durch das libysche Vorgehen gegen illegalisierte Migranten – zu einem
Rückgang der versuchten Überfahrten über das Mittelmeer um ca. 70 Prozent.
Diese Entwicklung könnte sich nun wieder umkehren.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der neuesten Ent-
wicklungen in Libyen (Krieg gegen die eigene Bevölkerung, Ausschluss aus
dem UN-Menschenrechtsrat) die jahrelangen Bemühungen der EU um eine
Kooperation mit Muammar al-Gaddafi in dem menschenrechtlich äußerst

sensiblen Bereich der „Kontrolle von Migrationsströmen“ und dem Zugang
von Asylsuchenden in die EU?

2. Geht die Bundesregierung weiterhin davon aus, dass die gegen jede Opposi-
tion gewaltsam vorgehende libysche Staatsspitze der richtige Empfänger von
Zahlungen der EU u. a. zur Errichtung und dem Unterhalt von Auffanglagern
für irreguläre Migrantinnen und Migranten und anderen Maßnahmen im Rah-
men des „Thematischen Programms Migration und Asyl“ war?

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3. Welche Projekte wurden im Rahmen dieses Programms konkret finanziert,
und welche waren die jeweiligen Kooperationspartner?

4. Unterstützt die Bundesregierung die Position des Exekutivdirektors von
FRONTEX, Ilkka Laitinen, dass es für den Erfolg der „Kontrolle von Mi-
grationsströmen“ an den Außengrenzen vor allem auf die Kooperation mit
den angrenzenden Staaten ankomme, und sollten FRONTEX und andere
EU-Institutionen und EU-Mitgliedstaaten dabei auch in Zukunft mit sol-
chen Regimes wie dem unter Muammar al-Gaddafi in Libyen kooperieren?

5. Wie viele Flüchtlinge bzw. irreguläre Migrantinnen und Migranten aus an-
deren afrikanischen und asiatischen Staaten, die ursprünglich Libyen als
Transitland ihrer Reise nach Europa nutzen wollten, befinden sich nach
Kenntnis der Bundesregierung derzeit in Libyen in Aufnahmelagern und
Abschiebeeinrichtungen?

6. Rechnet die Bundesregierung derzeit mit einem signifikanten Anstieg der
Zahl von irregulären Migrantinnen und Migranten, die Libyen (und andere
Mittelmeeranrainer) als Transitland für ihren Weg nach Europa zu nutzen?

7. Rechnet die Bundesregierung derzeit mit einer massenhaften Flucht von li-
byschen Staatsangehörigen in Richtung europäischer Staaten, und von wel-
chen Szenarien für die weitere innere Entwicklung Libyens und möglicher
Flüchtlingszahlen geht sie dabei aus?

8. Sieht die Bundesregierung in einer möglichen Massenflucht aus Libyen
einen Anwendungsfall für die Richtlinie über Mindestnormen für die Ge-
währung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von
Vertriebenen (Richtlinie 2001/EG/55), und welche Anforderungen müssten
erfüllt sein, damit die Bundesregierung im Europäischen Rat der Feststel-
lung eines solchen Zustroms zustimmen könnte?

9. Welche „Risikoanalysen“ hat FRONTEX seit ihrem Bestehen zu einem
Szenario vorgelegt, in dem die nordafrikanischen Diktaturen instabil wer-
den oder zusammenbrechen, und zu welchen Ergebnissen kommen diese
Risikoanalysen?

10. Wie viel Personal und Ausstattungsgegenstände werden im Rahmen der
laufenden FRONTEX-Operation „Hermes 2011“ eingesetzt, die der Auf-
deckung und Verhinderung irregulärer Grenzübertritte an der Seegrenze zu
Italien und Malta dienen?

Mit welchem Material und wie vielen Beamtinnen und Beamten wird sich
die Bundesrepublik Deutschland an dieser gemeinsamen Operation betei-
ligen, und welche Aufgaben wird diese übernehmen?

11. Was ist die Aufgabe der im Rahmen der Hermes-Operation in die italienischen
Aufnahmelager Crotone, Caltanissetta und Bari entsandten FRONTEX-
Experten, und wie viele deutsche Beamte befinden sich gegebenenfalls unter
den Experten in diesen Aufnahmelagern (bitte einzeln auflisten)?

12. Treffen Meldungen zu (vgl. swr.de, „Streit: EU-Tripolis-Abkommen gegen
illegale Migration“, 22. Februar 2011), dass die von Libyen betriebenen
Flüchtlingslager, die Flüchtlinge an ihrer Weiterfahrt nach Europa hindern
sollen, auch weiterhin durch Zahlungen der EU erhalten werden sollen?

13. Mit welchen Mechanismen wird sichergestellt, dass schutzbedürftige
Flüchtlinge an Bord von Booten, die im Rahmen der FRONTEX-Operation
„Hermes 2011“abgefangen werden, Zugang zu einem Asylverfahren erhal-
ten?

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14. Treffen Angaben zu, nach denen EUROPOL (Europäisches Polizeiamt)
eine mobile Dienststelle („mobile office“) in Lampedusa eröffnet hat, und
wenn ja, welche Aufgabe hat diese Dienststelle, und wie viele EUROPOL-
Bedienstete sind daran beteiligt?

15. Ist auch eine „analysis unit“ von EUROPOL vor Ort und erhebt Daten über
und von ankommenden Migrantinnen und Migranten, und zu welchem klar
umgrenzten Zweck?

16. Kooperiert EUROPOL im Rahmen seines Einsatzes mit FRONTEX, und
wird EUROPOL von FRONTEX genutzt, um das Fehlen einer eigenen
Kompetenz zur Erfassung und Verarbeitung personenbezogener Daten zu
kompensieren (bitte erläutern)?

17. Welchen Effekt erwartet oder erhofft sich die Bundesregierung von den der-
zeitigen Ereignissen für die weiteren Verhandlungen über die Neufassung
der FRONTEX-Verordnung, insbesondere

a) in Bezug auf die Erweiterung der Möglichkeiten von FRONTEX, eige-
nes Einsatzmaterial und eigenes operatives Personal zu beschaffen bzw.
zu beschäftigen;

b) in Bezug auf die Forderung der Kommission und FRONTEX, selbst per-
sonenbezogene Daten verarbeiten zu dürfen;

c) in Bezug auf die mögliche Verkürzung der Fristen, innerhalb derer Mit-
gliedstaaten Beamte für den Einsatz von Soforteinsatzteams für Grenz-
sicherungszwecke (Rapid Border Intervention Teams, RABIT) zur Ver-
fügung stellen müssen;

d) in Bezug auf den Vorschlag, im FRONTEX-Mandat die Staaten mit einer
besonderen Belastung des Asylsystems besonders zu berücksichtigen;

e) in Bezug auf den Vorschlag, die gemeinsamen Operationen (Joint Ope-
rations) und die RABIT-Einsätze zukünftig unter dem gemeinsamen
Namen „Europäisches Grenzschutzsystem“ zusammenzufassen?

18. Wie steht die Bundesregierung zu den Forderungen nach Aufbau einer
FRONTEX-Küstenwache, die über eigenes Personal und Ausstattung ver-
fügen soll?

Wie wird sich die Bundesregierung zu entsprechenden Vorschlägen im EU-
Innenministerrat verhalten?

19. Welche gemeinsamen Ansätze existieren in der EU, wie die in Libyen le-
benden Flüchtlinge und irregulären Migrantinnen und Migranten bei einem
Zusammenbruch staatlicher Autorität in Libyen geschützt werden können?

20. Inwieweit spielen der Umgang mit Flüchtlingen und irregulären Migrantin-
nen und Migranten in den Bemühungen der EU um Kontaktaufnahme zum
„nationalen Übergangsrat“ und ähnlichen Einrichtungen der libyschen
Opposition eine Rolle, und welche Priorität gibt die Bundesregierung dieser
Frage im Verhältnis zu einer neuen libyschen Staatsführung (bzw. Über-
gangsregierung)?

21. Welche eigenen Erkenntnisse hat die Bundesregierung zu Meldungen, nach
denen besonders subsaharische Migrantinnen und Migranten in Libyen ver-
stärkt Opfer von Übergriffen durch Anhänger der libyschen Opposition
werden, weil sie diese für Söldner Muammar al-Gaddafis halten?

22. In welcher Weise wird die Bundesregierung Aktivitäten des UNHCR (Amt
für den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) und von an-
deren Hilfsorganisationen unterstützen, besonders schutzbedürftige Perso-

nen aus Libyen in anderen Staaten unterzubringen?

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23. Wäre nach Ansicht der Bundesregierung die oben genannte Richtlinie 2001/
EG/55 auch für den Fall anwendbar, dass Lager und Abschiebeeinrichtun-
gen für Flüchtlinge und irreguläre Migrantinnen und Migranten von einer
Übergangsautorität geschlossen oder die dort Untergebrachten aus dem
Land gedrängt werden und dann versuchen, nach Europa zu gelangen?

24. Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, ihre bislang strikt ablehnende
Haltung gegenüber einem Aussetzungsmechanismus im Dublin-Verfahren
oder gegenüber einem geänderten Verantwortungsteilungsmechanismus be-
züglich der Flüchtlingsaufnahme in der EU zu ändern, auch angesichts des
Umstands, dass z. B. ein Aussetzungsmechanismus nach Feststellungen der
aktuellen EU-Präsidentschaft von den Mitgliedstaaten nicht mehr mehrheit-
lich grundsätzlich abgelehnt wird – auch infolge des so genannten M.S.S.-
Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte?

25. Wieso ist die Bundesregierung der Auffassung, dass innerhalb der EU ein
System der Verantwortungsteilung nach Bevölkerungsgröße und Wirt-
schaftskraft nicht möglich sein soll, wie es in der Bundesrepublik Deutsch-
land seit Jahrzehnten mit dem „Königsteiner Schlüssel“ unter anderem bei
der Verteilung Asylsuchender praktiziert wird (bitte nachvollziehbar be-
gründen)?

26. Wenn die Bundesregierung in dem Zusammenhang einer Verantwortungs-
teilung innerhalb der EU immer wieder auf die Aufnahme von Flüchtlingen
durch die Bundesrepublik Deutschland in der ersten Hälfte der 90er-Jahre
verweist, inwieweit

a) hält sie einen solchen Verweis auf die Vergangenheit in Hinblick auf die
aktuelle Diskussion und den aktuellen Handlungsbedarf für weiterfüh-
rend und von der Idee innereuropäischer „Solidarität“ getragen;

b) berücksichtigt sie dabei, dass die Zahl der in Deutschland lebenden aner-
kannten Flüchtlinge wie auch der Asylsuchenden in den letzten 15 Jahren
drastisch gesunken ist und mithin Aufnahmekapazitäten für humanitäre
Entscheidungen objektiv bestünden (1997 lebten noch gut 200 000 Asyl-
berechtigte bzw. Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention
in Deutschland, Ende 2010 waren nur noch 115 000, d. h. gerade einmal
0,14 Prozent der Gesamtbevölkerung; die Zahl der Asylsuchenden und
Geduldeten sank im gleichen Zeitraum noch deutlicher von 650 000 auf
137 000; vgl. Bundestagsdrucksachen 16/8321 und 17/4791)?

27. Wie rechtfertigt die Bundesregierung den Einsatz von Bundespolizeibeam-
ten im Rahmen des EU-RABIT-Einsatzes in Griechenland vor dem Hinter-
grund der M.S.S.-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte vom 21. Januar 2011, mit dem festgestellt wurde, dass die Asyl-
und Inhaftierungsbedingungen in Griechenland menschenrechtswidrig sind,
und obwohl z. B. auch Simone Troller von Human Rights Watch e. V. in der
„Süddeutschen Zeitung“ vom 8. Februar 2011 forderte, dass deutsche
Polizeibeamte unter diesen Bedingungen nicht weiter an der griechisch-
türkischen Grenze eingesetzt werden dürften?

Berlin, den 11. März 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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