BT-Drucksache 17/4879

Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4879
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Petra Pau, Jens Petermann, Raju
Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Abzug deutscher Polizisten aus Afghanistan

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Deutsche Polizistinnen und Polizisten aus Bund und Ländern bemühen sich
seit dem Jahr 2002 um den Aufbau einer afghanischen Polizei. Die deutschen
Beamten, die freiwillig nach Afghanistan gehen, bringen dafür hohes Enga-
gement und hohe Motivation mit. Sie leisten ihre Arbeit in einem unwirt-
lichen Land unter extremen Verhältnissen.

2. In Afghanistan herrscht eine kriegsähnliche Situation. Auch die Bundesregie-
rung spricht mittlerweile von einem „nichtinternationalen bewaffneten Kon-
flikt“. Damit geht eine gesteigerte Gefährdung der eingesetzten deutschen
Polizeibeamtinnen und -beamten einher. Es ist nicht Aufgabe deutscher
Polizistinnen und Polizisten, in Kriegsgebieten zu arbeiten.

3. Die Entsendestaaten der internationalen Polizeiausbilderinnen und Polizei-
ausbilder, die in Afghanistan tätig sind, verfolgen verschiedene, teilweise
direkt miteinander konkurrierende strategische Ansätze. Dabei dominiert
eindeutig der Ansatz, die afghanische Polizei als Bürgerkriegstruppe im
Kampf gegen die Aufständischen zu verwenden.

4. Die Bilanz der bisherigen Aufbauarbeit ist desaströs und wird geprägt von
weitverbreiteter Korruption, unzureichender Abstimmung der internationa-
len Ausbilder, der Priorisierung militärischer Ansätze der Polizeiausbildung,
einer extrem hohen Fluktuation bei der afghanischen Polizei. Diese genießt
in der afghanischen Bevölkerung einen extrem schlechten Ruf und wird mehr
als Teil des Sicherheitsproblems denn als dessen Lösung wahrgenommen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Angehörige der Bundespolizei künftig nicht mehr zu Ausbildungszwecken nach
Afghanistan zu entsenden und das bilaterale German Police Project Team
(GPPT) sowie die deutsche Beteiligung an der EU-Polizeimission in Afghanis-
tan (EUPOL AFG) einzustellen sowie die derzeit in Afghanistan befindlichen
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten unverzüglich abzuziehen.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/4879 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Seit dem Jahr 2002 waren über 1 000 Polizeivollzugsbeamte des Bundes und der
Länder im freiwilligen Einsatz in Afghanistan (Quelle: Antwort der Bundes-
regierung auf die Große Anfrage „Polizeiausbildung in Afghanistan“, Bundes-
tagsdrucksache 17/2878).

Ihr Einsatz muss als gescheitert angesehen werden. Die afghanische Polizei ist
zwar zahlenmäßig angewachsen, die Rechtsstaatlichkeit jedoch nicht. Sie ist viel
mehr Warlords, Drogenbaronen und Kriegsverbrechern verpflichtet als demo-
kratischen Prinzipien. Kriminelle Netzwerke ziehen sich bis in höchste Regie-
rungsstellen. Die internationalen Akteure auf dem Gebiet der Polizeiausbildung
verfolgen überwiegend militärische Vorstellungen. Vor allem die USA setzen
darauf, Polizisten gleichsam als Kanonenfutter in den Bürgerkrieg zu werfen.

Am deutlichsten zeigt sich die Militarisierung der afghanischen Polizei bei der
Bereitschaftspolizei (ANCOP), die mittlerweile offiziell als „Gendarmerie“ be-
zeichnet wird. Sie wird z. T. von der paramilitärischen „European Gendarmerie
Force“ ausgebildet. Doch das Prinzip der Vermischung ziviler mit militärischen
Aspekten kennzeichnet die gesamte afghanische Polizei.

Der Lehrplan wird federführend vom Combined Security Transition Command –
Afghanistan (CSTC-A) erstellt, das dem Pentagon unterstellt ist und praktisch
mit der auf dem NATO-Gipfel im Jahr 2009 beschlossenen NATO-Training
Mission (NTM-A) fusioniert ist. NTM-A und CSTC-A koordinieren auch die
Ausbildung und kümmern sich um die materielle Ausstattung.

Auf Seiten der Ausbilder drückt sich die militärische Dominanz schon darin aus,
dass das US-Pentagon derzeit 1 500 Polizeiausbilder beschäftigt, die NATO-Mis-
sion weitere 1 000. Damit werden das bilaterale German Police Project Team
(GPPT) und die EU-Mission EUPOL Afghanistan (EUPOL AFG) mit derzeit
rund 500 Kräften schon rein zahlenmäßig vom Militär dominiert. Doch auch die
europäischen Ausbilder teilen den Ansatz einer militarisierten Polizeiarbeit. Das
räumt die Bundesregierung offen ein, wenn sie ausführt, dass die afghanischen
Polizeieinheiten „robustere Elemente als eine Polizei nach europäischen Maß-
stäben“ erhalten solle (Bundestagsdrucksache 17/2878). Dazu gehöre auch
„eine modulare Ausbildung im militärischen Sinne“, so die Bundesregierung.

Die unmittelbar militärisch relevanten Teile der Ausbildung werden zwar nicht
von deutschen Polizisten geleistet, sondern von der Bundeswehr, wozu auch die
Ausbildung an Kurz- und Langwaffen gehört. Der Charakter der afghanischen
Polizei als paramilitärische Kraft wird hierdurch geradezu unterstrichen. Es wird
deutlich, dass das Engagement deutscher Polizeiausbilder der Führung eines
Bürgerkrieges dient.

Dass in Afghanistan Krieg bzw. Bürgerkrieg herrscht, wird auch von der Bun-
desregierung nicht länger bestritten. Doch deutsche Polizisten haben in Kriegs-
gebieten nichts zu suchen. Ein Einsatz im Kriegsgebiet entspricht weder dem in
Deutschland üblichen polizeilichen Selbstverständnis noch ihrem verfassungs-
rechtlichen Auftrag, noch ist er politisch und unter Sicherheitsaspekten zu ver-
antworten. Der Einsatz deutscher Polizisten in Kriegs- und Krisengebieten birgt
zudem die Gefahr der Traumatisierung von Polizeibeamten und droht der fort-
schreitenden Militarisierung der Polizei Vorschub zu leisten.

Die Sicherheitsgefährdung liegt auf der Hand: Mindestens 4 500 afghanische
Polizisten sind seit 2003 im Dienst ums Leben gekommen. Die Zahl der An-
schläge im Land nimmt seit Jahren zu. Im ersten Halbjahr 2010 stieg die Zahl
der sicherheitsrelevanten Vorfälle auch im Norden Afghanistans nach Angaben
der Bundesregierung um 120 Prozent (Bundestagsdrucksache 17/2845). Vor
diesem Hintergrund muss insbesondere der Einsatz deutscher Polizisten beim
Focus District Development (FDD) angesprochen werden. Hierbei begleiten sie

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4879

afghanische Polizisten gleichsam „im Felde“, unter Begleitung der Bundeswehr.
Diese ist für die Einschätzung der Sicherheitslage zuständig. Wie die Erfahrung,
die auch die Bundeswehr schon mehrfach machen musste, zeigt, gibt es in
Afghanistan aber keine „sicheren Zonen“, so dass deutsche Polizisten einer
dauerhaften, unverantwortlichen Gefährdung ausgesetzt werden.

In der afghanischen Bevölkerung überwiegt ein äußerst negatives Bild von der
Polizei. Sie wird von vielen Afghaninnen und Afghanen mehr als Teil des
Sicherheitsproblems denn als Beitrag zu seiner Lösung wahrgenommen.
Seinen Grund hat dieses negative Image vor allem in der Korruption und
der weitverbreiteten Praxis, sich durch illegale Praktiken zu bereichern. So
führt auch der US-Sonderbeauftragte für die Ausbildung der afghanischen
Sicherheitskräfte (SIGAR) aus, afghanische Polizisten zweigten Waffen ab und
bereicherten sich an Checkpoints. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter spricht
in diesem Zusammenhang von der „Straßenräuber-Abzockerei“.

Berichte deutscher Polizisten, aber auch von Soldaten der Bundeswehr, verdeut-
lichen das Desaster. Sie schildern, in Zeitschriften wie „Deutsche Polizei“ oder
„loyal“, wie hochwertige Computerausrüstung, die dem afghanischen Innen-
ministerium geliefert wurde, in Besenkammern verrottet. Sie schildern, dass die
afghanische Grenzpolizei Teil der Drogenwirtschaft ist, dass Polizeikomman-
danten nicht nach Fähigkeit, sondern nach Bezahlung bzw. Verwandtschaftsgrad
zum Präsidenten ernannt werden. Zudem ist die afghanische Polizei bekannt für
ihre unverhältnismäßige Gewaltanwendung.

Die USA unterstützen in einigen Distrikten den Aufbau von „Bürgerwehren“
und kooperieren mit illegalen bewaffneten Gruppierungen. Seit Sommer dieses
Jahres werden ebenfalls unter Federführung der USA sogenannte Local Police
Forces aufgebaut, wobei es sich faktisch vor allem um die Integration bestehen-
der Milizen in den Polizeiapparat handelt – bzw. darum, dass bestehende Mili-
zen eine Uniform erhalten und damit legalisiert werden. Auch solche Vorgänge
sind nicht dazu angetan, bei der afghanischen Bevölkerung Vertrauen in die
Polizei zu wecken.

Die Bundesregierung hat keinerlei Kenntnis davon, wie viele jener Polizisten,
die von deutschen Ausbildern aus- bzw. fortgebildet worden sind, heute noch ih-
ren Dienst verrichten. Sie geht von einem Personalschwund von rund 20 Prozent
aus. Das US-„Center for Strategic and International Studies“ gibt in einem Be-
richt vom April 2010 an, einigen Experten zufolge betrage die gegenwärtige
Zahl nichtausgebildeter Polizisten 78 Prozent des Gesamtpersonalbestandes.
Nicht einmal die absolute Zahl der heute einsatzbereiten Polizisten kann bezif-
fert werden. Der Bundesminister des Innern hat mehrfach bestätigt, dass zwi-
schen den offiziellen Angaben aus dem Kabuler Innenministerium und den
Schätzungen der NATO große Differenzen bestehen. Die Anzahl sogenannter
Geisterrekruten soll Schätzungen der britischen Botschaft in Kabul zufolge bis
zu 25 Prozent betragen (The Independent, 28. März 2010).

Ebenso desolat wie das Polizeiwesen ist das Justizwesen, das auch heute noch
stark an der Scharia orientiert ist. Ein Versuch, moderne säkulare Rechtsnormen
mit militärischer Gewalt durchzusetzen, ist zum Scheitern verurteilt. Hinzu
kommt, dass demokratische Prinzipien von den herrschenden Eliten in Afgha-
nistan selbst weitgehend ignoriert werden. Die Korruption tut ein Übriges, um
das Ansehen der afghanischen Justiz zu untergraben. Die Bundesregierung
räumt selbst in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
ein: „Die Stammes- und Dorfältesten werden in vielen Regionen als bessere Al-
ternative zur staatlichen Justiz angesehen, da sie im Ruf stehen, schnell und fair
zu entscheiden und nicht korrupt zu sein.“ Auch dies verdeutlicht das Scheitern
von bislang acht Jahren Polizei- und Justizaufbau.

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Die Hilfe für den Aufbau der afghanischen Polizei dient objektiv dem Aufbau
eines weiteren hochkorrupten Unterdrückungsapparates, der letztlich in den
Händen von Warlords, Drogenbossen und Kriegsverbrechern ist – bis in die
Spitzen der afghanischen Regierung. Die Hoffnungen der schwachen demokra-
tischen Kräfte in Afghanistan, diejenigen Kriminellen, die seit Jahrzehnten für
Verbrechen an der Bevölkerung verantwortlich sind, zu bestrafen, werden kon-
terkariert, wenn man stattdessen die Macht dieser Kriminellen stärkt. Es muss
Schluss damit sein, dass diejenigen Polizisten, die Schlagstöcke gegen friedliche
Menschen – an Checkpoints wie bei Demonstrationen – einsetzen, die hierfür
notwendige Ausbildung mit deutscher Hilfe erhalten.

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