BT-Drucksache 17/4833

Maßnahmen gegen "gewaltorientierten Linksextremismus"

Vom 21. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4833
17. Wahlperiode 21. 02. 2011

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Andrej Hunko, Jens Petermann, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Maßnahmen gegen „gewaltorientierten Linksextremismus“

Vermeintlich „linksextreme“ oder „gewaltbereite“ linke Organisationen sowie
Einzelpersonen stehen verstärkt im Fokus polizeilicher und geheimdienstlicher
Maßnahmen. Auf der 191. Sitzung der Innenministerkonferenz (IMK) am
18./19. November 2010 wurden weitere Maßnahmen und Handlungsempfehlun-
gen beschlossen bzw. für geeignet erklärt, die auf eine Einschränkung des
Datenschutzes und der Freiheitsrechte hinauslaufen. So muss etwa die erneut
geforderte Einrichtung einer europaweiten Datei über „international agierende
Gewalttäter“ auf schwerwiegende Bedenken stoßen – schließlich kann man in
den einschlägigen Dateien des Bundeskriminalamtes (BKA) auch schon dann
als angeblicher „Gewalttäter“ gespeichert werden, wenn man niemals wegen
einer Gewalttat verurteilt worden ist. Nach Verfahrenseinstellungen, ggf. selbst
nach Freisprüchen, kann eine Person immer noch in polizeilichen Datenbanken
auf Jahre hinaus der unbewiesenen Stigmatisierung als Straftäterin bzw. Straftä-
ter ausgesetzt sein.

Problematisch ist auch die Absicht, eine „verstärkte Aufklärung der gewaltbe-
reiten Szene durch menschliche Quellen“ zu betreiben – nicht nur, weil die Ge-
waltbereitschaft mitunter nur behauptet wird, sondern auch, weil damit offenbar
ein verstärkter Einsatz von V-Leuten angestrebt wird. In der jüngsten Vergan-
genheit hat sich an Hand der Debatte um den britischen Polizeispitzel Mark
Kennedy alias „Stone“ bestätigt, dass es gerade solche verdeckten Ermittler
sind, die mitunter erst Straftaten begehen bzw. als agents provocateurs zu sol-
chen anstacheln.

Fragen wirft darüber hinaus der Begriff „linksextremistische Gefährder“ auf, der
in diesem Zusammenhang gefallen ist (im Rahmen eines Auftrages, der auf der
190. Sitzung der IMK erteilt worden ist). Der Begriff „Gefährder“ wird seit dem
11. September 2001 schwerpunktmäßig im Kontext des sog. islamistischen Ter-
rorismus genutzt. Als „Gefährder“ gilt eine Person, wenn nach Einschätzung der
Polizei bzw. Staatsanwaltschaft „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtferti-
gen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung (…) be-
gehen wird“ (siehe hierzu Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundes-
tages, 23. Juli 2008). Eine Legaldefinition gibt es für den Begriff nicht, obwohl
mit der Einstufung als „Gefährder“ erhebliche Eingriffsbefugnisse der Sicher-

heitsbehörden in die Bürgerrechte der Betroffenen legitimiert werden, weit im
Vorfeld gerichtsverwertbarer Beweise. Angesichts der Tendenz der Sicherheits-
behörden und der offiziellen Sicherheitspolitik, linksradikale politische Be-
wegungen für „extremistisch“ zu erklären, muss befürchtet werden, dass die
angestrebten Instrumente und Konzeption gegen „gewaltbereiten Linksextremis-
mus“ zu weiteren Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung führen.

Drucksache 17/4833 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie lautet gegenwärtig die in der Praxis verwandte polizeiliche Definition
der Begriffe „Gefährder“ sowie „relevante Person“, und welche Kritierien
werden in der Praxis als „Tatsachen“ genommen, welche die Annahme einer
Gefährdung begründen?

2. Was spricht aus Sicht der Bundesregierung dagegen, den Gefährderbegriff
gesetzlich zu definieren, ebenso wie den Begriff „relevante Person“?

a) Nimmt die Bundesregierung an, für die Verwendung dieser Begriffe sei
eine Legaldefinition nicht erforderlich?

b) Inwiefern ist dies mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz vereinbar?

3. Ist das BKA nach Auffassung der Bundesregierung trotz des Fehlens einer
Legaldefinition des Begriffs im Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) zur
Überwachung von „Gefährdern“ befugt, und wenn ja, auf welcher Rechts-
grundlage?

Hat das BKA seit Änderung des BKAG im Jahr 2008 unter Nutzung der da-
mit neu hinzugekommenen Überwachungsbefugnisse bereits „Gefährder“
überwacht oder überwacht es sie derzeit, und wenn ja,

a) um welche Maßnahmen handelte es sich,

b) in wie vielen Fällen wurden sie angewandt,

c) gegen wie viele „Gefährder“ richten sich die Maßnahmen,

d) in wie vielen dieser Fälle ergab sich im Ergebnis der Maßnahmen ein kon-
kreter Tatverdacht, der in weitere polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche
Ermittlungen mündete,

e) in wie vielen Fällen erfolgte jeweils eine Anklage, eine Einstellung oder
dauern die Ermittlungen noch an?

4. Welche Maßnahmen beinhalten die zwischen Bund und Ländern abgestimm-
ten Gefährderprogramme?

5. Welcher Rechtsschutz besteht für die ohne ihr Wissen davon Betroffenen, die
Eingriffe in ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinnehmen
müssen?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Wirksamkeit der Gefährderpro-
gramme, und woran misst sie diese Wirksamkeit?

Inwiefern gibt es wissenschaftliche Evaluationen der Programme oder wer-
den diese angestrebt?

7. Nimmt das Bundeskriminalamt selbst Gefährdereinstufungen vor, oder dient
es den Ländern diesbezüglich lediglich als koordinierende Zentralstelle?

8. Gibt es eine von der oben abgefragten Definition eine abweichende Definition
zur Beschreibung „linksextremistischer Gefährder“, und wenn ja, wie lautet
diese?

Gehört der Begriff „linksextremistische Gefährder“ zur üblichen Sprachrege-
lung der Bundesregierung?

Wann wurde eine gegebenenfalls abweichende Definition festgelegt, und von
wem?

9. Welchen Stand hat derzeit das Vorhaben der Einrichtung einer europaweiten
Datei über „international agierende Gewalttäter“, und inwiefern will die Bun-
desregierung darauf drängen, dass hierin nur solche Personen gespeichert

werden, denen eine Gewalttat gerichtlich nachgewiesen wurde?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4833

a) Wie soll diese Datei nach Auffassung der Bundesregierung ausgestaltet
sein hinsichtlich der Aufgliederung nach Phänomenbereichen, Zugriffs-
und Einspeisebefugnissen, Informations- und Widerspruchsrechte der
Betroffenen?

b) Wie steht die Bundesregierung zum Vorschlag der EU-Kommission, die
Datensammlung zu „international agierenden Gewalttätern“ im Straf-
register EPRIS anzusiedeln, und wann ist mit einer Fertigstellung der in
Arbeit befindlichen Machbarkeitsstudie zu rechnen?

c) Wie bewertet die Bundesregierung die Problematik, dass in der Daten-
sammlung zu „international agierenden Gewalttätern“ zwar EU-weit
„Störer“ gesammelt werden sollen, dieser Begriff aber nicht in allen Mit-
gliedstaaten gesetzlich definiert ist, und wird sie die Einspeisung von
Daten aus Beständen des BKA von der Erstellung einer solchen gemein-
samen Definition abhängig machen?

10. Welche Maßnahmen und Projekte werden derzeit ausgehend oder unter Be-
teiligung von Sicherheitsbehörden sowie Akademien und Forschungsein-
richtungen des Bundes zur „Früherkennung“ sowie strategischen und ope-
rativen Auswertung von Erkenntnissen über sogenannte linksextreme
Gewalttäter unternommen?

a) Wer leitet die Maßnahmen verantwortlich?

b) Wer hat die Maßnahme vorgeschlagen und entwickelt?

c) Welche finanziellen Mittel werden dafür verwandt?

d) Worin genau bestehen diese Maßnahmen?

e) Wer ist in die Maßnahme bzw. Vorbereitung ihrer Entwicklung noch mit
eingebunden, und welcher Art ist die Beteiligung?

f) Welche weiteren Kooperationen bzw. Koordinationen gibt es hierbei,
insbesondere mit ausländischen Polizeien sowie mit Länderpolizeien?

g) Welche Ergebnisse und welcher Nutzen werden angestrebt?

11. Welche Datenbanken sowie Formen des Datenaustausches gibt es in diesem
Zusammenhang bislang, und welche Veränderungen bzw. Neuerrichtungen
sind beabsichtigt (bitte auch sämtliche internationalen Datenbanken und
Formen des Datenaustausches angeben, an denen Bundessicherheitsbehör-
den beteiligt sind, und angeben, wer die Datenbanken verwaltet, wie sie
nach Phänomenbereichen aufgegliedert sind, wie Zugriffs- und Einspeise-
befugnisse sowie Informations- und Widerspruchsrechte der Betroffenen
ausgestaltet sind)?

12. Was ist unter dem Analyse- und Auswerteprojekt „Bundeslagebild Gewalt-
bereiter Linksextremismus“ sowie dem Gemeinsamen Auswerteprojekt
„Gefährdungsanalyse des gewaltorientierten Linksextremismus – Schwer-
punkt Autonome“ zu verstehen?

a) Wer hat dieses Projekt vorgeschlagen, wer leitet es, und wer beteiligt sich
hieran?

b) Welche Daten sollen in die Projekte einfließen, was ist das angestrebte
Ergebnis, und welchen Nutzen versprechen sich die Sicherheitsbehörden
hiervon?

c) Welche Kosten sind hiermit verbunden, wer trägt diese, und bis wann
wird das Projekt voraussichtlich abgeschlossen sein?

d) Inwiefern ist beabsichtigt, die Öffentlichkeit über Verlauf und Ergebnis

der Projekte zu informieren?

Drucksache 17/4833 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

13. Inwiefern sind Sicherheitsbehörden des Bundes derzeit an Projekten zur
„Aufhellung“ und Bewertung des behaupteten „gewaltbereiten Personen-
potentials – links“ und zur konsequenteren Nutzung der Datei „Gewalttäter
links“ beteiligt?

a) Was ist unter „Aufhellung“ zu verstehen?

b) Welche Mittel sollen hierzu verwandt und welche Daten genutzt werden?

c) Wer ist an den Projekten beteiligt, wer hat sie initiiert, und worin beste-
hen ihre wesentlichen Inhalte?

d) Was ist mit „konsequenter“ Nutzung der Datei „Gewalttäter links“ ge-
meint?

e) Inwieweit sind erweiterte Befugnisse zum Einspeisen, zum Zugriff oder
zur Datenweitergabe beabsichtigt?

f) Worin bestehen aus Sicht der Bundesregierung derzeit Defizite bei der
Nutzung der Datei „Gewalttäter links“, und welche Möglichkeiten zu
ihrer Beseitigung hält sie für sinnvoll?

14. Wo sind die Datenbanken GLINS, „Linkportal“ und die Projektdatei „Ge-
waltbereite Linksextremisten“ angesiedelt, und wie lauten die entsprechen-
den Errichtungsanordnungen (bitte im Wortlaut angeben)?

a) Wer hat unter welchen Bedingungen Zugriff auf die darin gespeicherten
Daten?

b) Inwiefern haben ausländische Polizeibehörden oder Nachrichtendienste
sowie militärische Stellen Zugriff auf die Daten?

c) Unter welchen Bedingungen dürfen Daten aus diesen Datenbanken an
andere Stellen (welche?) weitergegeben werden, und gehören auch (aus-
ländische) militärische Stellen hierzu?

d) Welche Angaben beinhalten diese Datenbanken, und welche Anhalts-
punkte führen zur Eintragung in diese?

e) Wie viele Personen sind derzeit in diesen Datenbanken gespeichert?

15. Welche Maßnahmen wollen die Sicherheitsbehörden des Bundes ergreifen,
bzw. an welchen Maßnahmen wirken sie mit zur Optimierung der Nachrich-
tengewinnung zur Aufklärung des angeblich gewaltbereiten Personenpoten-
zials?

16. Was ist unter dem Projekt „Verstärkte Aufklärung der gewaltbereiten Szene
durch menschliche Quellen“ zu verstehen?

a) Handelt es sich hierbei um die Einschleusung verdeckter Ermittler, um
die Anwerbung von Vertrauenspersonen in linken Szenen oder um bei-
des?

b) Welche Rolle kommt hierbei den Sicherheitsbehörden des Bundes zu?

c) Inwiefern ist eine Verstärkung des bisherigen Ansatzes angestrebt?

d) Welchen Umfang hat der bisherige Ansatz, und inwiefern ist eine Ver-
stärkung bzw. Intensivierung beabsichtigt?

e) Inwiefern soll der Einsatz „menschlicher Quellen“ in Hinblick auf seinen
Nachrichtenwert optimiert werden?

f) Welche Bedeutung kommt hierbei dem Einsatz ausländischer „mensch-
licher Quellen“ zu, und inwiefern ist beabsichtigt, diese Bedeutung zu
ändern?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4833

g) Welche Bedeutung kommt hierbei dem Einsatz von deutschen Behörden
geführter „menschlicher Quellen“ im Ausland zu?

17. Inwiefern ist eine Intensivierung der Internetauswertung angestrebt, und
wie soll sich diese gestalten?

a) Welche Rolle kommt hierbei den Behörden des Bundes zu?

b) Beschränkt sich die Auswertung auf die Erfassung der Inhalte von Home-
pages oder erstreckt sie sich auch auf die Erfassung von Zugriffsverhal-
ten, also eine Erfassung von Internetnutzern, die „verdächtige“ Home-
pages aufsuchen bzw. darin enthaltene Inhalte abrufen?

c) Inwiefern soll hierbei von den durch das neue BKAG erweiterten Befug-
nissen Gebrauch gemacht werden?

d) Welche Formen der Zusammenarbeit werden hierfür angestrebt mit aus-
ländischen Behörden (welchen?), und wie soll dabei die Zusammen-
arbeit zwischen Polizei und Geheimdiensten geregelt werden?

18. Welche Bedeutung kommt der Koordinierungsgruppe PMK-links zu, die
unter Federführung des BKA und unter Beteiligung aller Landeskriminal-
ämter, der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern sowie der
Generalbundesanwaltschaft operieren soll?

a) Wann ist die Koordinierungsgruppe eingerichtet worden?

b) Welche Tätigkeiten soll die Koordinierungsgruppe unternehmen?

c) Welche Konzeption hat die Koordinierungsgruppe, und inwiefern soll
diese überarbeitet werden?

Welchen Ansatz vertritt hierbei die Bundesregierung?

d) Welche Bereiche der „Politischen Kriminalität – links“ sollen von der
Koordinierungsgruppe erfasst werden?

e) Wie soll aus Sicht der Bundesregierung der Grundsatz der Trennung von
Polizei und Geheimdienst gewahrt werden, wenn Geheimdienstler und
Polizisten sich über die Phänomene „politisch motivierter Kriminalität“
austauschen und sich operativ abstimmen?

f) Wie rechtfertigt die Bundesregierung dieses Vorhaben angesichts der
Tatsache, dass selbst solche Taten, die nach Auffassung des BKA „links-
motivierte politische Kriminalität“ darstellen, nicht in jedem „extremis-
tisch“ und somit kein Fall für die Geheimdienste sind?

g) Welche Art von Informationen dürfen Geheimdienste mit Polizeibehör-
den austauschen, und welche nicht?

h) Inwiefern ist beabsichtigt, den Deutschen Bundestag über die Arbeit der
Koordinierungsgruppe anlasslos oder anlassbezogen zu informieren?

Berlin, den 21. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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