BT-Drucksache 17/4773

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 17/902 - Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen

Vom 14. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4773
17. Wahlperiode 14. 02. 2011

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(21. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich,
Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.
– Drucksache 17/902 –

Gegen Armut und soziale Ausgrenzung – Soziale Fortschrittsklausel
in das EU-Vertragswerk aufnehmen

A. Problem

Die Antragsteller sehen durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofes (EuGH) soziale Grundrechte und gewerkschaftliche Rechtspositionen in
Frage gestellt. In Berufung auf eine Erklärung des Europäischen Gewerkschafts-
bundes (EGB) vom 4. März 2008 beantragten die Antragsteller bereits am
14. Mai 2009 (Drucksache 16/13056), dass sich die Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene für die Aufnahme eines Protokolls mit dem Inhalt einer sozialen
Fortschrittsklausel einsetze.

Angesichts geplanter Änderungen des Vertrags von Lissabon fordern die Antrag-
steller die Bundesregierung auf, Vertragsänderungen nur zuzustimmen, soweit
sie die Aufnahme eines Protokolls mit dem Inhalt einer sozialen Fortschritts-
klausel entsprechend dem Vorschlag des EGB umfassen. Danach sollen im Falle
eines Konfliktes soziale Grundrechte und der soziale Fortschritt Vorrang vor
allen Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln haben.

B. Lösung

Ablehnung des Antrags mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. bei Stimment-
haltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
C. Alternativen

Keine.

D. Kosten

Kosten wurden nicht erörtert.

Drucksache 17/4773 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

den Antrag auf Drucksache 17/902 abzulehnen.

Berlin, den 9. Februar 2011

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Gunther Krichbaum
Vorsitzender

Dr. Johann Wadephul
Berichterstatter

Dr. Eva Högl
Berichterstatterin

Gabriele Molitor
Berichterstatterin

Alexander Ulrich
Berichterstatter

Manuel Sarrazin
Berichterstatter

III. Stellungnahme des mitberatenden Ausschusses lichen sozialen Fortschrittsklausel sehe. Soziale Aspekte seien nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ins-

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat die Vorlage
17/902 in seiner 48. Sitzung am 9. Februar 2011 beraten und
empfiehlt mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE.

besondere in Artikel 3 Absatz 3 und Artikel 7 EUV ausrei-
chend primärrechtlich verankert. Es sei zu erwarten, dass die
Rechtsprechung des EuGH auf der neuen rechtlichen Grund-
lage im Einzelfall zu anderen Ergebnissen gelange. Gegen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4773

Bericht der Abgeordneten Dr. Johann Wadephul, Dr. Eva Högl, Gabriele Molitor,
Alexander Ulrich und Manuel Sarrazin

I. Überweisung

Der Deutsche Bundestag hat die Vorlage auf Drucksache
17/902 in seiner 27. Sitzung am 4. März 2010 beraten und an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zur federführenden Beratung und an den Ausschuss
für Arbeit und Soziales zur Mitberatung überwiesen.

II. Wesentlicher Inhalt der Vorlage

Mit ihrem Antrag kritisiert die Fraktion DIE LINKE. die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH)
der Jahre 2007 bis 2008, insbesondere in den EuGH-Urteilen
vom 23. Oktober 2007 – C 112/05 (Kommission vs. Bundes-
republik Deutschland), vom 11. Dezember 2007 – C 438/05
(International Transport Workers’ Federation u. a. vs. Viking
Line ABP u. a.), vom 18. Dezember 2007 – C 341/05 (Laval
un Partneri Ltd vs. Svenska Byggnadsarbetareförbundet
u. a.), vom 3. März 2008 – C 346/06 (Dirk Rüffert vs. Land
Niedersachsen) und vom 19. Juni 2008 – C 319/06 (Kom-
mission vs. Luxemburg). Hierdurch würden soziale Grund-
rechte und gewerkschaftliche Rechtspositionen wie öffent-
liche Einflussmöglichkeiten gegenüber den Binnenmarkt-
freiheiten und den Wettbewerbsregeln benachteiligt. Der Eu-
ropäische Gewerkschaftsbund (EGB) habe deshalb mit
Erklärung vom 4. März 2008 die Aufnahme eines Protokolls
gefordert, das sozialen Grundrechten und gewerkschaft-
lichen Rechtspositionen eine stärkere Gewichtung einräu-
men soll. Nach einem von der Mehrheit des Deutschen Bun-
destages abgelehnten Antrag vom 14. Mai 2009 (Drucksache
16/13056) sehen die Antragsteller aufgrund der geplanten
Vertragsänderungen im Zusammenhang mit einer Aufnahme
Kroatiens und Islands erneut die Gelegenheit, die Aufnahme
einer Sozialen Fortschrittsklausel in das EU-Vertragsrecht zu
fordern.

Der Deutsche Bundestag solle deshalb die Bundesregierung
auffordern, Änderungen des Vertrags von Lissabon nur zu-
zustimmen, wenn sie die Aufnahme eines Protokolls mit
dem Inhalt einer sozialen Fortschrittsklausel entsprechend
dem Wortlaut der Erklärung des EGB vom 4. März 2008 ent-
halten. Nach der Erklärung sollen im Konfliktfall sozialen
Grundrechten und dem sozialen Fortschritt Vorrang vor an-
deren Regelungen des Vertrags, insbesondere den Binnen-
marktfreiheiten und den Wettbewerbsregeln, eingeräumt
werden. Die Binnenmarktfreiheiten seien grundsätzlich so
auszulegen, dass sie die Ausübung der sozialen Grundrechte,
wie sie das EU-Recht und die Rechtsordnungen der Mit-
gliedstaaten anerkennen, nicht beeinträchtigen.

IV. Beratung im federführenden Ausschuss

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union hat in seiner 22. Sitzung am 6. Oktober 2010 eine An-
hörung zur sozialen Fortschrittsklausel durchgeführt. Zu den
Fragen: „Wie wirkt eine Soziale Fortschrittsklausel im Pri-
märrecht? Ist sie erforderlich? Gibt es Alternativen?“ kamen
die anwesenden Experten zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Nach Prof. Dr. Jens Schubert (ver.di) ist eine Soziale Fort-
schrittsklausel im Primärrecht erforderlich. Der EuGH habe
soziale Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten abge-
wertet, was gegen den Gedanken des EUV verstoße und da-
mit eine „Unwucht“ zuungunsten insbesondere kollektiver
sozialer Rechte zur Folge habe. Artikel 3 Absatz 3 des Ver-
trages über die Europäische Union (EUV) verdeutliche, dass
der Binnenmarkt lediglich ein Instrument zur Erreichung
dort genannter Ziele, wie der sozialen Marktwirtschaft und
dem sozialen Fortschritt darstelle. Dr. Jan Cremers (Euro-
päischer Gewerkschaftsbund) stimmte dem zu und nannte
darüber hinaus die unterschiedliche Umsetzung der sog. Ent-
senderichtlinie (96/71/EG) als Grund für das Erfordernis
einer primärrechtlichen Verankerung einer Sozialen Fort-
schrittsklausel. Dem gegenüber vertrat Prof. Dr. Gregor
Thüsing (Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht
der sozialen Sicherung) die Auffassung, eine solche Klausel
schaffe ein „Supergrundrecht“ und verstoße damit gegen die
Rechtssystematik des EU-Vertragswerkes. Danach sei im
Falle eines Grundrechtekonfliktes eine einzelfallbezogene
Abwägung vorzunehmen. Nach Klaus Bünger (Zentrum für
Europäische Integrationsforschung) würde ein genereller
Vorrang sozialer Belange vor dem Ziel des Binnenmarktes
dem Allgemeininteresse zuwiderlaufen, da ein starker Bin-
nenmarkt Voraussetzung für sozialen Fortschritt sei.

In seiner 31. Sitzung am 9. Februar 2011 hat der Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union den Antrag
auf Drucksache 17/902 beraten und abgestimmt.

Die Fraktion DIE LINKE. begründete ihren Antrag mit der
Rechtsprechung des EuGH, die auch nach Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon eine Gewichtung zuungunsten sozia-
ler Grundrechte und Grundwerte aufweise. Dies habe Prof.
Dr. Jens Schubert in der Anhörung am 6. Oktober 2010 be-
stätigt. Sie beklagte, dass sich die Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Antrag nicht anschlössen
bzw. keinen eigenen Antrag einbrächten, obwohl sie sich sei-
nerzeit für den Vorschlag des Gewerkschaftsbundes ausge-
sprochen hätten.

Die Fraktion der CDU/CSU erklärte, dass sie keine recht-
liche Notwendigkeit für die Aufnahme einer primärrecht-
bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN den Antrag abzulehnen.

den Antrag spreche schließlich die mangelnde Unterstützung
eines solchen Vorhabens durch andere Mitgliedstaaten. Im

Drucksache 17/4773 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Übrigen beziehe sie sich auf die Aussage des Experten Prof.
Dr. Gregor Thüsing.

Die Fraktion der SPD erinnerte erneut daran, dass die Idee
einer primärrechtlich verankerten sozialen Fortschrittsklau-
sel von ihr stamme. Sie räumte auch eine Schieflage in der
EU zuungunsten sozialer Rechte ein und stimmte zu, dass
die Anhörung am 6. Oktober 2010 Argumente für eine So-
ziale Fortschrittsklausel geliefert habe. Sie wies jedoch auf
die durch den Vertrag von Lissabon erzielten Fortschritte auf

Berlin, den 9. Februar 2011

Dr. Johann Wadephul
Berichterstatter

olitor
atterin

Alexander Ulrich
Berichterstatter

H. Heene
ese
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprach sich
grundsätzlich für eine soziale Fortschrittsklausel aus. Diese
dürfe aber, anders als es der Antrag vorschlage, nicht zu
einem generellen Vorrang sozialer Grundrechte führen. Im
Übrigen sehe sie ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfah-
ren nicht als adäquates Instrument an, da eine Kompetenz-
übertragung erforderlich sei.

Mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE LINKE. bei
Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hat der Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union dem Deutschen Bundestag die Ablehnung
des Antrags empfohlen.

Dr. Eva Högl
Berichterstatterin

Gabriele M
Berichterst

Manuel Sarrazin
Berichterstatter
dem Weg zu einem sozialeren Europa hin, die sich insbeson-
dere auch in Artikel 9 AEUV manifestierten. Weiterhin gebe
es Anzeichen für eine Anpassung der Rechtsprechung des
EuGH an die neue Primärrechtslage. Sie sprach sich deshalb
für eine Soziale Fortschrittsklausel, jedoch gegen die im An-
trag vorgeschlagene Form aus.

Die Fraktion der FDP betonte die Bedeutung sozialer Si-
cherheit und Teilhabe in der EU. Sie lehne jedoch eine soziale
Fortschrittsklausel ab, da eine generelle Bevorzugung sozia-
ler Aspekte vor anderen Grundrechten nicht vertretbar sei.
Sie halte die sog. Strategie EU 2020 sowie die Stabilisierung
des Euro und der Wettbewerbsfähigkeit in der EU für den ge-
eigneteren Weg soziale Rechte umzusetzen.
mann

x

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